| # taz.de -- Sommerserie „Im Schatten“ (7): Plötzlich ohne Abschluss | |
| > Migrant:innen arbeiten oft in rechtlichen Grauzonen, um ihrem | |
| > gelernten Beruf nachzugehen. Denn die Anerkennung von Ausbildungen ist | |
| > langwierig. | |
| Bild: Profi am Werk – aber auch anerkannt? Viele Migrant*innen warten lange a… | |
| Berlin taz | Als Anna Sierova* 2018 nach Deutschland kam, hatte sie ein | |
| abgeschlossenes Physiotherapiestudium in der Tasche. Legal als Therapeutin | |
| arbeiten kann sie aber erst seit einem Jahr, nachdem sie ihren Abschluss in | |
| Deutschland anerkennen ließ. Heute ist die Ukrainerin froh, dass sie nicht | |
| mehr schwarz arbeiten muss, um zu überleben. Doch auch der Ärger, die | |
| eigene Berufsausbildung ein zweites Mal zu wiederholen, sitzt tief. | |
| „Ich musste zuerst Deutsch lernen, danach [1][ein kompliziertes | |
| Anerkennungsverfahren] absolvieren, viele Ausbildungsinhalte wiederholen, | |
| obwohl mein Studium in der Ukraine eigentlich höherwertig war als eine | |
| deutsche Ausbildung als Physiotherapeutin“, sagt Sierova. Um während der | |
| prekären Jahre ihre kleine Familie ernähren zu können, hat sie in ihrer | |
| Wohnung Patienten behandelt. | |
| Ihre Dienste waren gefragt, denn bei Anna Sierova bekam man schneller einen | |
| Termin als in vielen Physiotherapiepraxen. Das sprach sich herum, ebenso | |
| die Professionalität ihrer Arbeit. Sie hatte ja eine gute Ausbildung, nur | |
| dass die Krankenkassen diese nicht akzeptierten und sie somit dort kein | |
| Geld abrechnen konnten. | |
| „Zuerst kamen die Kunden nur aus meinem Bekanntenkreis. Aber als es mehr | |
| wurden, habe ich eine teure Massageliege gekauft und mit einer Trennwand | |
| einen Teil des Kinderzimmers meines Sohns abgetrennt“, verrät sie. | |
| ## Die lange Anerkennungszeit – eine „Demütigung“ | |
| Doch dann kam der [2][Krieg in der Ukraine] und Anna Sierovas Bruder floh | |
| mit seiner Familie nach Berlin. Sie zogen mit in ihre Gründerzeitwohnung. | |
| Die Massageliege diente fortan als Bett und Anna Sierova hatte keinen Platz | |
| mehr, um Patienten zu behandeln. „Das war eine finanzielle Durststrecke, | |
| aber inzwischen darf ich ganz legal als Physiotherapeutin arbeiten.“ Dass | |
| sie dafür eine langjährige Anerkennungs- und Ausbildungszeit absolvieren | |
| musste, erlebte die 31-Jährige als Demütigung. | |
| Nicht nur Physiotherapeuten haben ein Problem damit, dass ihre | |
| ausländischen Berufsabschlüsse nicht anerkennt sind und sie oft unter ihrer | |
| Qualifikation oder halblegal arbeiten müssen. „Wir haben das Problem, dass | |
| türkische Fachärzte als Assistenzärzte eingestuft werden, dass | |
| qualifizierte Architekten erst beweisen müssen, dass sie Architekten sind, | |
| und schlechter bezahlt werden“, sagt Doğan Azman von der Türkisch-Deutschen | |
| Unternehmervereinigung. | |
| Bei einigen Berufen seien in diesem Sommer bundesgesetzliche Änderungen | |
| vorgenommen worden, um den Fachkräftemangel in Deutschland zu beseitigen. | |
| „Ein Koch für ein türkisches Restaurant muss beispielsweise keinen | |
| Berufsschulabschluss mehr vorlegen, der in der Türkei eher nicht üblich | |
| ist. Man lernt dort im Arbeitsprozess. Jetzt reicht ein Arbeitszeugnis.“ | |
| Auch in der Pflege, wo man in besonderem Maße auf zugewanderte | |
| Arbeitskräfte angewiesen ist, wurden Hürden beseitigt, sagt Azman. Doch es | |
| blieben andere Hürden: „Man wartet beispielsweise zehn Monate auf einen | |
| Termin beim deutschen Konsulat in der Türkei. Aber kein Arbeitgeber will so | |
| lange warten. Und deutsche Sprachkenntnisse werden auch in solchen | |
| Bereichen verlangt, wo sie vielleicht nicht in dem Maße nötig wären.“ | |
| ## Das Problem mit den Meistertiteln | |
| Dann sei da noch das Problem mit den Meistertiteln in Handwerksberufen: | |
| „Wenn ein türkischer Supermarkt beispielsweise einen Fleischstand aufmachen | |
| will, braucht er einen Fleischermeister. Da wird oft ein Deutscher | |
