| # taz.de -- Polio-Impfungen in Kriegsgebieten: Das Friedensvirus | |
| > Vorbild für Gaza? Vor einem Vierteljahrhundert zeigte die DR Kongo, wie | |
| > Feuerpausen für Polio-Impfkampagnen Friedensprozesse befördern können. | |
| Bild: Polio ist nicht heilbar, aber es lässt sich ausrotten, indem Kinder geim… | |
| Kinderlähmung, also Poliomyelitis – Polio –, ist brutal. Das Poliovirus, | |
| über den Mund aufgenommen, verteilt sich über die Lymphknoten und befällt | |
| in schweren Fällen Rückenmark und Gehirn, was zu Entzündungen des | |
| Nervensystems führen kann. Bleibende Lähmungen sind die Folge. Wer in armen | |
| Ländern gesehen hat, wie verkrüppelte Poliogelähmte durch den Staub | |
| kriechen, auf den Händen anstelle der Füße, vergisst es nicht. Ihre | |
| Lebenserwartung ist niedrig, ihr Alltag erfordert eine unbeschreibliche | |
| körperliche und mentale Kraft. | |
| Man kann Polio nicht heilen. Aber [1][man kann es ausrotten], wenn man alle | |
| Kinder impft. Das klingt einfach, aber es gibt kaum etwas Schwierigeres. | |
| Man muss alle Kleinkinder finden und zweimal impfen, die Impfstoffe müssen | |
| gekühlt gelagert werden, eine Nachverfolgung ist wichtig. Daher ist Polio | |
| bis heute nicht ausgerottet, obwohl die Weltgesundheitsorganisation WHO | |
| dafür schon einmal [2][das Jahr 2000 als Ziel] aufrief. | |
| Das Polio-Wildvirus zirkuliert zwar nur noch in Afghanistan und Pakistan, | |
| wo radikale Impfgegner – Islamisten – Impfkampagnen verhindern; aber | |
| weltweit treten sogenannte Vakzine-basierte Polio-Erkrankungen auf – das | |
| Virus lebt und entwickelt sich weiter, auch wenn Geimpfte daran nicht | |
| erkranken, und sobald es auf Ungeimpfte in schlechten hygienischen | |
| Umständen trifft, verbreitet sich die Seuche neu. | |
| ## Sanitäre Versorgung in Gaza ist zerstört | |
| Das ist aktuell im Gazastreifen der Fall, wo zwar noch 2022 eine | |
| Polio-Impfquote von 99 Prozent herrschte, aber Israel mittlerweile das | |
| Gesundheitswesen und die Trinkwasserversorgung weitgehend zerstört hat. Im | |
| Juli wurden dort bei drei Kindern Polio-typische Lähmungserscheinungen | |
| [3][festgestellt] und eine Vakzine-basierte Poliovirus-Variante im | |
| Trinkwasser nachgewiesen, weswegen die WHO und das UN-Kinderhilfswerk | |
| Unicef jetzt eine Impfkampagne starten. | |
| Polio-Impfkampagnen setzen vieles voraus, was mitten im Kriegsgebiet meist | |
| fehlt: eine funktionierende Kühlkette mit Stromversorgung, sichere | |
| Transportwege mit Treibstoffreserven, geschultes Personal mit | |
| Kommunikationsmitteln, geschützte Impfzentren mit freiem Zugang. Für Gaza | |
| [4][verlangten WHO und Unicef] daher „humanitäre Pausen für sieben Tage, um | |
| zwei Impfrunden zu ermöglichen“. Sonst „wird die Kampagne nicht | |
| durchführbar sein.“ | |
| Die „humanitäre Pause“ zwecks Polio-Impfung ist keine neue Erfindung. In | |
| großem Stil wurde sie in der Demokratischen Republik Kongo geboren, zum | |
| Höhepunkt des Kongokrieges, der das Land 1998 in Warlord-Gebiete geteilt | |
| hatte. Der Staat war zerfallen, das ohnehin rudimentäre Gesundheitswesen | |
| brach völlig zusammen, Seuchen breiteten sich unkontrolliert aus. Als | |
| größtes Ausbreitungsland für Wildpolio war die DR Kongo damals „die oberste | |
| Priorität für die globale Polio-Ausrottung“, wie die WHO im Frühjahr 1999 | |
| warnte. | |
| Das wirkte. UN-Generalsekretär Kofi Annan rang Kongos Präsident | |
| Laurent-Désiré Kabila und den Rebellen im Osten Kongos Zusagen ab: „Tage | |
| der Ruhe“ zum Impfen. UN-Untergeneralsekretär Sérgio Vieira de Mello wurde | |
| zum Sonderbeauftragten, Prominente wie der kongolesische Musiker Lokua | |
