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# taz.de -- Umnutzung des öffentlichen Raums: Macht Platz für Obdachlose!
> Es gibt mehr Obdachlose, vor allem obdachlose Frauen, in der Stadt. Wir
> sollten Parkplätze für sie freiräumen und am besten auch die
> Reichstagswiese.
Bild: Der Winter naht wieder und es braucht neue Lösungen für Obdachlose in d…
Die Straße im Berliner Wedding, wo ich wohne, ist verkehrsberuhigt.
Zwischen der Schule und dem Sportplatz wurde sie begrünt. Zu Fuß oder mit
dem Fahrrad kommt man durch, mit dem Auto nicht.
Auf dem einen Meter breiten Grünstreifen zwischen Fahrrad- und
Fußgängerweg, nahe bei einem Spielplatz, kampiert seit Monaten eine Frau.
Graue, wilde Haare rahmen das fein geschnittene, herbe Gesicht ein.
Oft gehe ich an ihr vorbei. Meist scheint sie zu schlafen. Manchmal legt
ihr jemand etwas hin, spricht sie an. Auch ich. Es gehe ihr gut, sagt sie.
Sie müsse hier liegen wegen ihres Rückens. Der sei kaputt; hier auf dem
Boden spüre sie den Schmerz nicht.
Welcher Schmerz?
Kann es sein, dass es um mehr geht als um ihren Rücken? Vielleicht ist
genau da, wo sich ihre Silhouette am Boden abzeichnet, weil dort nichts
mehr wächst, etwas passiert, zu dem es sie zieht. Sie fragen? Es fällt mir
schwer. Ihre Anwesenheit verunsichert. Denn woher wissen wir, dass es nicht
wir sein werden, die eines Tages hier liegen? So ungeschützt. So
ausgeliefert.
Mein Eindruck: Es gibt mehr Obdachlose, vor allem obdachlose Frauen, in der
Stadt. Schimpfend eine, die ihre Habseligkeiten im Einkaufswagen durch die
Straßen schiebt und an Bushaltestellen sitzt. Apathisch eine, die am
Leopoldplatz kampiert. Dazu alkoholisierte Männer neben dem Aufzug an der
U-Bahn Seestraße, die auf Pappen schlafen. Neben einem steht ein Rollstuhl.
Wo all diese Menschen hingehen, wenn es regnet?
Dass es mehr werden, geben die [1][Zahlen] her. Um 18 Prozent ist die
Wohnungslosigkeit in Deutschland von 2023 auf 2024 laut Statistischem
Bundesamt gestiegen. Auf fast 440.000 Menschen. Wobei Wohnungslosigkeit
noch nicht Obdachlosigkeit bedeutet.
Vor allem Frauen kommen oft eine ganze Weile bei Bekannten unter. Auch
diese versteckte Obdachlosigkeit ist nicht ungefährlich, so der
[2][Wohnungslosenbericht von 2022] des Bundesinnenministeriums. Obdachlose
Frauen geben zu 79 Prozent an, Gewalt erfahren zu haben. Bei Männern sind
es 66 Prozent. Das Projekt [3][Housing First], bei dem Obdachlose in eigene
Wohnungen ziehen, ist richtig. Nur offenbar kaum umsetzbar. Nicht mal im
Tiny-House-Format. Kommt hinzu, dass manche Obdachlose [4][stark psychisch
belastet] sind, ist das eigenverantwortliche Leben in einer Wohnung schwer
möglich.
Es muss noch andere Lösungen geben. Obdachlose halten sich oft an
frequentierten Orten auf, in der Nähe von städtischer Infrastruktur. Dort,
wo Menschen vorbeikommen. Dort, wo sie gesehen werden. Genau das bieten
Parkplatzareale, auch jene vor Discountern, im innerstädtischen Raum. Ich
stelle mir vor, dass sie umgewidmet werden. Ideen diesbezüglich gab es in
Berlin Lichtenberg – samt [5][erboster Proteste].
Weshalb darf so viel Raum für Autos verschwendet werden, wenn direkt davor
die U-Bahn hält? Die Parkplätze könnten mit ausrangierten Bushäuschen
bestückt werden, mit vernünftigen Sitzen, auf denen man liegen kann. Und
mit einem Container, in dem es WCs, Duschen, Schließfächer, einen
Wärmeraum, Kleiderkammer und ein Büro für Streetwork gibt. Ein paar
Hochbeete auch. Die dort Nächtigenden bekommen Notrufknöpfe. Zudem hätten
sie eine Adresse. Und dann wird gewartet, was passiert. Ähnliche Plätze
gibt es in den USA für Leute, die in ihren Autos leben. Bei uns haben die
Obdachlosen bestenfalls den Einkaufswagen.
Ich stelle mir vor, dass auch die Reichstagswiese so umgestaltet wird. Samt
Spielplatz. Und Picknickarea für die Abgeordneten. Die mit Bushäuschen
ausgestattete Wiese sollte den obdachlosen Frauen vorbehalten sein, wegen
der Sicherheit. An eisigen Tagen wird es in den Gewölben der
Regierungsgebäude schon noch einen beheizten Platz zum Nächtigen geben. Die
Sporthalle vielleicht?
Neulich interviewte ich [6][Rita Süssmuth]. Sie sagte: „Wenn Sie Armut
sehen, Menschen, die in Bahnhofsunterführungen in Decken gehüllt sind, das
ist ein Aufschrei.“
Auf dem Weg zu ihrem Büro kam ich an einer alten Frau vorbei, die eine
Plastiktüte nach der anderen mit ihren Habseligkeiten schleppend zur
nächsten Ecke trug.
22 Sep 2024
## LINKS
[1] https://www.bagw.de/de/presse/pressemitteilungen/s?tx_netnews_newsview%5Bne…
[2] https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/downloads/Webs/BMWSB/DE/veroeffentlich…
[3] https://www.berlin.de/sen/soziales/besondere-lebenssituationen/wohnungslose…
[4] /Streetworker-ueber-Wohnungslosigkeit/!5915475
[5] https://www.facebook.com/watch/?v=296632018740929
[6] /Rita-Suessmuth-ueber-Courage-in-der-Krise/!6031880
## AUTOREN
Waltraud Schwab
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