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# taz.de -- Pariser Terrorprozess: Recht statt Rache
> Auf Terroranschläge folgt gesellschaftlich oft eine große
> Sprachlosigkeit. Emmanuel Carrères Gerichtsreportage „V13“ setzt dem
> etwas entgegen.
Bild: Überlebende des Bataclan-Attentats in Gerichtszeichnungen, Oktober 2021
Kann ein Buch ein kollektives Trauma heilen? Emmanuel Carrères Justizessay
„V13“ vollbringt das Kunststück, Wunden wieder aufzureißen und zugleich zu
vernähen.
Am 13. November 2015 töteten Terroristen des sogenannten Islamischen Staats
(IS) in Paris 130 Menschen und verletzten 683 weitere. [1][Von September
2021 bis Juni 2022 wurde den überlebenden Tätern der Prozess gemacht]. Der
Schriftsteller Carrère hat die Monate vor Gericht beobachtet und darüber
ein Buch geschrieben.
Kollektive Wunden reißt es auf, wenn es, vermittelt durch die Aussagen der
Zeugen vor Gericht, in minutiöser Weise den Hergang der Geschehnisse im
Musikclub Bataclan und auf den umliegenden Caféterrassen schildert.
Wunden vernäht es, wenn es beschreibt, welch große Taten der Einzelne im
Angesicht des Todes vollbringen kann; wie selbstlos manche
Konzertbesucher*innen ihren eigenen Körper opfern, um Fremde vor den
Maschinengewehrsalven zu schützen. Das Buch räumt den Opfern und ihrem
Erlebten viel Raum ein. Der französische Autor vollzieht, ganz wie bei
Gericht üblich, kleinschrittig die Taten nach.
## Traumatisierte Angehörige
Gleichzeitig kommen bei Hausbesuchen des Schriftstellers die Angehörigen
der Toten zu Wort. Doch manche sind nun ihrerseits erfüllt von Hass und
vermögen es nicht, „Rache durch Recht zu ersetzen und Vergeltung durch
Justiz“. Dabei, so Carrères Überzeugung, nenne man genau das
„Zivilisation“.
Herausragend die Schilderung der Machtlosigkeit in den endlosen Minuten der
Anschläge, in dem die Opfer nicht nur zum Opfer fanatischer Irrer wurden,
sondern in gewisser Weise auch zum Spielball von Globalgeschichte.
[2][Islamistischer Terror, das ist keine verrückte Tat Einzelner], die
glauben, ihnen widerfahrenes persönliches Unrecht rechtfertige Hass und
Gewalt. Die Täter sind ideologisch derart verblendet, dass sie wirklich an
das Höhere glauben, für das sie morden und sterben wollen.
## Abseitige Denkstrukturen
Bemerkenswert ist, dass Carrère es in Ansätzen schafft, der
Unbegreiflichkeit der Ereignisse und den abseitigen Denkstrukturen der
Täter ein Stück innere Stringenz zu verschaffen. Diese innere Logik ist
dann zwar immer noch unerträglich, macht den Schrecken aber erklärbarer.
Die Gerichtsreportage kontextualisiert die Barbarei, ohne sie jemals zu
relativieren.
Allein ein rechtsstaatliches Verfahren, das auch den Rechten der
Angeklagten Geltung verschafft, vermag es zu verhindern, seinerseits in
Barbarei zu versinken – diese Haltung zieht sich durch das gesamte Buch.
Und dennoch: [3][Ein gutes Gerichtsverfahren bringt Gerechtigkeit], die
Frage nach dem Warum beantwortet es trotzdem fast nie.
Das meint auch Carrère, wenn er den Erkenntnisgewinn des Prozesses auf 10
bis 15 Prozent beziffert. Komplett ins Abseits geratene Weltbilder zu
erklären und zu deuten und dabei niemals die Opfer zu vergessen, das müssen
in unserer Gesellschaft andere Stellen leisten, das können die Gerichte
nicht. Carrères „V13“ zeigt, wie es gehen könnte.
5 Dec 2023
## LINKS
[1] /Bataclan-Urteil-in-Frankreich/!5864718
[2] /Islamistische-Terrorgefahr/!5977130
[3] /Dokuroman-ueber-NSU-Prozess/!5963668
## AUTOREN
Julian Sadeghi
## TAGS
Justiz
Paris
Bataclan
Islamismus
Terroranschlag
„Islamischer Staat“ (IS)
Terrorismus
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