# taz.de -- Teletext war besser als das Internet: Früher war mehr Seite 111 | |
> Der Videotext erfüllte den Traum eines jeden Nachrichtenjunkies. Danach | |
> wurde das Internet mit Likes und Hatespeech geflutet. Was ist nur | |
> passiert? | |
Bild: Historisch: Im SFB-Fernsehzentrum findet am 25.8.1977 die Texteingabe und… | |
Die Zukunft beginnt im Jahr 1998. Zumindest in meinem Elternhaus. | |
Irgendwann im Spätsommer schiebe ich eine der vielen AOL-CDs, die den | |
Computerzeitschriften beiliegen, ins CD-ROM-Laufwerk, installiere die | |
Software und gehe online. Das ist cool, aber so richtig weiß ich nicht, was | |
ich dort machen soll. | |
Deutlich spektakulärer war es im Frühjahr desselben Jahres, als meine | |
Eltern sich endlich – als womöglich letzter Haushalt der Bundesrepublik – | |
einen Fernseher kauften, der videotexttauglich war. Denn man muss sich das | |
noch mal vor Augen führen: Bevor das Internet zum Massenmedium wurde, | |
informierte man sich aus Zeitungen, die einmal am Tag gedruckt und in den | |
heimischen Briefkasten gestopft wurden. | |
Auch im Radio liefen Nachrichten, aber wenn man sie verpasst hatte, musste | |
man bis zur nächsten vollen Stunde warten, um zu erfahren, was aktuell so | |
los war – und das galt nicht nur für das Weltgeschehen, sondern auch für | |
Sportergebnisse und die Lottozahlen. Da unterschied sich Deutschland | |
1979 (oder in unserem Haushalt: 1997) nicht groß von 1950. | |
Bis am 1. Juni 1980 endlich der Videotext kommt. Ein offiziell als | |
„Teletext“ bezeichnetes Medium, das auf magische Art im Fernsehsignal mit | |
übertragen wird und das man mit der Fernbedienung aufrufen und darin | |
navigieren kann. Aus der damaligen Perspektive ist es eine Art ständig | |
aktuell gehaltene Zeitung auf dem Fernsehschirm; in der Rückschau eine sehr | |
textlastige Nachrichten-App auf einem nichtmobilen Gerät. | |
In jedem Fall ist es in meiner Jugend alles, was ich je gewollt habe. Auf | |
Seite 111 kann man, quasi als Vorläufer der Push-Nachricht, immer die | |
jeweils aktuellste Schlagzeile lesen. Dort erfahre ich etwa vom | |
[1][ICE-Unglück in Eschede], bevor ARD und ZDF in Sondersendungen darüber | |
berichten. Seite 222 liefert das Gleiche [2][für Sport], auf Seite 150 kann | |
man mitlesen, was gerade im Fernsehen gesagt wird ([3][„Untertitel für | |
Hörgeschädigte“]), und auf Seite 333 erfährt man mit einem Blick, welche | |
Sendung man gerade schaut. | |
Für einen Teenager, der bereits mit acht Jahren eigene Nachrichtensendungen | |
im Kinderzimmer moderierte, ist der Videotext eine Offenbarung. Jetzt weiß | |
ich immer, was gerade passiert – zumindest, wenn niemand den Fernseher im | |
Wohnzimmer blockiert. Jetzt kann ich auf einen Blick sehen, wie der | |
jeweilige Spielstand bei den Bundesligaspielen ist, selbst wenn im Radio | |
gerade kein Fußball läuft. Besser geht es nicht! So kann es für immer | |
bleiben. | |
Denn was ist danach denn noch groß gekommen? Ein Onlinejournalismus, dessen | |
Startseite alle paar Minuten anders aussehen soll und bei dem deshalb | |
unwichtige Meldungen zum Aufmacher hochgejazzt werden. Social Media, | |
sprich: [4][Elon Musk] und irgendwelche Boomer, die bei Facebook gegen eine | |
„rot-grün-versiffte“ Gesellschaft, den „Kinderbuchautor“ Robert Habeck… | |
gegen „Greta Thunfisch“ wettern. Hochkantvideos. Dafür hat Tim Berners-Lee | |
das World Wide Web doch nicht erfunden. | |
Das Versprechen des Internets war natürlich toll. Alle Menschen werden | |
Publizist*innen, gesellschaftlich übersehene Personen bekommen eine Stimme, | |
Redaktionen verlieren ihre Gatekeeper-Funktion. Aber wie das so ist, wenn | |
man etwas im Internet bestellt, ist das Ergebnis oft eine Enttäuschung. | |
Heute kann jedes fröhliche Rummeinen eines leserbriefschreibenden | |
Stammtischgängers auf X (früher Twitter) auf die gleiche Lautstärke | |
verstärkt werden wie die seriöse Arbeit von Expert*innen. | |
Die Idee eines Rückkanals ist ja nur so lange verlockend, wie dieser einen | |
Mehrwert verspricht. Bertolt Brecht würde seine Radiotheorie deshalb heute | |
vermutlich auch ein bisschen anders formulieren, wenn er sehen könnte, wie | |
wir uns alle gegenseitig online beleidigen und so abhängig von Like-Zahlen | |
sind wie die Menschen zu seiner Zeit von Zigaretten. Der Videotext war der | |
Buchdruck. Das Internet ist der Fotokopierer, mit dem man Kalendersprüche | |
dupliziert, um sie im Büro an die Wand zu pinnen. | |
Natürlich ist es schön, dass man online Menschen kennenlernen kann, die man | |
sonst nie getroffen hätte. Aber ich sag mal so: Kontaktanzeigen gab es auch | |
im Videotext. | |
1 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Lukas Heinser | |
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