# taz.de -- Rücktritt nach Brandenburg-Debakel: Grüne suchen Neuanfang | |
> Der Bundesvorstand tritt zurück. Minister Habeck kündigt eine Abstimmung | |
> über die Kanzlerkandidatur an. | |
Bild: Nach der Pressekonferenz in der Bundesgeschäftsstelle verlassen Ricarda … | |
Berlin taz | Die Nachricht kommt unerwartet, auch die meisten Grünen | |
erwischt sie am Mittwochmorgen kalt. Manche Bundestagsabgeordnete erfahren | |
es aus dem Fernsehen, wo die Nachrichtensender um halb elf live gehen: Bei | |
einem kurzfristig einberufenen Pressestatement stehen Ricarda Lang und Omid | |
Nouripour vor der grünen Wand in der Bundesgeschäftsstelle und verkünden | |
einen radikalen Schritt: den Rücktritt des gesamten Bundesvorstands. | |
Bis Mitte November, wenn in Wiesbaden der Parteitag zusammenkommt, will das | |
Gremium noch zusammenarbeiten. Dann wird vorzeitig neu gewählt. Lang, | |
Nouripour und Geschäftsführerin Emily Büning werden nicht noch mal | |
antreten. Die übrigen Vorstandsmitglieder (die Vizes Pegah Edalatian und | |
Heiko Knopf sowie Schatzmeister Frederic Carpenter) kandidieren wohl | |
erneut. | |
Letzteres sickert erst am Nachmittag durch. Bei ihrem Statement am | |
Vormittag machen es die Noch-Vorsitzenden kurz. „Das [1][Wahlergebnis am | |
Sonntag in Brandenburg] ist ein Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei | |
seit einer Dekade. Es braucht neue Gesichter“, sagt Nouripour. „Die | |
Verantwortung, im besten Sinne der Partei zu handeln“, übernehmen wir, sagt | |
Lang. Dann verlassen sie, noch bevor Nachfragen kommen, durch die Hintertür | |
den Raum. | |
Sie ziehen damit die Konsequenz aus einer tiefen Krise, in der die Grünen | |
seit Monaten stecken. Allein in diesem Jahr haben sie vier Wahlen verloren, | |
in Brandenburg und [2][Thüringen flogen sie aus dem Landtag, in Sachsen | |
schafften sie es nur ganz knapp hinein]. Bei der Europawahl im Mai brachen | |
sie ein. In Umfragen auf Bundesebene sind die Grünen derzeit nur noch knapp | |
zweistellig. Viel schlimmer noch: Immer mehr Menschen können sich nicht | |
vorstellen, für die Grünen zu stimmen. Für eine Partei, die sich auf dem | |
Weg zur Volkspartei wähnte, ist das ein Fiasko. | |
## Innenparteiische Vorwürfe | |
Kritik am Vorstand war nach den letzten Wahlniederlagen immer mal wieder zu | |
vernehmen. Aus dem Realo-Flügel traf diese oft [3][Emily Büning]: Als | |
politische Geschäftsführerin habe sie den schwachen Europawahlkampf zu | |
verantworten, bei öffentlichen Auftritten bleibe sie neben den | |
Generalsekretären anderer Parteien blass. Durch Umstrukturierungen in der | |
Parteizentrale war sie in den letzten Monaten schon teilweise entmachtet | |
worden. | |
Unter Parteilinken und in der Bundestagsfraktion hatte sie aber auch | |
Fürsprecher*innen. Aus dem linken Flügel gab es Vorwürfe gegenüber | |
Nouripour, die Partei neben Vizekanzler Habeck und den anderen | |
Regierungsgrünen nicht eigenständig genug aufzustellen. Die Parteilinke | |
Lang wiederum war einigen Linken auch nicht mehr links genug, seitdem sie | |
Anfang 2022 den Parteivorsitz übernommen hatte. | |
Allerdings war der Druck auch nach der Wahlniederlage in Brandenburg | |
eigentlich nicht so stark, dass der Rücktritt unausweichlich schien. | |
Debatten über die Ursache des Desasters gab es seit Sonntagabend zwar in | |
