# taz.de -- Mehr „Schlepperei“-Urteile in EU: Wenn Solidarität bestraft wi… | |
> Immer mehr Geflüchtete und Helfer:innen werden wegen „Schlepperei“ | |
> unverhältnismäßig hart bestraft. Damit vergrößern die Staaten die | |
> Probleme. | |
Bild: Bewaffnete Soldaten auf dem Öltanker „El Hiblu 1“, den Geflüchtete … | |
Berlin taz | Am kommenden Dienstag steht der 60-jährige Homayoun Sabetara | |
[1][in Thessaloniki] vor Gericht – mal wieder. Seit drei Jahren sitzt der | |
krebskranke Iraner in Griechenland im Gefängnis. Er hatte 2021 versucht, | |
aus Iran nach Deutschland zu seinen beiden Töchtern zu fliehen. Weil er das | |
Auto steuerte, in dem er mit sieben anderen Menschen saß, wird ihm | |
Schlepperei vorgeworfen. | |
„Ihm waren die Konsequenzen nicht bewusst“, sagt seine Tochter Mahtab, die | |
sich seit Jahren öffentlich für die Freilassung ihres Vaters einsetzt. In | |
erster Instanz wurde Sabetara – nach vier Terminverschiebungen – zu 18 | |
Jahren Haft verurteilt. | |
Der Prozess „zerstört alle mentalen Ressourcen der Angeklagten und ihrer | |
Angehörigen“, sagt Mahtab Sabetara. Die Folge sei ein „mentaler | |
Zusammenbruch“, Hoffnung werde zu „einem Wort, von dem man nur träumen | |
kann“. Ohne Unterstützung [2][von NGOs] wäre es unmöglich, die Reisekosten | |
nach Griechenland und die Anwaltsrechnungen zu bezahlen. | |
Anfang September präsentierte deshalb die NGO [3][medico international] in | |
Frankfurt einen neuen „Fonds für Bewegungsfreiheit“. Der soll künftig die | |
Rechtshilfe für Menschen mitfinanzieren, die wegen „Solidarity Crimes“ oder | |
der eigenen Fluchtgeschichte als Schlepper vor Gericht stehen – wie | |
Homayoun Sabetara. | |
„Immer wieder werden Geflüchtete als Schleuser gebrandmarkt. Sie werden in | |
juristischen Schnellverfahren zu überdimensionalen Haftstrafen verdonnert, | |
ohne dabei auf einen adäquaten Rechtsbeistand hoffen zu können“, sagt | |
Valeria Hänsel von medico. | |
## Vorwurf gegen 2.000 Menschen | |
Sie verweist darauf, dass der Straftatbestand der „Beihilfe zur unerlaubten | |
Einreise“ teils strenger bestraft wird als Mord. Allein in Griechenland | |
sitzen nach einem Bericht Zählung der NGO Borderline Europa über 2.000 | |
Menschen aufgrund des Vorwurfs der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ im | |
Gefängnis. | |
Die meisten von ihnen sind Geflüchtete. Borderline hat viele Prozesse | |
besucht und ausgerechnet, dass nach Schnellverfahren von durchschnittlich | |
rund 30 Minuten Dauer am Ende durchschnittlich 46 Jahre Haft und | |
Geldstrafen von über 300.000 Euro stehen. | |
„Häufig verstehen die Angeklagten – auch aufgrund unzureichender | |
Übersetzungen – bis zuletzt nicht, was ihnen eigentlich vorgeworfen wird | |
und warum man sie verurteilt“, sagt Hänsel. | |
Auch in Italien, Spanien und England werde von „beinahe jedem ankommenden | |
Flüchtlingsboot mindestens ein Mensch festgenommen und bezichtigt, anderen | |
bei der Einreise geholfen zu haben“. | |
Medico nennt eine Zahl von rund 3.200 Beschuldigten in Italien seit 2013 | |
und rund 500 Menschen in den Jahren 2022 und 2023 in Spanien. „Die | |
Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein“, so medico. | |
Zu einem der Aufsehen erregendsten Fälle gehört jener der „El Hiblu 3“. | |
Dabei handelt es sich um ein seit 2019 in Malta laufendes Verfahren gegen | |
drei zur Tatzeit 15, 16 und 19 Jahre junge Männer aus Guinea und der | |
Elfenbeinküste. Die Staatsanwaltschaft hatte sie wegen „terroristischen | |
Handlungen“, „illegalem Freiheitsentzug“, „rechtswidriger Abschiebung i… | |
Ausland“ sowie „Gewalt“ angeklagt. | |
