# taz.de -- Israel und Palästina: Nahöstliche Grautöne | |
> Frauenrechte, Religion und säkulare Werte spalten viele palästinensische | |
> Familien. Sechs Protokolle aus dem Westjordanland, Israel und Deutschland | |
Bild: Palästinensische Arbeitspendler im Bus von Tel Aviv in Richtung Westjord… | |
Was im medialen Rauschen der Kriegsberichterstattung oftmals untergeht: | |
dass das zivile Leben zwischen Jordan und Mittelmeer natürlich auch | |
weitergeht, trotz des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober und des daraus | |
folgenden Kriegs in Gaza. Denn Israelis und Palästinenser haben seit | |
Jahrzehnten gelernt, grenzübergreifend zwischen Israel und den | |
Palästinensergebieten zusammenzuarbeiten und zusammenzuleben, auch in | |
Kriegszeiten. | |
Noch [1][sitzen hunderttausende Arbeitspendler kriegsbedingt fest]. Doch | |
sollten die Waffen irgendwann einmal wieder schweigen, werden Bauarbeiter, | |
Spediteure, Subunternehmer, Dienstleister, Techniker und | |
Verwaltungsfachleute wieder die Grenze zu Israel passieren. Das bedeutet: | |
Alltagsbegegnungen, Bekanntschaften, Freundschaften, Koexistenz. Aber es | |
ist eine Koexistenz zwischen Hammer und Amboss. Palästinenser mit | |
israelischem Ausweis können ein Lied davon singen. | |
Diese Protokolle, die im Rahmen eines deutsch-palästinensisch-israelischen | |
Forschungsprojekt entstanden sind, handeln von grenzüberschreitenden | |
Begegnungen. Es geht um Palästinenser aus Deutschland und den | |
Palästinensergebieten, die vom schwierigen Umgang mit ihren Verwandten in | |
Israel erzählen: mit den israelischen Palästinensern jenseits der „grünen | |
Linie“, also der Demarkationslinie für das Waffenstillstandsabkommen von | |
1949, die beide Sprachen sprechen und dabei manchmal – peinlich für beide | |
Seiten – Arabisch mit Hebräisch vermischen. | |
Es sind Begegnungen mit dem Elefanten im Raum. Der Elefant, das ist der | |
unaussprechliche Vorwurf des „territorialpolitischen Verrats“, weil diese | |
Palästinenser nach 1948 die israelische Staatsbürgerschaft annahmen, um | |
bleiben zu dürfen. | |
Und selbst wenn über vermeintlich harmlose private Dinge gesprochen wird: | |
Dann kommt der Elefant durch die Hintertür. Zum Beispiel als Verdacht der | |
„sexualpolitischen Zersetzung“ patriarchaler Familienwerte unter | |
israelischem Einfluss. Hier sind wirkmächtige Stereotype und Vexierbilder | |
im Spiel, und zwar auf beiden Seiten der Grenze: Strenggläubigkeit versus | |
Säkularisierung, Frauenrechte versus Familienehre, Authentizität versus | |
Entfremdung. | |
Dabei zeigt sich: Die nahöstliche Lebenswirklichkeit ist alles andere als | |
schwarzweiß. Das wissen jene am besten, die beide Seiten kennen. Sie sind | |
es, deren Expertise gefragt sein wird, wenn es gilt, Chancen auf einen | |
Kompromiss für Frieden auszuloten. | |
## „Da kannst du nicht mehr unterscheiden, wer Araber und wer Israeli ist“ | |
Kholoud, 47 Jahre, strenggläubige Gastarbeitertochter, Hausfrau und Mutter, | |
lebt in Bremen. Sie sieht sich vor allem als Palästinenserin und weniger | |
