# taz.de -- Chef des DIW warnt vor AfD-Politik: „Deutschland ist nicht das Pa… | |
> DIW-Präsident Marcel Fratzscher kritisiert die fehlende Willkommenskultur | |
> in Deutschland. Er warnt vor der migrationsfeindlichen Politik der AfD. | |
Bild: Bald gähnende Leere? Sommerfest der AfD in Soemmerda bei Erfurt im Augus… | |
taz: Herr Fratzscher, welche Folgen hat der AfD-Wahlerfolg für die | |
Wirtschaft in Thüringen und Sachsen? | |
Marcel Fratzscher: Es sind große Auswirkungen zu befürchten – vor allem | |
wegen des Umgangs mit Migrant*innen und Geflüchteten. Es entsteht | |
mittlerweile eine sehr ausländerfeindliche und intolerante Stimmung. Und | |
dies wird vor allem in Regionen, in denen die [1][AfD stark ist], die | |
Wirtschaft negativ beeinflussen. Nicht nur ausländische Fachkräfte und | |
Unternehmen meiden diese Regionen, auch viele gut ausgebildete Deutsche | |
wollen dort nicht leben und arbeiten, weil ihnen die Stimmung zu intolerant | |
und rassistisch ist. Das ist das Dilemma einiger dieser Regionen. | |
taz: Was heißt das genau? | |
Fratzscher: Wir sehen in unseren Studien, dass die AfD besonders stark in | |
Regionen ist, wo junge, gut ausgebildete Menschen abwandern. Gleichzeitig | |
führt die rechte Stimmung dazu, dass noch mehr abwandern und | |
[2][Unternehmen sich nicht ansiedeln wollen]. Und damit geht häufig ein | |
großes Stück öffentlicher Daseinsfürsorge verloren, weil Schulen schließen, | |
Ärzte fehlen und Geschäfte sowie Kneipen dichtmachen. So setzt sich ein | |
Teufelskreislauf aus zunehmender Wirtschaftsschwäche und gesellschaftlicher | |
Polarisierung in Gang. Und insofern ist es auch gefährlich, wenn die | |
demokratischen Parteien versuchen, die AfD zu kopieren und | |
migrationsfeindliche Politik machen. | |
taz: Wie wirkt sich die Politik der AfD auf Gesamtdeutschland aus? | |
Fratzscher: Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt haben zwar die größten | |
demografischen Probleme. Sie werden auch künftig am meisten unter | |
Geburtenrückgang und Bevölkerungsexodus leiden. Aber Überalterung und | |
[3][Fachkräftemangel] sind im gesamten Bundesgebiet ein Problem. In den | |
nächsten zehn Jahren werden 5 Millionen Beschäftigte mehr in den Ruhestand | |
gehen als junge Menschen neu in den Arbeitsmarkt kommen. Diese Lücke wird | |
nicht allein durch eine stärkere Frauenerwerbstätigkeit oder die | |
Mobilisierung von Arbeitslosen geschlossen werden können. | |
taz: Deutschland muss also ein Einwanderungsland bleiben? | |
Fratzscher: Deutschland hatte noch nie eine sehr ausgeprägte | |
Willkommenskultur. Deutschlands Zukunft und sein Wohlstand hängen davon ab, | |
ob es gelingt, genügend Fachkräfte nach Deutschland zu bringen. Und das | |
Land braucht nicht nur hochqualifizierte Fachkräfte. Überall fehlen | |
Arbeitskräfte. Es braucht auch geringqualifizierte Menschen für den | |
Dienstleistungsbereich oder die [4][Bauindustrie]. Wenn Deutschland sich | |
nicht für Zuwanderung öffnet, wird sehr viel Wohlstand verloren gehen. | |
Besonders strukturschwache Regionen, in denen die AfD stark ist, und | |
besonders geringqualifizierte Menschen im ländlichen Raum werden unter | |
diesem Wohlstandsverlust leiden. | |
taz: Das Institut für [5][Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)] | |
beziffert den jährlichen Bedarf an Nettozuwanderung für den Arbeitsmarkt | |
auf 400.000 Menschen. Also müssten demnach 400.000 Menschen mehr ins Land | |
kommen als es verlassen. Halten Sie diese Zahl für korrekt? | |
Fratzscher: Das ist eine realistische Zahl. Wir haben heute schon 1,7 | |
Millionen offene Jobs. Und wenn in den nächsten zehn Jahren 5 Millionen | |
Menschen in den Ruhestand gehen, dann braucht es jährliche eine halbe | |
Million neuer Arbeitskräfte. Und die Arbeitskräfte wollen nicht allein | |
kommen. Sie wollen ihre Kinder und Partner*innen mitbringen. Das wird | |
eine gigantische Herausforderung sein. Will Deutschland sie meistern, muss | |
es sich ändern und öffnen. | |
taz: Was muss passieren? | |
Fratzscher: Deutschland ist nicht das Paradies auf Erden. Hochqualifizierte | |
Fachkräfte wollen häufig nicht hierherkommen. Schließlich herrscht hier | |