Sie waren mit 100 anderen Menschen von dem Öltanker „El Hiblu“ aus Seenot | |
gerettet worden. Auf Anweisung Maltas wollte der Kapitän sie zurück nach | |
Libyen bringen – was illegal gewesen wäre. Die drei hatten zwischen dem | |
Kapitän und aufgebrachten Migrant:innen vermittelt. | |
Neil Falzon vertritt die drei Männer seit fünf Jahren als Anwalt. Falzon | |
ist Gründer und Direktor der aditus foundation, einer NGO in Malta, die | |
Anfang September dafür den Menschenrechtspreis von Pro Asyl bekam. | |
## Klageschrift angefochten | |
„Die drei können nicht verstehen, dass sie als Terroristen verfolgt werden, | |
nachdem sie nur vermittelt hatten“, sagt er. Die drei hätten „ihr Leben | |
noch vor sich gehabt – und nun sehen sie einem Leben im Gefängnis | |
entgegen.“ | |
Einer der Angeklagten lebt mit Frau und Kind auf Malta. Das Ganze sei eine | |
„Show, mit der die Regierung Maltas den anderen EU-Staaten beweisen will, | |
dass sie ein guter Wärter der südlichen EU-Grenze ist“, sagt Falzon. | |
Deshalb – „und natürlich um andere Menschen abzuschrecken“ halte die Jus… | |
an den Tatvorwürfen fest. | |
„Wir haben die Klageschrift der Staatsanwaltschaft angefochten“, sagt | |
Falzon – unter anderem, weil maltesische Gerichte auf hoher See nicht | |
zuständig seien. Doch das Gericht wies den Widerspruch zurück, ein | |
Berufungstermin ist anhängig. Falzon rechnet für November mit dem Beginn | |
einer Hauptverhandlung. | |
Er selbst sei von der Regierung Maltas bisher nicht behindert worden. Aber | |
wir „müssen uns auf sehr harte Zeiten einstellen, die nicht nur den | |
Flüchtlingen schaden werden, sondern auch unseren Organisationen“, sagt er. | |
Dass Flüchtlinge, Migrant:innen und Helfer:innen vor Gericht landen, | |
ist EU-weit ein Trend, auf den Menschenrechtsorganisationen seit Jahren | |
hinweisen. Immer mehr EU-Staaten ahnden die Beihilfe zur illegalen Einreise | |
auch dann als Schlepperei, wenn kein Geld fließt – Fachleute sprechen von | |
Solidarity Crimes. | |
## Hoffnung nach einigen Gerichtsentscheiden | |
Zuletzt hatten einige Gerichtsentscheide Hoffnung gemacht. In Italien und | |
Griechenland waren Verfahren – etwa gegen [4][Überlebende der | |
Schiffskatastrophe von Pylos], Seenotretter aus [5][Lesbos] oder [6][die | |
Besatzung des Rettungsschiffs „Iuventa“ – überraschend eingestellt] word… | |
„Das hat uns natürlich Hoffnung gegeben“, sagt Falzon. Doch bei den noch | |
laufenden Verfahren sei weiter alles offen. | |
Ende August veröffentlichten 15 NGOs, darunter Amnesty International und | |
Ärzte ohne Grenzen, [7][einen Appell an die Bundesregierung], um dem ein | |
Ende zu setzen. Seit 2023 arbeitet die EU an einer neuen Richtlinie, die | |
die Strafbarkeit der Beihilfe zur illegalen Einreise neu regeln soll. | |
„Um Schutzsuchenden und Menschenrechtsverteidiger*innen endlich | |
Rechtssicherheit zu garantieren, muss jedoch dringend nachgebessert | |
werden“, heißt es in dem Appell der NGOs über den vorliegenden Entwurf. Sie | |
fürchten, dass sonst auch in Zukunft Unterstützer als Schlepper vor Gericht | |
landen können. | |
18 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Kontrollen-an-deutschen-Aussengrenzen/!6032949 | |
[2] /Warnrufe-aus-der-Zivilgesellschaft/!6021313 | |
[3] /Medico-zu-Entwicklungspolitik/!5047935 | |
[4] /Prozess-zu-Schiffsunglueck/!6011332 | |
[5] /Lesbos/!t5248797 | |
[6] /Illegalisierte-Seenotrettung/!6003040 | |
[7] https://www.amnesty.de/pressemitteilung/deutschland-asylrecht-fluechtlingss… | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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