als Deutsche. Es ist ihr „super wichtig“, sagt sie, „dass die Kinder einen | |
Draht zu Palästina kriegen“. Wobei Verwandtenbesuche im Westjordanland | |
„nicht das Wichtigste“ sind. Und was wäre das Wichtigste? Religiosität, | |
Keuschheit, Palästinatreue: „Wir hier (in der deutschen Diaspora) sind | |
religiöser als die in Palästina. Hier tragen sie meistens Kopftuch in | |
meiner Generation. Aber da tragen viele kein Kopftuch.“ | |
Das gilt auch für ihre Cousinen, die jeden Morgen überlegen, was sie | |
anziehen sollen und welches Make-up zu welchem Outfit passt. Das ist ihr so | |
zuwider, dass sie aus der Cousinen-Whatsapp-Gruppe ausgestiegen ist. | |
Palästinatreue? Da gibt es einen abtrünnigen Cousin, der die Seiten | |
gewechselt hat. Er hat eine israelische Palästinenserin geheiratet und ist | |
israelischer Staatsbürger geworden. Ausgerechnet in der zweiten Intifada. | |
Seitdem lebt er in einem arabisch-israelischen Dorf am Mittelmeer zwischen | |
Tel Aviv und Haifa, in friedlicher Nachbarschaft mit einem | |
jüdisch-israelischen Dorf. Da er gleichaltrige Kinder hat, ist die | |
„deutsche“ Cousine dem „israelischen“ Cousin ein stets willkommener Gas… | |
Ihr Bruder war es, der den Kontakt zum „israelischen“ Cousin | |
wiederhergestellt hat, trotz Kholouds Bedenken. | |
Doch dann kommt es anders, als Kholoud befürchtet: Als sie mit der | |
israelischen Verwandtschaft das jüdische Nachbardorf besucht, laufen ihre | |
Distinktionsmarker, Kopftuch und arabische Sprache, ins Leere. „Da sprechen | |
sie Hebräisch und Arabisch durcheinander. Da kannst du nicht mehr | |
unterscheiden, wer Araber und wer Israeli ist.“ | |
Wohin führt es, wenn Sprache und Kopftuch nicht mehr zur Feindmarkierung | |
taugen? Kholoud erzählt vom arabisch-israelischen Bürgermeister, dem | |
angeheirateten Onkel ihres Cousins. Der hat mit seinem jüdischen Kollegen | |
aus dem Nachbardorf eine Brücke gebaut, die die beiden Dörfer | |
symbolträchtig verbindet. Koexistenz und Kooperation in der Praxis. Wie | |
soll sich jemand aus der deutschen Diaspora darin zurechtfinden können? | |
Indem man die Sprache des vermeintlichen Feindes lernt, sagt Kholoud. Und | |
nimmt das Wort vom „Feind“ dann wieder zurück und ersetzt es durch | |
„Gegner“. | |
Zurück in Deutschland besucht sie einen Hebräisch-Kurs an der | |
Volkshochschule. | |
## „Ihr seid hier seit 1948 am Kriegmachen, ihr müsst euch endlich mal | |
einigen!“ | |
Khalil, 42, Gastarbeitersohn aus Berlin, früher stark religiös, heute | |
weniger. Schule geschmissen, Ausbildung abgebrochen, auf die schiefe Bahn | |
geraten, im Gefängnis gelandet. Jetzt hat er einen festen Job im | |
Supermarkt, eine kleine Familie, seine Mutter ist erleichtert. Er hat sich | |
den Strenggläubigen angeschlossen und will nur noch beten, anstatt „Scheiße | |
zu bauen“. Heimlich fliegt er nach Tel Aviv, betet 30 Stunden ohne Pause in | |
der Al-Aksa-Moschee, fährt danach weiter ins Heimatdorf der Familie bei | |
Nablus in den Autonomiegebieten und holt die Verwandtschaft aus den Betten. | |
„Und die haben mich bewundert, ah, krass, der kommt aus Deutschland | |