diversen Runden, so wie schon öfter in den letzten Monaten. Dem Vernehmen | |
nach verliefen die Gespräche aber konstruktiv und anhand inhaltlicher | |
Fragen. Am Dienstag haben sich Nouripour und Lang schließlich zum Rücktritt | |
entschlossen, am Mittwochmorgen traf der Vorstand den formalen Beschluss. | |
Die Entscheidung, so stellen es Grüne am Mittwoch durchweg da, fiel | |
weitestgehend aus freien Stücken. | |
## Annerkennung und Respekt für die Noch-Parteispitze | |
Entsprechend ist nun einerseits auch flügelüberfreifend viel Anerkennung | |
und Respekt für Lang und Nouripour zu hören. Andererseits herrscht auch | |
große Einigkeit, dass der Schritt auch jenseits konkreter Kritikpunkte | |
richtig sei: Alle hoffen nun, dass die personelle Aufstellung Signalwirkung | |
entfaltet, den Abwärtstrend der Grünen wieder drehen kann und ihnen dabei | |
hilft, wieder stärker inhaltlich durchzudringen. Die Fraktionsvorsitzenden | |
im Bundestag, Britta Haßelmann und Katharina Dröge etwa zollten den beiden | |
scheidenden Parteichefs „großen Respekt“ für die Entscheidung, „die Par… | |
für kommende Wahlkämpfe neu aufzustellen“. | |
Mit wem es ab November weitergehen könnte? Als mögliche Kandidat*innen | |
für die Nachfolge von Lang und Nouripour werden am Mittwoch schnell | |
[4][Franziska Brantner] aus Baden-Württemberg, [5][Felix Banaszak aus | |
Nordrhein-Westfalen] und Andreas Audretsch aus Berlin gehandelt. Auch der | |
Name von Tarek Al-Wazir, ehemaliger Wirtschaftsminister in Hessen, wird | |
genannt. Der aber dementierte im Gespräch mit der taz: „Das ist nichts, | |
worüber ich nachdenke.“ Al-Wazir will 2025 in den Bundestag einziehen. | |
## Optionen für den Neustart | |
Brantner, derzeit Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, ist Reala und | |
enge Vertraute von Robert Habeck. Ohnehin war der Plan des Vizekanzlers und | |
designierten Kanzlerkandidaten, dass sie ihn während des | |
Bundestagswahlkampfs an zentraler Stelle in der Parteizentrale unterstützt. | |
Brantner gilt als Strategin und gute Verhandlerin, sie wird parteiintern | |
über den Realo-Flügel hinaus geschätzt. Bei den Parteilinken aber | |
befürchten manche, dass die Grünen dann zu stark an Habeck ausgerichtet | |
werden könnten. | |
Der Platz neben ihr müsste dann auf jeden Fall aus dem linken Flügel | |
besetzt werden. Felix Banaszak ist noch relativ neu in Berlin, seit 2021 | |
ist der Duisburger Mitglied im Bundestag. Zuvor war er, der in seinen Reden | |
im Bundestag eine gewisse Frische ausstrahlt, Landeschef der Grünen in NRW. | |
In seine Amtszeit fällt das beste Ergebnis, das die Grünen je auf | |
Landesebene erzielten, seit 2021 stellen sie gemeinsam mit der CDU die | |
Landesregierung. Im Bundestag hat der Haushaltspolitiker im Bundestag | |
Profil gezeigt und etwa für das Klimageld gekämpft. Nach seinem Wechsel | |
nach Berlin hatte er sich zunächst auf seine Fachthemen beschränkt, zuletzt | |
äußerte er sich aber auch wieder vermehrt parteipolitisch. | |
Andreas Audretsch ist wie Banaszak Parteilinker und ebenfalls seit dieser | |
Legislaturperiode im Bundestag, inzwischen als stellvertretender | |
Fraktionschef mit dem Schwerpunkt Finanzen, Arbeit und Soziales. Zuvor hat | |
der Abgeordnete aus Berlin-Neukölln als Pressesprecher in verschiedenen | |
