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# taz.de -- Israelisches Militär im Westjordanland: „Viele Bewaffnete töten…
> Das Camp von Dschenin rückt ins Zentrum der israelischen
> Militäroperation. Viele Bewohner fliehen, Beobachter fürchten eine
> Ausweitung des Gazakriegs.
Bild: Blick aus einem vom israelischen Militär bombardierten Auto, nahe der St…
Jerusalem/Dschenin taz | Es war Mittwoch vor einer Woche, als Soldaten vor
Rabea Rabaijas Türe im Flüchtlingscamp von Dschenin standen. „Sie haben das
Haus gestürmt und uns alle in das Schlafzimmer meines Vaters gesteckt“,
erzählt der 54-Jährige. Die zehn Familienmitglieder, darunter seine
78-jährige Mutter, hätten drei Tage mit wenig Wasser und Nahrung in dem
Raum verbracht, während in den Straßen vor dem Haus – [1][ebenso wie in
Tulkarm] und Tubas im Norden des besetzten Westjordanlands – die größte
israelische Militäroperation seit 20 Jahren begann. Die Soldaten hätten den
Rest ihres zweistöckigen Hauses im Zentrum des Camps als „Militärbasis“
genutzt.
Die Familie habe nur mit Erlaubnis der Soldaten aus dem Zimmer kommen
dürfen. Zusammengedrängt hätten sie immer wieder Geschrei und Schüsse
gehört, erzählt Rabaija, besonders in den Nächten. Nach zwei Tagen legten
ihm Soldaten Handschellen und [2][eine Augenbinde an und hielten ihn die
Nacht über in einem Armeefahrzeug fest]. Er habe in Dschenin schon
zahlreiche israelische Razzien gesehen, sagt Rabaija, „aber nie solch ein
Maß an Brutalität“.
Seit letztem Mittwoch gehen die israelischen Sicherheitsbehörden nach
eigenen Angaben mit Bodentruppen, Luftangriffen und Bulldozern gegen
militante Palästinenser vor. Nach den Flüchtlingslagern Nur Schams und
Far’a gilt der Hauptfokus seit Anfang der Woche dem Lager bei Dschenin. Die
Camps gelten als Hochburgen des Islamischen Dschihads (PIJ), der Hamas und
anderer bewaffneter Gruppen. Die Stadt war zwischenzeitlich abgeriegelt,
das Krankenhaus umstellt.
Die Operation ist laut dem Militär eine Reaktion auf palästinensischen
Angriffe, die seit dem Beginn des Gazakrieges zugenommen haben: Nach
Angaben der Vereinten Nationen wurden dabei in diesem Jahr neun
Sicherheitskräfte und fünf israelische Siedler getötet. Zehn Israelis
starben bei Angriffen innerhalb Israels. Mitte August scheiterte ein
Bombenanschlag in Tel Aviv.
## Iran soll „Terrorfront“ im Westjordanland aufbauen
Ziel des Einsatzes sei es, „so viele Bewaffnete wie möglich zu töten“,
damit die Armee künftig mehr Handlungsfreiheit habe, zitiert die Times of
Israel einen Beamten der israelischen Grenzpolizei. [3][Außenminister
Israel Katz beschuldigte zudem zu Beginn des Einsatzes Iran], „eine
terroristische Front gegen Israel im Westjordanland aufzubauen“.
Der Umfang der Operation ist so groß wie seit der zweiten Intifada, einem
gewalttätigen palästinensischen Volksaufstand im Jahr 2002, nicht mehr. Das
Vorgehen aber ist nicht neu. In israelischen Sicherheitskreisen haben die
kontinuierlichen Razzien gegen bewaffnete Palästinenser über die Jahrzehnte
den makaberen Beinamen „Rasenmähen“ bekommen. In regelmäßigen Abständen
tötet oder verhaftet die Armee in den besetzten Gebieten Verdächtige und
zieht sich wieder zurück. Junge Bewaffnete liefern sich Kämpfe mit den
Soldaten. Oft bleiben Tote zurück. Mehr als 650 Palästinenser starben seit
Kriegsbeginn im Westjordanland.
Nicht selten treffen die Kugeln neben Kämpfern auch unbeteiligte Zivilisten
oder jugendliche Steinewerfer. Schnell füllen junge und perspektivlose
Palästinenser die Plätze der getöteten Militanten wieder auf.
Seit Beginn der Operation vor einer Woche wurden nach Armeeangaben mehr als
30 Bewaffnete getötet, darunter der militärische Anführer der Hamas in
Dschenin, Wissam Hasem. In Nur Schams töteten Soldaten den 26-jährige
Mohammed Jaber, auch bekannt unter dem Namen Abu Shudscha. Er galt als der
örtliche Befehlshaber des PIJ. Nach israelischen Angaben war er
verantwortlich für mehrere Terroranschläge. Erschossen wurden aber laut
Medienberichten auch Unbeteiligte wie der 63-jährige geistig
beeinträchtigte Adsched Abu al-Haidscha aus Tulkarm.
