# taz.de -- Neuer Roman von Camille Laurens: Männer reifen, Frauen altern | |
> In „So wie du mich willst“ verweigert sich die Protagonistin dem | |
> sexuellen Tod. Dieser soll Frauen angeblich schon ab 44 ereilen. | |
Bild: Camille Laurens | |
„Ich sah neulich im Fernsehen den Filmemacher Jean-Pierre Mocky“, berichtet | |
die Protagonistin Claire Millecam im Roman der französischen | |
Schriftstellerin Camille Laurens „So wie du mich willst“. „Er brüstete | |
sich, mit über achtzig immer noch zu ficken. ‚Ich krieg immer noch einen | |
hoch‘, sagte er, während er auf eine Schauspielerin schielte, deren | |
Urgroßvater er sein könnte. Das Publikum applaudierte.“ | |
In umgekehrter Rollenverteilung wäre dasselbe Szenario undenkbar: „Stellen | |
Sie sich vor, eine Achtzigjährige sagt so was live im Fernsehen, sagt, sie | |
werde immer noch feucht, während sie begehrliche Blicke auf einen Jüngling | |
wirft.“ | |
Bei Männern, meint Claire Millecam, gäbe es etwas Unlimitiertes, dem nicht | |
irgendwann ein Ende drohe. Man spüre das schon bei ganz kleinen Jungs und | |
manchmal noch bei ganz alten Männern: auch wenn Männer früher stürben, | |
lebten sie länger. Für Frauen dagegen bedeute das Alter den sexuellen wie | |
sozialen Tod – im Roman bezeugt durch Claires Rückzug in die Psychiatrie: | |
„Erst verstand ich nicht, warum ich hier war, ich litt nicht unter | |
Depression, sondern unter Repression: Meine Lebenskraft war unterdrückt | |
worden, das war alles.“ | |
Isolation und Eingesperrt-Sein sind bei Schriftstellerinnen ein | |
wiederkehrendes Motiv: Charlotte Perkins Gilmans „Die gelbe Tapete“, Sylvia | |
Plaths „Die Glasglocke“ oder [1][Marlen Haushofers „Die Wand“.] In „S… | |
du mich willst“ kehrt die Autorin Camille Laurens diesen weiblichen Topos | |
um: Ihr Wahn erlaubt Claire, die sich, selbst(ermächtigend), als „verrückt�… | |
bezeichnet, die Codes des therapeutischen Gesprächs zu brechen und das | |
Autoritätsverhältnis zu ihrem Psychiater auszuhebeln. | |
## Die 48-Jährige hat keine Lust, sich dem Schicksal zu fügen | |
Claire nennt ihn, in transkribierten Gesprächen, in denen allein ihre | |
Stimme zu hören ist, ungebildet, da er Marivaux’ „Falsche | |
Vertraulichkeiten“ nicht kennt und Albert Cohens „Die Schöne des Herrn“ | |
nicht gelesen hat. Sie spürt seine sexistischen Vorurteile auf, vergleicht | |
ihn mit einem Polizisten und offenbart ihm, sich sexuell zu ihm hingezogen | |
zu fühlen. | |
Die 48-jährige Literaturprofessorin, Mutter zweier Kinder und getrennt von | |
ihrem Mann, der mit einer Jüngeren ein neues Leben angefangen hat, hat | |
keine Lust, sich dem Schicksal zu fügen, das Institutionen, Medien und | |
sogar die Literatur für Frauen ihres Alters vorgesehen haben: „Geh | |
sterben.“ | |
Claire erinnert sich an einen Roman des französischen Schriftstellers | |
Richard Millet, in dem eine Frau mit vierundvierzig beschlossen hätte zu | |
sterben: „Mit vierundvierzig: Das war für sie (oder für ihn!) das Alter, in | |
dem eine Frau ihre Schönheit verliert und ihr folglich nichts anderes übrig | |
bleibt, als sich umzubringen.“ | |
Der Erzähler, ihr Liebhaber, hätte sie in ihrem Vorhaben begleitet, als sei | |
es etwas Unvermeidliches, ebenso unausweichlich wie sein schwindendes | |
Verlangen nach ihr: „Es ist eine Tatsache, immer, überall: Die Männer | |
bringen den Frauen das Sterben bei. Von Norden bis Süden, ob | |
fundamentalistisch oder pornografisch, es ist ein und dieselbe Diktatur. | |
Nur in ihrem Blick zu existieren und zu sterben, wenn sie die Augen | |
schließen.“ | |
## Camille Laurens im Berliner Literaturhaus | |
Claire verweigert das Unsichtbarwerden als weibliche Frühform des Sterbens | |
und inkriminiert die sexistischen Konventionen, die selbst seriöse Medien | |
tagtäglich reproduzierten: „Erbärmlich“, müsse sie in der Zeitung lesen, | |
„dass Madonna mit fünfundfünfzig noch immer existieren will.“ Der | |
französische Politiker Moscovici und seine dreißig Jahre jüngere Frau | |
