# taz.de -- Autofiktionaler Roman von Zora del Buono: Ein verlorenes Kind von 6… | |
> Die Schweizer Schriftstellerin Zora del Buono spürt in ihrem neuen Roman | |
> „Seinetwegen“ dem großen Unbekannten nach: ihrem Vater und dessen Mörde… | |
Bild: Eine typische Kleinfamilie beim Spaziergang 1966, der Vater ist anwesend | |
„Seinetwegen“ von Zora del Buono ist ein autofiktionaler Roman mit | |
Elementen detektivischer Spurensuchen. Die Personen sind teilweise bekannt | |
[1][aus ihrem 2021 erschienenen Roman „Die Marschallin“,] in dem die | |
Architektin, Mitbegründerin der Zeitschrift mare und Schriftstellerin del | |
Buono ihrer gleichnamigen Großmutter ein Denkmal setzt. Die aus Slowenien | |
stammende Großmutter hatte einst „den jüngsten Arzt Italiens“ geheiratet, | |
drei Söhne geboren und ein kommunistenaffines, gleichwohl großbürgerliches | |
Haus im süditalienischen Bari geführt. | |
Ihr Sohn Manfredi, ebenfalls „jüngster Arzt Italiens“ in den 1950er Jahren, | |
beginnt als enthusiastischer wie hochgeschätzter Radiologe seine Karriere | |
in Zürich, heiratet und wird Vater – Vater der Autorin Zora del Buono. Als | |
diese acht Monate alt ist, erleidet er durch Fremdverschulden einen | |
Autounfall, an dessen Folgen er stirbt. | |
Die lebenslange Vaterlosigkeit der Tochter bedeutet für diese wesentlich | |
zweierlei. Zum einen: „Ich musste stark sein wie ein Kerl, damit Mama nicht | |
allein ist auf der Welt.“ Zum anderen: Eine seltsam nüchterne Hinnahme | |
beziehungsweise Akzeptanz der Tatsache, ohne Vater aufzuwachsen: „ich habe | |
meinen nicht vermisst.“ | |
## Eine fundamentale Einsamkeit | |
Die sich in Mitleid ergehende Umwelt kann nicht glauben und verstehen, dass | |
der Vater dem Kind nicht fehle. Erst das wird für dieses zum Problem: | |
„Halbwaise zu sein, war meine Realität und damit war ich allein. „Das | |
schweizerdeutsche „muusbeiallei“ bedeutet analog zum hochdeutschen | |
„mutterseelenallein“ das Erleben äußerster Einsamkeit. Im direkten Wortsi… | |
öffnet sich dieser Erfahrungsraum bei dem Verlust der Mutter. | |
Die fortschreitende Demenzerkrankung von del Buonos Mutter ist ein Verlust | |
auf Raten, ein Verlust, der die Tochter weder in Schockstarre noch | |
Selbstmitleid führt, sondern in ein Handeln, das sie sich bis dahin nicht | |
erlaubt hat: Sie beginnt nachzuforschen, wer ihr Vater war, was über den | |
Autounfall bekannt ist und, vor allem, wer der Unfallverursacher war. | |
Dieser Mann, Ernst Traxler, rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt der | |
Spurensuche: „[…] weil ich genau wegen ihrer Demenzerkrankung eine | |
fundamentale Einsamkeit spüre, die Verlorenheit eines Kindes von sechzig | |
Jahren, das allein zurückgelassen wird, unwiderruflich, und ich mich nach | |
einem Vater sehne und ihm so näherzukommen glaube? Nur um zu merken: Der | |
Einzige, dem ich nähergekommen bin, ist Ernst Traxler. Pervers irgendwie.“ | |
Das Besondere an der detektivischen Reise zu dem, der ihr Leben auf | |
tragische Weise tiefgreifend verändert hat, ist, dass je mehr Zora del | |
Buono über diesen Traxler in Erfahrung bringt, umso mehr relativieren sich | |
die Ressentiments und die Wut gegen ihn. Er wird als gebrochene Person | |
erkennbar. Die Frage, wie er Jahrzehnte mit seiner Schuld gelebt hat, | |
entfaltet die Autorin differenziert und mit geradezu solidarischem | |
Interesse. | |
## Im soziokulturellen Kontext | |
Zora del Buono wäre nicht Zora del Buono, beließe es der Roman dabei, | |
allein die individuelle Geschichte einer vaterlosen Tochter zu erzählen. | |
Immer wieder werden historische und soziokulturelle Einordnungen | |
vorgenommen, die den wohltuend unsentimentalen Stil flankieren und die | |
Lektüre durch wissenswerte Informationen bereichern, ob über | |
Autokopfstützen, alleinerziehende Mütter, die Isonzoschlachten 1917, | |
Altersheime, Baumgeschichten, Homosexualität: „Da denkt man in seiner | |
urbanen Überheblichkeit gern, alles Wichtige entstünde in den großen | |
Städten […] Und dann: Zwei der wichtigsten schwulenemanzipatorischen Denker | |
ever stammen aus der Schweizer Provinz – und zwar ausgerechnet aus Glarus | |
und St. Gallen.“ Gemeint sind Heinrich Hössli und Jacob Rudolf Foster. | |
Großartig verwebt Zora del Buono die verschiedenen Stränge miteinander. | |
Leser:innen erfahren, welche „Deformationen“ Vaterlosigkeit setzen kann – | |
„Eine seltsame Gefühlskälte gegenüber klagenden, trauernden Verlassenen, | |
Alleingelassenen. […] Die Unmöglichkeit von Nähe, das Wissen, dass sie in | |
Sekunden zerschlagen werden könnte (Unfall, Tod, Verlassenwerden etc.) – | |
besser nicht drauf einlassen.“ – aber sie erfahren eben noch viel mehr. | |
Und alles: seinetwegen. | |
23 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Doris Brockmann | |
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