## Palästinensischer Islamsicher Dschihad stärker als Hamas
Der [4][Islamwissenschaftler Reinhard Schulze] sieht vor diesem Hintergrund
die Gefahr einer Ausweitung des „Gazakriegs zu einem Palästinakrieg“ mit
schwer abschätzbaren Folgen. Im Gegensatz zum bisher vor allem von der
Hamas dominierten Gazastreifen seien im Westjordanland zahlreiche Kräfte am
Werk: „Die Hamas hat zwar einen politischen Rückhalt in Hebron, Tulkarm und
Tubas“, sagt Schulze. Sie konnte aber bisher keine Strukturen wie im
Gazastreifen aufbauen. „Hamas-Leute führten nur knapp zehn Prozent der
militanten Aktionen im Westjordanland aus.“
Das liege auch an dem Widerstand anderer palästinensischer Fraktionen. Dazu
zählen einerseits der PIJ, der laut Schulze über „das breiteste Netzwerk
der Militanz im Westjordanland“ verfüge, kaum politisch auftrete und
massiv von Iran unterstützt werde. Andererseits bleibe die Fatah von
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas der wichtigste politische Kontrahent.
Deren militärischer Arm, die al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, sei für etwa die
Hälfte der militanten Aktionen in dem Gebiet verantwortlich.
Wahrscheinlicher als ein Aufbau der Hamas sei die Etablierung einer
wechselnden Zusammenarbeit der bestehenden lokalen militanten Gruppen,
allen voran des PIJ.
Damit nehme der Einfluss Irans im Westjordanland tatsächlich zu, sagt
Schulze. [5][„Der PIJ betrachtet sich seit 2012 selbst als Teil der ‚Achse
des islamischen Widerstands.‘“] Unklar sei aber, wie stark die schiitische
Führung in Teheran strategische Entscheidungen des sunnitischen PIJ
beeinflussen könne.
Palästinenser warnen indes, die immer häufigeren und tödlicheren Razzien
der Armee würden das Problem der zunehmenden Militanz eher vergrößern.
Jeder Vorstoß der Armee hinterlässt in den dicht besiedelten
Flüchtlingslagern eine Spur der Verwüstung. Im Lager von Dschenin sind die
Wände der schmalen Gassen übersät mit Plakaten der „Märtyrer“, wie sie …
genannt werden. Schwere Militärbulldozer haben einen Großteil der breiteren
Straßen aufgerissen, um eventuelle Sprengfallen zu finden und dabei Rohre
und Leitungen zerstört – lebenswichtige Infrastruktur für die laut der
Regionalverwaltung rund 18.000 Bewohner.
## Wird aus dem Westjordanland ein zweiter Gazastreifen?
Als Rabaija am Samstagmorgen freigelassen wird, befehlen ihm die Soldaten,
mit seiner Familie das Lager zu verlassen. „Wir sollten dabei ein weißes
Tuch halten“, erzählt er. Er habe seine altersschwache Mutter rund zwei
Kilometer entlang der zerstörten Straße tragen müssen, bevor ein
Rettungswagen sie in ein Krankenhaus bringen konnte. Die Familie sei fürs
Erste bei seinem Cousin auf der anderen Seite von Dschenin untergekommen.
Auf eine Anfrage der taz zum Vorgehen gegen die Familie wollte sich das
Militär nicht äußern.
Eine Anordnung zur Evakuierung gibt es der [6][Armee] zufolge nicht.
Dennoch fürchten viele Palästinenser eine dauerhafte Vertreibung, nicht
zuletzt, nachdem Außenminister Katz beim Onlinedienst X gefordert hatte:
„Wir müssen mit der Bedrohung genauso umgehen, wie mit der
Terrorinfrastruktur in Gaza, einschließlich der vorübergehenden Evakuierung
palästinensischer Zivilisten.“ In Gaza wurden laut der Vereinten Nationen
seit dem Beginn des Krieges nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober [7][1,9
von 2,2 Millionen Menschen vertrieben].
Immer wieder verlassen nun Gruppen von Bewohnern das Lager Dschenin – bei
sich nur, was sie tragen können. Fathija Kendscheri stützt sich beim Gehen
mit einer Hand auf ihren Stock, mit der anderen auf den Arm ihrer Enkelin.
„Es ist das dritte Mal, dass ich mein Haus zurücklassen muss“, sagt die
73-Jährige. Sie und ihre Familie beschlossen zu fliehen, nachdem ein
Bulldozer einen Teil des Hauses zerstört hatte. Wann die Familie
zurückkehren kann, ist offen.
Die israelische Zeitung Israel Hayom schreibt unter Berufung auf
Sicherheitskreise, die Operation in Dschenin sei „nur der Anfang“. Die
Armee sehe das Westjordanland zunehmend als wichtigste Front nach dem
Gazastreifen.
5 Sep 2024
## LINKS
[1] /Fluechtlingscamp-im-Westjordanland/!6010017
[2] /Palaestinenser-in-Israels-Gefaengnissen/!6021130
[3] /Israels-Strategie-im-Westjordanland/!6029991
[4] https://www.nzz.ch/schweiz/islamforscher-schulze-dass-die-linke-so-etwas-al…
[5] /Palaestinensische-Gruppen-in-Gaza/!5870198
[6] /Ultraorthodoxe-in-Israels-Armee/!6030765
[7] /Flucht-durch-den-Gazastreifen/!6006935
## AUTOREN
Felix Wellisch
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