# taz.de -- Nahostkonflikt: Nicht eure Netflix-Serie | |
> Unbetroffene schauen auf Israel und Palästina wie einen twistreichen | |
> Fernsehthriller. Den Menschen vor Ort hilft das nicht. | |
Bild: Im Krieg zwischen Israel und Palästina geht es auch um die Bildmacht | |
Während die Verhandlungen für einen Deal zwischen Israel und der Hamas | |
stocken und am Wochenende sechs israelische Geiseln [1][in einem Tunnel | |
unter Rafah tot aufgefunden wurden], starrt der Westen gebannt auf seine | |
Bildschirme – als ob er den nächsten Plot-Twist einer Netflix-Serie | |
erwartet. | |
Sollte aber dieser wahre Albtraum je vorbei sein, werden wir uns wohl nie | |
gänzlich davon erholen – weder als Täter noch als Opfer. Auch die brutale | |
Realität von Millionen unfreiwilliger Protagonisten wird sich nicht so | |
schnell ändern. | |
Das Massaker vom 7. Oktober ereignete sich nach Monaten, in denen es so | |
aussah, als stünden wir in Israel [2][am Rande eines Bürgerkriegs]. An | |
diesem Morgen brach tatsächlich alles zusammen. Der Staat versagte. Das | |
Gefühl von Sicherheit bei vielen Israelis war zerbrochen, alles fühlte sich | |
paranoid, gleichzeitig aber auch möglich an. Das tut es immer noch. | |
Neben der konkreten Angst vor Ort auf beiden Seiten entpuppten sich aber | |
jenseits des Krieges überraschend viele schaulustige Beobachter als ethisch | |
instabil, besessen von Virtue Signaling und vereinfachenden Aussagen, die | |
nur die eigenen moralischen Werte zur Schau stellen sollen, aber niemandem | |
helfen. | |
## Ein moralischer Bankrott | |
Eine Bekannte postete kurz nach dem Hamas-Angriff, dass man kürzlich nach | |
Berlin gezogene Israelis überall ausgrenzen sollte – aus Ausstellungen, | |
Bars, Partys oder beim Sex. Ein Schauspieler wurde ermutigt, die | |
Zusammenarbeit mit einem israelischen Theaterkollegen zu beenden, der seit | |
Langem in Deutschland lebt und sich für Frieden einsetzt. Andere Israelis | |
wurden angespuckt, weggeschickt, ausgeladen – die Liste ist lang. Dieses | |
Verhalten ist nicht de-kolonialisierend, sondern ein moralischer Bankrott. | |
In progressiven „Safe“ Spaces ist [3][für Israelis Ausgrenzung üblich | |
geworden]. Sie wird begleitet von ideologischen Reinheitstests, um zu | |
prüfen, ob man „koscher“ ist – trotz der „falschen“ Identität. War … | |
diese Einsamkeit, von einem Tag auf den nächsten von Mitmenschen | |
ausgeschlossen zu werden, doch etwas, wovon unsere Großeltern uns | |
erzählten? | |
Diese Serie läuft schon seit zwei Jahrtausenden. Und die antisemitischen | |
Tropen sitzen bis heute fest in den Köpfen einiger Linker, die Israelis | |
pauschal verdächtigen. Andere schweigen zu den Verdächtigungen ihrer | |
Genossen – aus Solidarität mit den Palästinensern. Solidarität brauchen | |
auch die Palästinenser, unbedingt! Solche Ausschlüsse widersprechen aber | |
der Komplexität der Lage. | |
Es ist nicht progressiv, die Lage in Gaza, den besetzten Territorien oder | |
den 7. Oktober zu ignorieren. Ebenso wenig, die Abschaffung eines 76 Jahre | |
alten Landes zu fordern. Wörter werden herumgeworfen, ohne wirklich Rechte | |
zu schützen, Daten zu kennen oder Machtstrukturen zu prüfen – ob | |
„Apartheid“, „Genozid“ oder „Intifada“. Israel als Kolonialprojekt | |
darzustellen, zielt letztlich darauf ab, sein Existenzrecht zu untergraben. | |
Und Konfliktlösungen entstehen nicht durch Umschreiben der Geschichte in | |
nuancenlosen Unsinn. | |
## Eine antisemitische Evolution | |
Die ultranationalistische Netanjahu-Regierung und die Suprematisten in den | |
Siedlungen erschweren die Argumente für progressive Israelis. Dabei gibt es | |
klare Unterschiede zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik an Israels | |
Regierung oder Geschichte. Kritik an der Instrumentalisierung des | |
Holocausts ist legitim, Zionismus selbst als Holocaust umzudeuten ist es | |
nicht. Dies ist keine semantische Re-Evaluation – es ist eine | |
antisemitische Evolution. | |
Israels komplexe Geschichte kann man nicht in eine vereinfachte Handlung | |
von gut oder böse zwängen. Der aktuelle Diskursextremismus dient den Egos | |
und Interessen vieler, aber nicht den Palästinensern oder Israelis selbst, | |
die zusammenleben müssen. Die Debatte, wie sie hier in Deutschland und an | |
anderen Orten weltweit geführt wird, ist in Wahrheit eine kolonialistische | |
Geste par excellence – alle wollen besserwissend mitreden, über die Serie, | |
die sie eifrig mitverfolgen, die aber nichts an ihrem eigenen Leben ändert. | |
Was würde stattdessen helfen? Polemische Zeiten erfordern größere | |
intellektuelle Klarheit. Deeskalationswissen und dialektische Fähigkeiten | |
sind die Grundlage von Diplomatie. Wir brauchen Antworten und Garantien für | |
Palästinenser und Israelis, für Sicherheit und Hoffnung und einen Diskurs, | |
der dies ermöglicht – nicht einen, der selbst zur Eskalation beiträgt. | |
Es ist zu spät für die unzähligen Zivilisten in Gaza, die tot sind, | |
traumatisiert, schwer verletzt auf der Flucht. Ebenso für die sechs | |
Geiseln, die von der Hamas hingerichtet wurden. Friedensbewegte Israelis | |
und Palästinenser brauchen Verbündete außerhalb des Nahen Ostens, die | |
differenzieren – und keine Bingewatcher, die nur auf den nächsten | |
Cliffhanger warten. | |
3 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Von-der-Hamas-getoetet/!6033561 | |
[2] /Massenproteste-in-Israel/!6016093 | |
[3] /Antisemitismus-in-der-Linken/!5781586 | |
## AUTOREN | |
Amit Jacobi | |
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