| Kanza warben für die Impfung. | |
| ## Das Unmögliche erreichen | |
| Die „Tage der Ruhe“ [5][begannen am 13. August 1999] für eine Woche, | |
| Rebellenführer Emile Ilunga persönlich rief die erste Feuerpause im Radio | |
| aus. Es folgten zwei weitere, am Ende wurden knapp 90 Prozent aller | |
| kongolesischen Kinder im Alter unter fünf Jahren erreicht. Das war eine | |
| logistische Meisterleistung: Kongo hatte nicht nur keine funktionierende | |
| Verkehrs- und Energieinfrastruktur, damals gab es auch noch kein Internet, | |
| keine allgemeinen Telefonsysteme, nur Kommunikation über Funk und Satellit. | |
| Tief in der DR Kongo war man damals von der Welt abgeschnitten und | |
| möglicher Willkür ausgeliefert in einem Ausmaß, wie es heute nicht mehr | |
| vorstellbar ist. | |
| Mit politischem Willen lässt sich auch unter widrigsten Umständen das | |
| Unmögliche erreichen. Wie überall gibt es auch in der DR Kongo engagiertes | |
| Gesundheitspersonal, das regelmäßig an der Politik verzweifelt. Sobald die | |
| Leute die Möglichkeit haben, Vernünftiges zu tun, tun sie es. | |
| Nicht ganz zufällig entstand in jenem Sommer 1999, als in der DR Kongo | |
| plötzlich geimpft statt geschossen wurde, auch der Friedensprozess, der | |
| Kongos Krieg beenden sollte. [6][In Sambias Hauptstadt Lusaka wurde am 10. | |
| Juli ein Waffenstillstand vereinbart], dem sich Ende August auch die | |
| Rebellen anschlossen. In der Zwischenzeit gründete die UNO ihre | |
| [7][Kongo-Mission]: zunächst 50 Militärbeobachter, später die größte | |
| UN-Friedensmission der Welt. Es dauerte Jahre, bis die Kämpfe tatsächlich | |
| endeten, und völlig befriedet ist die DR Kongo bis heute nicht – aber die | |
| Saat des Friedens wurde damals gelegt, vor genau 25 Jahren. | |
| Feuerpausen, um Kinder zu impfen – geht da nicht auch mehr? Zu viel | |
| hineinlesen sollte man nicht: Die Polio-Impfungen waren keine spontane | |
| Basiskampagne, sondern es musste schon der UN-Generalsekretär tätig werden. | |
| Aber sein Appell, Impfungen zuzulassen, war wirksamer als ein allgemeiner | |
| Friedensappell. Nicht zuletzt sind auch Warlords und ihre Kinder nicht | |
| gegen Polio immun. | |
| Polio-Gelähmte haben in der DR Kongo einen besonderen Stellenwert, der mit | |
| dem Krieg eher gewachsen zu sein scheint. Sie haben überlebt, sie genießen | |
| Respekt. Manche haben Sonderrechte, mit ihren selbst gebastelten | |
| Rollstühlen Grenzen und Sperren zu überqueren. In der kurzen Zeit der | |
| Hoffnung nach Kongos ersten freien Wahlen 2006, bevor das Land erneut in | |
| Konflikten versank, machte die von Polio-Versehrten gegründete | |
| Behindertenband [8][„Staff Benda Bilili“] aus Kinshasa mit ihren Songs und | |
| schließlich mit einem preisgekrönten Film international Furore. | |
| Der Kampf gegen Polio hilft, Grenzen zu überwinden: zwischen Kriegsparteien | |
| und eben auch in den Köpfen. Das ist eine kongolesische Lehre – vielleicht | |
| auch für Gaza und Israel. | |
| 2 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://polioeradication.org/ | |
| [2] https://iris.who.int/handle/10665/164531 | |
| [3] https://www.unicef.org/press-releases/humanitarian-pauses-vital-critical-po… | |
| [4] https://www.who.int/news/item/16-08-2024-humanitarian-pauses-vital-for-crit… | |
| [5] https://reliefweb.int/report/burundi/bulletin-quotidien-dinformation-no-735… | |
| [6] https://peacemaker.un.org/drc-lusaka-agreement99 | |
| [7] https://monusco.unmissions.org/en | |
| [8] https://de.wikipedia.org/wiki/Staff_Benda_Bilili | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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