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# taz.de -- Demokratische Grundrechte: Das gute Recht auf Meinung
> Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert das Recht auf Meinungsfreiheit.
> Und er besagt eben auch, diese Meinung dann äußern zu dürfen.
Bild: Hier, bitte: der Artikel 5 im Originalbuch des Grundgesetzes
Die Gedanken sind frei“ – dieses über 200 Jahre alte Volkslied gehört seit
mittlerweile immerhin auch mehr als einem halben Jahrhundert zu meinem
Liedgut, weil es zu den Liedern gehörte, die mein Vater beim Rasieren sang.
„Morgenroutine“ nennt man das wohl heute. Ganz textsicher bin ich dabei
nicht, denn die Verständlichkeit der Worte hing ab von den Stellen, die
gerade rasiert wurden.
Trotzdem habe ich so oft schon morgens vor der Schule viel über deutsche
Geschichte gelernt, denn die „Internationale“ gehörte ebenso zum Repertoire
meines Vaters wie anderes sozialistisches Liedgut, das mein Vater wiederum
von seinem Vater gelernt hatte, der Bergmann im Ruhrgebiet war und
Kommunist. Aber auch die ersten zwei Zeilen des nationalsozialistischen
„Horst-Wessel-Lieds“ habe ich dabei gelernt, das Vaters Kindheits-Playlist
ihm manchmal einspielte, was ihm dann stets am Anfang der dritten Zeile
auffiel und furchtbar erschreckte – weshalb es nie über den Anfang
hinauskam.
Das aber führte dazu, dass er mich dann beim Frühstück über die Schrecken
der Naziherrschaft und die Konsequenzen des „Herrenmenschen“-Denkens
aufklärte. Ich kann deshalb mit Sicherheit sagen, dass es sich zwar in dem
Moment, in dem das Lied gesungen wurde, um eine Äußerung meines Vaters
handelte, jedoch nicht um eine Meinungsäußerung. Dass der 1935 Geborene das
Lied als Kind gelernt hatte, überrascht mich weniger, als dass es meinem
Opa gelungen war, dem Jungen auch all diese sozialistischen Lieder
beizubringen. Mein Vater selbst war ein stabiler Antifaschist. Mit 17
Jahren ging er deshalb zur Polizei, aus dem Wunsch heraus,
[1][demokratische Grundrechte] wie die Versammlungsfreiheit und das Recht
auf freie Meinungsäußerung zu schützen.
Zu meiner Morgenroutine gehört derzeit, dass ich auf dem Weg zur Arbeit an
Plakaten vorbeimuss, die mich erschrecken. Darauf wird eine Frau mit der
Aussage zitiert, es gebe „ein Recht auf freie Meinung. Aber keines auf
Hass.“ Ich denke jedes Mal: What the fuck ist hier los, was soll mir denn
hier vermittelt werden?
Denn diese Äußerung ist gefährlich falsch verkürzt: Selbstverständlich habe
ich ein Recht auf Meinung; das muss mir auch kein Gesetz gewähren, denn die
Gedanken sind frei! Deshalb habe ich natürlich auch das Recht, zu hassen:
Oh, ich darf so abgrundtief hassen, wen und wie ich nur will! Auch wenn
Artikel 5 des Grundgesetzes oft als „Recht auf Meinungsfreiheit“
zusammengefasst wird, ist das Recht, das mir die Verfassung gewährt, die
mein Vater schützen wollte, ja nicht bloß das „Recht auf Meinung“.
Es geht darin um etwas gesellschaftlich und politisch viel Wichtigeres als
das, was ich so an schönen und schäbigen Ideen in meinem Kopf herumtrage:
nämlich um das Recht auf freie Meinungsäußerung – also darum, das, was in
meinem Kopf drin ist, laut auszusprechen. Und dieses Recht schränkt der
Gesetzgeber dann auch gleich wieder ein: Zwar darf ich meine Meinung frei
sagen, aber nur, wenn ich mich dabei an geltende Gesetze halte und
niemanden bedrohe oder herabsetze oder zu Hass und Gewalt aufrufe.
Gesetze regeln, wie wir miteinander umgehen – das ist, zumal in einer
Demokratie, doch wohl auch ihr Sinn. Damit beschränken sie auch persönliche
Freiheit. Bestraft werden können aber nur Äußerungen oder Taten. Was
Menschen denken, ist ganz allein ihr Ding. Mehr kann ein demokratischer
Staat ja nicht regeln und darf es auch gar nicht versuchen.
Die Frau auf dem Plakat ist eine Journalistin, die gegen Hass im Netz
kämpft; das Plakat stammt von einem großen Medienkonzern. Beide sollten es
besser und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu schätzen wissen. Es ist
wohl so: Wir sollten uns alle ab und an Gedanken darüber machen, wie wir
unsere Ideen und Meinungen, eventuell sogar unseren Hass, anderen gegenüber
in Worte fassen – wie wir also mit anderen in Gespräch kommen wollen. Denn
das ist doch die Grundlage jeder Demokratie, oder nicht?
2 Sep 2024
## LINKS
[1] /75-Jahre-Grundgesetz/!6009175
## AUTOREN
Alke Wierth
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Hass
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