hierher, wo nur ‚Herumgehure‘ herrscht, und der betet fünfmal am Tag in der | |
Moschee, freitags sogar das erste Frühgebet!“ Daran kann sich Khalil so | |
berauschen, dass er im weißen Turban des Imams posiert. Doch dafür gibt es | |
keine Bewunderung, sondern eine strenge Verwarnung vom Onkel. | |
Und irgendwann, da ist er längst wieder in Deutschland, hört er auf zu | |
beten. „Der Teufel ist stärker als ich“, sagt Khalil und gibt der Arbeit | |
die Schuld: „Wenn ich jeden Tag zehn Stunden arbeite und dann mal für fünf | |
Minuten beten gehe, kommt der Filialleiter und sagt: „Geht’s noch? Du bist | |
hier nicht in der Moschee, du bist hier am Arbeiten.“ | |
Der andere Teufel heißt Sex: „Deutschland ist ein freies Land. Geh mal raus | |
im Sommer, egal wohin du guckst, da läuft eine im Minirock, die Titten | |
kommen raus, du musst überall weggucken. Sich hier an die Religion halten | |
ist schwer.“ | |
Und wie sieht er den Nahostkonflikt? Auch als er bei den Strenggläubigen | |
war, hat er Selbstmordattentate auf Busse abgelehnt: „Da habe ich den | |
Kollegen in Palästina gesagt, wo steht denn im Koran geschrieben, dass man | |
sich selber umbringen muss? Geht doch hin und schießt auf die Armee, wieso | |
schießt ihr in die Busse rein, was haben die denn damit zu tun? Die sagen | |
dann, das ist Gottes Wille. Und ich sage, ja, aber ihr seid hier seit 1948 | |
am Kriegmachen, ihr sagt, das ist unser Land, dabei gehört das Land weder | |
euch noch denen, das Land gehört Gott. Ihr müsst euch endlich mal einigen!“ | |
Und dann erzählt er vom jüdischen Nachbarn, der seiner Schwester geholfen | |
hat, als sie auf dem Bahnsteig von „so einem Besoffenen belästigt“ wurde. | |
„Für uns beide“, meint Khalil, „spielt der Nahostkonflikt eigentlich kei… | |
Rolle mehr, weil wir hier zusammen aufgewachsen sind. Der hat sich dann | |
einen deutschen Pass besorgt, damit er in Israel nicht zum Wehrdienst | |
muss.“ Dann sagt er noch: „Nicht alle Juden sind schlecht.“ Und wer möch… | |
mag sich jetzt welchen Reim auch immer darauf machen. | |
## „Mir ist es verbotenen, ihnen die Hand zu geben“ | |
Abu Nadim, 59, streng religiös, traditionsverbunden, lebt im Westjordanland | |
bei Bethlehem und verdient seit über drei Jahrzehnten sein Geld als Maurer | |
in Israel. Dort hat er seine Frau, eine arabische Israelin, kennengelernt. | |
Sein Vater war anfangs gegen die Ehe, hat dann aber eingewilligt, als sich | |
die Schwiegerfamilie ehevertraglich verpflichtete, ihre Tochter ins | |
Westjordanland ziehen zu lassen. Und wenn der Vater nicht zugestimmt hätte? | |
Dann hätte er sie trotzdem geheiratet und wäre in Israel geblieben. Weil | |
man dort finanziell besser dasteht, mehr Freiheiten und Demokratie hat, | |
weil man „Polizeifahrzeuge höchstens einmal die Woche sieht.“ Und weil er | |
sich mit seinen Schwägern schon vor dem Heiratsantrag sehr gut verstanden | |
hat. | |
Erst neulich war er wieder mit Frau und Kindern auf Verwandtenbesuch in | |
Israel, anlässlich der Kommunalwahlen: Volksfeststimmung im Dorf, | |
Stimmenauszählung beim Wahllokal, Alt und Jung, Frauen und Männer gemischt, | |