eine schlechte Willkommenskultur, die Sprache ist schwierig, die Bürokratie | |
groß und die Anerkennung ihrer Abschlüsse und Qualifikationen umständlich. | |
taz: Wurden bei der Integration in der Vergangenheit Fehler gemacht? | |
Fratzscher: Man muss sich erst mal eingestehen, dass die Integration eine | |
große Herausforderung ist. Und dass auch viel richtig gemacht wurde und | |
wird. So ist die Mehrheit der damals Geflüchteten heute in Arbeit, deutlich | |
mehr als was damals realistisch erwartet werden konnte. Als 2015 im Zuge | |
des Willkommens-Sommer die Zahl der Schutzsuchenden sprunghaft stieg, waren | |
insbesondere die Kommunen nicht darauf vorbereitet. Man hat zwar daraufhin | |
Kapazitäten zur Versorgung von Geflüchteten aufgebaut – sie aber gleich | |
wieder abgebaut. Jetzt fehlen diese Kapazitäten wieder. Gleichzeitig wurde | |
verpasst, auf europäischer Ebene eine Lösung zu finden. Und letztlich ist | |
auch die Mentalität in Deutschland mit schuld. | |
taz: Was hat Integration mit Mentalität zu tun? | |
Fratzscher: Im Diskurs heute geht es fast ausschließlich um Abschiebungen | |
und Grenzschließungen. Die ungleich wichtigere und dringendere Frage ist | |
jedoch, wie die Integration der über 3 Millionen Schutzsuchenden in | |
Arbeitsmarkt und Gesellschaft schneller und besser gelingen kann. Ein Teil | |
der Gesellschaft und auch der demokratischen Parteien will verhindern, dass | |
Deutschland ein Einwanderungsland bleibt. Diesen Menschen sind | |
wirtschaftliche Argumente nicht so wichtig. Sie verzichten lieber auf | |
Wohlstand, wenn Deutschland dafür eine weißere, autochtonere Gesellschaft | |
bleibt. Dadurch werden die Menschen, die nach Deutschland kommen, nicht so | |
gut integriert, wie es eigentlich nötig und möglich wäre. | |
taz: Was muss jetzt geschehen? | |
Fratzscher: Die gegenwärtige Krise der Demokratie und die zunehmende | |
Polarisierung in Deutschland können nur durch einen ehrlichen Dialog über | |
die Frage gelöst werden, was wir als Gesellschaft wollen. Forderungen nach | |
Einschränkung des Asylrechts hingegen sind nichts als Populismus. | |
Stattdessen sollten wir unsere Anstrengungen auf die Integration der hier | |
Schutz Suchenden fokussieren und nicht so tun, als wären alle Probleme | |
gelöst, wenn wir ihr Menschenrecht auf Asyl beschränken. | |
taz: Müsste der Staat für die Integration mehr Geld in die Hand nehmen? | |
Fratzscher: Nicht nur für die Integration. Der Sparkurs der vergangenen | |
Jahre war schädlich. Der gesamte Bildungsbereich ist deutlich | |
unterfinanziert. Es fehlt in Kitas und Schulen an Personal. Wenn | |
geflüchtete Kinder integriert werden sollen, ist das eine zusätzliche | |
Belastung. Gleichzeitig muss auch in anderen Bereichen der öffentlichen | |
Daseinsfürsorge wie der Verkehrsinfrastruktur und dem Wohnungsbau wieder | |
mehr investiert werden. Dafür muss der Staat mehr Geld in die Hand nehmen | |
und vor allem auch die Kommunen besser ausstatten. Es braucht auch eine | |
Wende in der Finanzpolitik und eine Reform der Schuldenbremse. | |
taz: Hat die Sparpolitik auch zum Wahlerfolg der AfD beigetragen? | |
Fratzscher: Die AfD-Wähler*innen haben durchaus reale Sorgen. Nicht umsonst | |
ist die Partei in strukturschwachen Regionen stark, wo Schulen schließen | |
und Firmen abwandern. Deswegen brauchen diese Regionen neue wirtschaftliche | |
Impulse. Die Politiker*innen müssen nicht nur ehrlicher kommunizieren, | |
was die Politik leisten kann. Es muss auch wieder mehr in öffentliche | |
Infrastruktur und neue Strukturen investiert werden. | |
taz: Braucht es also einen neuen Aufbauplan Ostdeutschland? | |
Fratzscher: Es braucht einen neuen Aufbauplan Gesamtdeutschland. Auch in | |
Westdeutschland gibt es Regionen wie das Ruhrgebiet oder Teile von | |
Rheinland-Pfalz, die strukturschwach sind. Deswegen ist eine | |
Strukturpolitik notwendig, die gezielt in Regionen wirtschaftliche Impulse | |
setzt. Es muss wieder das im Grundgesetz festgeschriebene Versprechen der | |
gleichwertigen Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet gelten. | |
5 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Simon Poelchau | |
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