würden als „Die Schöne und der Minister“ gerühmt, während Macron als | |
„Omaverführer“ verhöhnt würde. | |
Im Literaturhaus Berlin berichtet Camille Laurens von einer persönlichen | |
Erfahrung, die in den Roman eingeflossen sei: „Du bist über fünfzig?!“, | |
habe ein Liebhaber fassungslos ausgerufen, als er das Alter der Autorin | |
erfahren habe. Ihre Entgegnung – „Ich bin noch genauso alt wie gestern | |
Abend!“ – habe seine Aversion nicht mildern können. Es habe ihn gewalttät… | |
gemacht, heißt es im Roman, „dass er etwas nicht Begehrenswertes begehrt | |
hatte“. | |
Claire Millecam bekämpft die ungleiche Aussicht im Alter(n) mit einer | |
erfundenen Identität: dem Facebook-Profil der vierundzwanzigjährigen Claire | |
Antunès. Mittels ihrer fiktiven Doppelgängerin bandelt sie mit Chris an, | |
einem 35-jährigen Fotografen, der sich in ein falsches Foto mit echter | |
Stimme verliebt. | |
Ein Betrugsgefühl kommt nicht auf: „Er liebte meine Stimme, er liebte meine | |
Worte, meine Art zu denken, zu lachen, er sagte es mir, immer wieder. Und | |
außerdem“, erklärt Claire ihrem Psychiater, „haben Sie es ja selbst gesag… | |
Ich bin auch schön. Blond, einverstanden, älter, einverstanden, aber | |
liebenswert. Was soll also daran falsch sein?“ | |
## Meta-Erzählung nach dem Matrjoschka-Prinzip | |
Was folgt, ist eine Meta-Erzählung, in der jede Geschichte, gemäß dem | |
Matrjoschka-Prinzip, eine weitere und noch eine weitere enthält. Polyphone | |
Erzählformen und -perspektiven, in denen sämtliche Beteiligten glauben, die | |
anderen zu täuschen, und ihrerseits getäuscht werden, prallen aufeinander: | |
„Die Vorstellung gefällt mir, die Vorstellung, dass man nicht alles | |
schreibt, dass man auch geschrieben wird. Dass man es auch anders sehen | |
kann. Dass es auch anders sein kann.“ | |
Der Roman, in Frankreich bereits 2016 unter dem Originaltitel „Celles que | |
vous croyez“ veröffentlicht und im Jahr 2019 mit Juliette Binoche in der | |
Hauptrolle verfilmt, kreiert ein Labyrinth aus Wirklichkeit und | |
Möglichkeit: Jeder Erzählteil – neben Claire kommen ihr Psychiater, eine | |
Schriftstellerin, die in der Psychiatrie eine Schreibwerkstatt leitet und | |
Claires Ex-Mann zu Wort – enthält zuverlässige und unzuverlässige Anteile. | |
Interessanter als die Auslotung von wahr oder falsch scheint die Frage nach | |
der Beziehung von Realität und Fiktion: Welche Formen nimmt das Erzählen, | |
insbesondere das Erzählen von sich, in so unterschiedlichen Dispositiven | |
(die Foucault’sche Diskursanalyse) wie einem therapeutischen Gespräch, | |
einem Facebook-Profil, dem Schreiben eines Romans, dem Brief einer | |
Schriftstellerin an ihren Verleger oder einer Zeugenaussage an? Welche | |
Bedingungen bringen welche Art von Selbstdarstellung(en) hervor? | |
Für Camille Laurens, die seit 2020 als Nachfolgerin [2][der Autorin | |
Virginie Despentes] Mitglied der Académie Goncourt ist, sind alle Menschen | |
Romanautor:innen: „Wir alle sind, durch die permanente Fiktionalisierung | |
unseres Lebens, durch unsere Lügen, unsere Arrangements mit der | |
Wirklichkeit, durch unseren Wunsch, den anderen zu besitzen, zu dominieren, | |
zu beherrschen, wir alle sind potenzielle Romanciers. Wir alle erfinden | |
unser Leben.“ | |
Dementsprechend ambivalent steht Laurens der Verwendung des – immer noch | |
hauptsächlich für Schriftstellerinnen gebrauchten – Gattungsbegriffs der | |
„Autofiktion“ gegenüber: „In französischen Medien wird der Begriff häu… | |
zur Geringschätzung des Schreibens von Frauen missbraucht: | |
nichtliterarisch, narzisstisch, nabelschauend; Hausfrauen, die ihre kleinen | |
Geheimnisse ausplaudern.“ Für Autoren, die ebenfalls eindeutig | |
autofiktional schreiben würden, Philippe Sollers oder [3][Emmanuel | |
Carrère], würde er hingegen nie verwendet. | |
22 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Marielle Kreienborg | |
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