man feuert den Kandidaten der eigenen Großfamilie an und neckt die anderen, | |
aber ohne zu streiten. Undenkbar bei uns, sagt Abu Nadim. | |
Seine Tochter ist so begeistert, dass sie am liebsten sofort wieder | |
hinfahren möchte. Doch er verbietet ihr, ohne Mutter oder Bruder zu reisen. | |
Das gibt Ärger mit den Schwägern. „Sie sagen, ich vertraue ihnen nicht. | |
Aber ich erkläre ihnen, es geht nicht um Vertrauen, sondern um unsere | |
Tradition. Was würden meine Brüder wohl sagen, wenn ich meiner Tochter | |
erlauben würde, unbegleitet nach Israel zu fahren?!“ | |
Dann schwelt da noch ein zweiter Konflikt: Abu Nadim verweigert den Frauen | |
seiner Schwäger die Hand zur Begrüßung. „Ich bin religiös“, erklärt er, | |
„und darum ist es mir verboten, ihnen die Hand zu geben. Aber sie sagen, | |
ich bin respektlos.“ Das hindert ihn allerdings nicht daran, seiner Tochter | |
das Studium in Hebron zu erlauben, wo Kontakte zu männlichen Kommilitonen | |
unvermeidlich sind. | |
Und wenn sie jemanden kennenlernt, den sie heiraten möchte? Das ist nicht | |
ihre Entscheidung, sondern das Vorrecht des Vaters. Und wenn sich ein | |
Mädchen verliebt und flüchtet oder entführt wird? Dann werden beide von der | |
Familie des Mädchens getötet. Die Interviewerin gibt zu bedenken, dass | |
viele Eltern nachgeben würden, um einen Skandal zu vermeiden. | |
Das ist vielleicht in Israel so, kontert Abu Nadim, wo die Religion „völlig | |
oberflächlich“ ist. In Israel „sind sie sogar so ‚tolerant‘, dass | |
verheiratete Frauen fremdgehen und wieder nach Hause kommen, als wäre das | |
völlig normal. Und dann wird es auch noch von der Familie vertuscht!“ | |
## „Wieso trägt sie Hidschab, aber ihre Mutter nicht?“ | |
Abu Nabil, 53, säkular, nationalistisch, lebt im Westjordanland und | |
arbeitet als Gelegenheitsarbeiter in einer Beduinenstadt im südlichen | |
Israel. Dort hat er seine Frau gefunden, eine israelische Palästinenserin, | |
und dort sind seine Schwäger bei der Stadtverwaltung beschäftigt: „Sie sind | |
meine Brüder, Helfer und Fürsprecher!“ Die Beziehungen wurden noch enger, | |
als er einem ihrer Söhne die eigene Tochter zur Frau gab. | |
Was ihn stört: „Sie sind religiöser als wir.“ Was ihn empört: Die Leute | |
hängen israelische Flaggen in ihre Fenster und man sieht junge Männer in | |
israelischen Militäruniformen auf offener Straße. Und was meinen seine | |
Schwäger dazu? Anstatt zu antworten, bekräftigt er seinen eigenen | |
Standpunkt: „Ich bin Patriot, ich lehne es ab, den Juden im Namen von | |
Frieden und Koexistenz unser Land zu überlassen.“ | |
Umso stolzer ist er auf seine Tochter, die als Schülerin gemeinsam mit | |
jungen Männern gegen die israelische Besatzung demonstrierte: „Bestimmt | |
hast du das Video von ihrer Festnahme gesehen.“ Ihm ist klar, auf welch | |
schmalem Grat die Tochter zwischen patriotischem Ruhm und sexueller Schande | |
balancierte. | |
Doch der Dorfklatsch ist ihm egal, beteuert er. Er ist dafür, dass junge | |
Frauen gleichberechtigt am Kampf gegen die israelische Besatzung teilnehmen | |