| eingestellt“, erzählt Azman. Der müsse bezahlt werden, obwohl er eigentlich | |
| nicht gebraucht wird. | |
| Besonders offenkundig ist das Problem bei Friseuren. Um einen Friseursalon | |
| aufmachen zu können, braucht mindestens ein Mitarbeiter oder eine | |
| Mitarbeiterin einen deutschen Meistertitel. Viele Zugewanderte sind | |
| kompetente Friseur:innen, die in ihrem Herkunftsland lange dieser Tätigkeit | |
| nachgegangen sind. Aber ohne Qualifikationsnachweis arbeiten sie hier in | |
| einer juristischen Grauzone. | |
| Ein Beispiel dafür ist [3][das Dong-Xuan-Center in Lichtenberg]. Hier gibt | |
| es eine mittlere zweistellige Zahl an Dienstleistungsbetrieben für Friseur, | |
| Nageldesign, Tattoo und Massage, die von den Lichtenberger Behörden teils | |
| toleriert, teils sanktioniert werden. | |
| Hauptgrund für die Klagewelle ist allerdings nicht der fehlende | |
| Qualifikationsnachweis der Vietnamesinnen und Vietnamesen, sondern die | |
| Sonntagsarbeit. as Dong-Xuan-Center ist ein Großhandelscenter und darf | |
| darum sonntags öffnen. Dienstleistungsbetriebe wie Friseure und | |
| Nagelstudios müssen hingegen am Ruhetag schließen. Doch daran hält sich | |
| kaum jemand. Außerdem laufen seit Jahren Gerichtsverfahren, ob | |
| Dienstleistungsbetriebe aus planungsrechtlichen Gründen überhaupt im | |
| Gewerbegebiet bleiben dürfen. | |
| ## Arbeiten in der Grauzone | |
| Wer im Schatten arbeitet, möchte darüber nicht mit der Presse sprechen. Der | |
| taz ist es nur in einem Fall gelungen, mit einer vietnamesischen Friseurin | |
| zu sprechen, die aber anonym bleiben möchte. Das Handwerk habe sie im Laden | |
| selbst gelernt, sagt die Frau, Mitte 30. „Damals gab es noch eine andere | |
| Chefin.“ Die könne aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten | |
| und habe ihr den Laden verkauft. | |
| Die heutige Ladeninhaberin ist im Alter von 19 Jahren nach Deutschland | |
| gekommen, hier nicht zur Schule gegangen und hat auch keinen Beruf erlernt. | |
| Und ja, sagt sie, sie musste eine deutsche Friseurmeisterin einstellen, die | |
| hier ein paar Mal vorbeischaut und die Buchhaltung übernehme. „Aber die | |
| Haare schneide ich selbst und meine Kunden sind sehr zufrieden“, sagt die | |
| Frau. | |
| Und das mit der Sonntagsarbeit findet die Frau wichtig. „Sonntags kommen | |
| die meisten Kunden.“ Auch vietnamesische Vereine haben sich dafür | |
| starkgemacht, den Status quo im Dong-Xuan-Center zu erhalten. | |
| Handwerkskammern sehen als Ungleichbehandlung gegenüber Betrieben an | |
| anderen Orten, die sonntags schließen müssen. | |
| Anderswo in Berlin haben arabische und kurdische Männer Barbershops | |
| geöffnet, um die deutsche Meisterordnung zu umschiffen. Barbiere gelten | |
| anders als Friseure nicht als Handwerker, sondern als Angehörige eines | |
| Kosmetikberufs mit weniger strengen Vorschriften. Allerdings dürfen | |
| Barbiere nur das Barthaar und das Gesicht von Männern pflegen und | |
| frisieren. | |
| Sobald sie das Haupthaar frisieren, begeben sie sich in eine juristische | |
| Grauzone: Dann müssten sie einen Meister einstellen oder selbst eine | |
| Ausbildung nachweisen. Oder sie beantragen eine Ausnahmegenehmigung nach | |
| der Handwerksordnung, wenn sie nachweisen, dass die Erlangung des | |
| Meistertitels eine unzumutbare Härte darstellen würde. Hat man nichts von | |
| allem, dann gilt die Arbeit als Schwarzarbeit. Der taz ist es trotz | |
| Bemühungen in mehreren Barbershops nicht gelungen, mit einem Mitarbeiter | |
| darüber zu sprechen, wie bei ihm das Problem gelöst wurde. | |
| Im Schatten der langsam mahlenden Mühlen der Bürokratie ist ein | |
| Arbeitsmarkt entstanden, in dem sich viele Migrant:innen selbst helfen, | |
| anstatt nur auf den Staat zu warten. Denn bis sie in Deutschland legal dem | |
| Beruf nachgehen können, indem sie ausgebildet worden sind, ist es ein | |
| langer Weg. | |
| *Name geändert | |
| 3 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marina Mai | |
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