Bundesministerien gearbeitet, kennt das Berliner Politikgeschäft also recht | |
gut und ist Medienprofi. In Verhandlungen innerhalb der Ampelkoalition trat | |
er wiederholt standhaft auf. | |
Ob die drei tatsächlich kandidieren, ist aber noch unklar, als | |
unwahrscheinlich gilt vor allem eine Kampfkandidatur zwischen Audretsch und | |
Banaszak. Denkbar ist auch, dass weitere Kandidat*innen hinzukommen – | |
sei es für die Spitzenjobs oder für die Stellvertreterposten. So kursiert | |
etwa die Forderung, auch junge Grüne müssten im neuen Vorstand vertreten | |
sein. „Wenn junge progressive Leute von uns so sehr enttäuscht sind, dass | |
sie zum Beispiel mit sechs Prozent in Brandenburg die Tierschutzpartei | |
wählen, dann braucht es wieder eine klar hör- und sichtbare Verortung | |
junger progressiver Interessen in unserem Bundesvorstand“, sagt ein | |
Mitglieder der Bundesfraktion. | |
Ebenfalls immer wieder genannt wird der Name von Madeleine Henfling, die | |
gerade den verlorenen Landtagswahlkampf der Grünen in Thüringen angeführt | |
hatte. Auf Anfrage legt sie sich am Mittwoch nicht fest, sondert fordert | |
Konsequenzen auch jenseits von Köpfen. „Wir brauchen eine fundierte Analyse | |
und eine Debatte darüber, wie wir uns strategisch ausrichten“, sagt sie. | |
## Einiges sollte sich auf dem Parteitag klären | |
Der Parteitag im November wird infolge des Rücktritts gleich mehrere | |
tiefgreifende Entscheidungen treffen müssen. Eigentlich standen große | |
Fragen dieses Mal nicht auf der Agenda. Zuletzt zeichnete sich aber schon | |
ab, dass auf die Delegierten einmal mehr eine intensive Diskussion über die | |
eigene Migrationsdebatte zukommen könnte. Dazu kommen jetzt also die Wahlen | |
des neuen Vorstands – und eine Abstimmung über den Kanzlerkandidaten. | |
Letzteres kündigt ebenfalls am Mittwoch Robert Habeck an. Nach dem | |
Pressestatement der Parteivorsitzenden lässt er sich in der dpa zunächst | |
mit einem Lob zitieren: Der Rücktritt zeuge „von großer Stärke und | |
Weitsicht“. Lang und Nouripour übernähmen Verantwortung, indem sie „den W… | |
freimachen für einen kraftvollen Neuanfang“. Die Niederlagen bei den | |
letzten Wahlen seien unstrittig vom Bundestrend beeinflusst. | |
Und dann kommt es: „Wir tragen hier alle Verantwortung, auch ich. Und auch | |
ich will mich ihr stellen.“ Er wünsche sich auf dem Parteitag eine offene | |
Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein „ehrliches Votum in geheimer | |
Wahl“. Der Parteitag werde der Ort, „wo sich die Grünen neu sortieren und | |
neu aufstellen werden, um dann mit neuer Kraft die Aufholjagd zur | |
Bundestagswahl zu beginnen“. | |
Zehn Monate bleiben Habeck und dem neuen Vorstand dann noch bis zur Wahl – | |
vorausgesetzt natürlich, es kommt nicht vorher zu Neuwahlen. Ob die | |
Rücktritte auch in der Koalition eine Dynamik auslösen könnten und zum | |
frühzeitigen Ende der Ampel führe? Aber nein, sagt ein Regierungssprecher | |
am Mittag: „Das hat keinerlei Auswirkungen auf die Koalition.“ Da ist die | |
Nachricht für das Kabinett aber auch noch so neu wie für die | |
Grünen-Abgeordneten. „Ich glaube, der Kanzler hat es im Umfeld der | |
Pressekonferenz erfahren“, sagt der Sprecher. | |
25 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
Sabine am Orde | |
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