dürfen. Und er ist für gendergemischte Ausflüge der lokalen Jugendgruppe. | |
Aber er verbietet seinen Kindern die Teilnahme an arabisch-jüdischen | |
Friedenstreffen, die unter dem Vorwand gendergemischter Ausflüge | |
veranstaltet werden. | |
Die Geschlechtertrennung in der Beduinenstadt? Die ist ihm zu streng: Im | |
Bus sitzen Frauen vorn und Männer hinten, Händeschütteln ist verboten („was | |
bei uns erlaubt ist, solange die Absichten gut und ehrlich sind“), und es | |
gibt Blickverbote: „Da sitze ich mit meinen Schwägern im Café, und eine | |
hübsche Frau geht vorbei. Sag ich: ‚Sieht die nicht toll aus?‘ Da fangen | |
die beiden an zu lachen: ‚Mann oh Mann, willst du etwa, dass wir Ärger | |
kriegen? Wenn jemand das mitbekommt, geht der sofort auf dich los.‘“ | |
Besonders schlimm findet Abu Nabil, dass seine Tochter in der | |
Verlobungszeit, also bevor sie nach Israel zog, von ihrem künftigen Ehemann | |
genötigt wurde, sich zu verhüllen. Im Dorf sagen die Leute, „wieso trägt | |
sie Hidschab, aber ihre Mutter nicht?“ | |
„Wenn sie überzeugt ist“, sagt Abu Nabil, „kann sie es machen. Aber wenn | |
nicht, darf niemand sie zwingen.“ Und so steckt er in der Zwickmühle: Gibt | |
er dem Drängen der Schwäger nach, sagen die Traditionalisten, er sei nicht | |
Manns genug, um sein „patrilokales“ Vorrecht als Haushaltsvorstand | |
durchzusetzen. Weigert er sich, sagen die Religiösen, er verstoße gegen | |
islamisches Recht. | |
## „Keinen Tag respektlos behandelt“ | |
Umm Samir, 54, in Gaza geborene Flüchtlingstochter, früher sehr religiös, | |
heute weniger, lebt mit Mann und Kindern in einer arabisch-israelischen | |
Kleinstadt in Galiläa. Sie ist stolz, Araberin zu sein, sieht sich jedoch | |
auch als Israelin. Weil sie hier zu Hause ist. Weil sie viele jüdische | |
Freunde hat. Weil sie, als sie sich im Kinderkrankenhaus verlaufen hatte | |
und noch kein Hebräisch sprach, von einer Jüdin an die Hand genommen wurde. | |
„Seit ich hier bin, habe ich keinen Tag erlebt, an dem ich respektlos | |
behandelt wurde“, sagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Gleichwohl hat | |
sie Jahr um Jahr versäumt, ihre Einbürgerung und damit einen Reisepass zu | |
beantragen. Das ist jetzt sowieso egal, weil das Geld zum Verreisen fehlt. | |
Aber zum Leben ist es genug. | |
Zuletzt war sie vor sechs Jahren [2][in Gaza]. Und bricht in Tränen aus, | |
als sie das sagt. Trennung, Krieg, Repression: Drei Brüder emigrieren | |
(Algerien, Kanada, Dubai), ein Cousin wird von israelischen Raketen | |
getötet, die Eltern sterben, doch sie bekommt keine Reiseerlaubnis für die | |
Beerdigung. | |
Als ihre Lieblingscousine sich heimlich verliebt, weiß es das ganze | |
Viertel. Du hast unsere Ehre beschmutzt, schreit der Bruder, schneidet ihr | |
den Kopf kahl und die Füße blutig, zwangsverheiratet sie nach | |
Saudi-Arabien. Da, Umm Samir lebt längst in Israel, ergreift die Hamas die | |
Macht. „Sie spannten Spruchbänder über die Straßen: ‚Verhüllt euch, | |
verhüllt euch! Weh denen, die sich unverhüllt zeigen! Ihre Gesichter will | |
ich mit tausend Feuern verbrennen!‘ Und meine Schwestern wurden religiös | |
vor Angst.“ | |
Dabei ist Samir, als sie nach Israel umzieht, ebenfalls „aus Angst“ | |
religiös geworden. Aber aus Angst vor der israelischen Fremde. Ihre Töchter | |
dagegen sind ohne Kopftuch aufgewachsen. Sie dürfen ihre Ehepartner selbst | |
auswählen. Doch als eine der Töchter einen jungen Mann aus der | |
Nachbarschaft heiraten möchte, legt ihr Bruder, Umm Samirs ältester Sohn, | |
sein Veto ein. Das junge Paar bleibt standhaft, Gewalt liegt in der Luft. | |
Der Konflikt wird beigelegt, als ein naher Verwandter ohne Wissen des | |
Bruders einen renommierten Schlichter um Hilfe bittet. Danach gibt der | |
Bruder seinen Widerstand auf. Er wurde sogar von seinem ehemaligen | |
jüdischen Lehrer zur Hochzeit von dessen Sohn eingeladen, sagt die Mutter. | |
Obwohl im Jahr zuvor Schlimmes passiert war: „Der jüdische Bräutigam war | |
mit einer israelischen Soldatin im Auto in der Westbank unterwegs und hatte | |
sich verfahren. Sie wurden von Palästinensern blutig geschlagen und ihre | |
Bilder wurden ins Netz gestellt. Und trotzdem wurde mein Sohn auf der | |
Hochzeit so respektvoll empfangen, wie es sich gehört.“ Auch deshalb fühlt | |
sich Umm Samir zu Israel gehörig. | |
## „Ich kann ihm ja keine Braut aussuchen so wie früher“ | |
Auch Umm Waleed, 56, Flüchtlingstochter aus Dschenin, kommt nach Israel | |
(Nazareth) durch Einheirat. Nach dem Tod der Eltern wird sie von ihren | |
Brüdern für Geld, was nach islamischem Recht der Braut zustehen sollte, an | |
einen palästinensisch-israelischen Geschäftsmann als Zweitfrau „verkauft“. | |
In Israel ist sie der Willkür des Ehemannes ausgeliefert. Gerettet wird sie | |
von der Tochter der Erstfrau. Die hilft ihr, in Israel heimisch zu werden. | |
Was Umm Waleed in Israel wohltut, ist die Erfahrung, dass das „Gerede der | |
Leute“, unter dem sie früher so sehr gelitten hatte, im israelischen Umfeld | |
weitgehend wirkungslos bleibt. | |
Was ihr dagegen missfällt, ist die Erfahrung, dass „hier alles erlaubt“ | |
ist. Und sie erzählt von ihrem Sohn, der ein Womanizer ist wie sein Vater. | |
„Er hat mir immer seine Freundinnen vorgestellt. Es gab eine, die hat er | |
wirklich geliebt, ich bin mit ihr und ihrer Mutter ausgegangen. Sie liebt | |
ihn immer noch, aber er hat die Beziehung beendet. Ich kann ihm ja keine | |
Braut aussuchen so wie früher.“ | |
Wie bei den Juden? Nicht genauso, ergänzt die Tochter der Erstfrau, die das | |
Interview vermittelt hat. Die palästinensischen Jugendlichen in Israel tun | |
zwar dasselbe wie die jüdischen, sagt sie, aber sie tun es heimlich. | |
„Drinnen hören sie von ihren Eltern: verboten, verboten, verboten, Schande, | |
Schande, Schande. Aber draußen ist gar nichts verboten. Aber es gibt kein | |
Zurück. Ich lebe hier, ich bin Israelin.“ | |
Ich auch, sagt Umm Waleed. Und erzählt, wie sie ihren Nichten jenseits der | |
„grünen Linie“ beisteht. Sie hat da noch eine Rechnung mit ihren Brüdern | |
offen. | |
4 Sep 2024 | |
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Thomas Malsch | |
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