# taz.de -- Landtagswahlen in Ostdeutschland: Wir müssen reden | |
> Die Autorenvereinigung PEN Berlin will in den Ostdeutschland über | |
> Meinungsfreiheit diskutieren. Ein Besuch in Dresden und Wurzen. | |
Bild: Partizipation erwünscht: die PEN Berlin-Veranstaltung am 19. August in D… | |
Dresden/Wurzen taz | Man hat sich viel vorgenommen bei PEN Berlin. Kurz vor | |
den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg fährt die | |
Schriftstellervereinigung mit allerlei großen Namen im Gepäck [1][in die | |
„problematischen“ Bundesländer], in den Osten – dorthin, wo demnächst | |
gewählt wird. Und ausnahmsweise nicht in die großen Städte, sondern nach | |
Döbeln, Wurzen, Annaberg-Buchholz, Pirna, Bautzen, um nur einige Orte zu | |
nennen. Leipzig, die linke Hochburg, hat man bewusst ausgespart. | |
In den 37 Veranstaltungen dreht sich alles um das Thema Meinungsfreiheit. | |
Über Meinungsfreiheit diskutieren, diese hochhalten, ein wenig auch | |
zelebrieren, so scheint der Anspruch zu sein. Die Überschrift: „Das wird | |
man ja wohl noch sagen dürfen.“ So hat man das schon gehört, so schnell | |
murmelt es wohl jemand aus Sachsen in sich hinein, nachdem er etwas gesagt | |
hat, was vor Jahren noch unsagbar schien. | |
Der Spruch war eine Überschrift der Bild aus den Nullerjahren, damals eher | |
als höhnischer Ordnungsruf gegenüber denen genutzt, die an der | |
Sagbarmachung des Unsagbaren mitgewirkt haben. Und irgendwie auch ein Satz, | |
den man den rechten und nicht selten ostdeutschen Wutbürgern sarkastisch | |
entgegengeschleudert hat. | |
Die Reihe will mit Menschen ins Gespräch kommen, nicht ihre Parteipräferenz | |
kurz vor der anstehenden Landtagswahl ändern, so Deniz Yücel, Sprecher und | |
Mitorganisator. Jede Veranstaltung beginnt mit Aron Boks, selbst Autor | |
[2][(auch für die taz)] und PEN-Berlin-Mitglied, der dem Publikum mal mehr, | |
mal weniger provokante Fragen mit Bitte um Handzeichen stellt, die | |
nachspüren lassen, wer neben einem sitzt. | |
Es zeigt sich: Vieles, wozu man sich hier positioniert, spaltet weniger, | |
als dass es vereint. Ostdeutsche Identität eben. Es zeigt sich ebenfalls: | |
mehr „Ossis“ als „Wessis“ im Raum, zumindest bei den Veranstaltungen in | |
Wurzen und Dresden. Weitere Fragen lauten: „Wer findet, dass der Osten viel | |
zu mies gemacht wird?“, „Wer findet, dass der Osten noch viel schlimmer | |
ist, als die Wessis denken?“, „Finden Sie Badebekleidung grundsätzlich | |
überflüssig?“, „Sagen Sie noch Kaufhalle oder Konsum?“. Und in Dresden: | |
„Lesen Sie Compact?“ Nur einer meldet sich. Und: „Waren Sie einmal bei | |
einer Pegida-Demo?“ Es gibt vereinzelte Meldungen im Saal. | |
## In diesem Osten | |
Nach einigen Fragen durchdringen bei den Veranstaltungen Lacher den Raum, | |
als suggerierten sie: Irgendwas hat man in diesem Osten schon gemeinsam. Im | |
Zentrum der Veranstaltungsreihe: nicht so sehr die Diskutanten auf dem | |
Podium, sondern das Publikum selbst. Partizipation ist ausdrücklich | |
erwünscht, aber bitte nicht länger als zwei Minuten sprechen, und das Mikro | |
bleibt bitte fest in den Händen von Aron Boks, heißt es. | |
Montag, der 12. August, in Wurzen: In der Kleinstadt in Sachsen nordöstlich | |
von Leipzig sitzt man im Ringelnatzhaus dicht gedrängt. Anfangs durchfährt | |
ein Raunen, als die Schriftstellerin Charlotte Gneuß („Gittersee“) und die | |
Journalistin Sabine Rennefanz zunächst über Ost-Erfahrungen und Identität | |
sprechen. Das habe man doch selbst erlebt. | |
Die Frage fällt, was das mit Meinungsfreiheit zu tun habe. Dabei ist dies | |
kein unlogischer Schritt: Unterdrückte Meinungsfreiheit ist nun einmal | |
etwas, das DDR-Geborene wie die Eltern von Charlotte Gneuß betroffen hat. | |
Und so ist es nicht verwunderlich, dass eine der Wortmeldungen an diesem | |
Abend lautet, man würde nie in eine Partei eintreten, weil Partei früher | |
SED hieß und mit freier Meinungsäußerung wenig zu tun hatte. | |
Besonders in Erinnerung bleibt die Wortmeldung von Viola Heß, Vorsitzende | |
des Joachim-Ringelnatz-Vereins, die über die Nachwendezeit und ihre | |
Tätigkeit als Lokaljournalistin berichtet und erklärt, wie das Wegbrechen | |
lokaler Medien zur Verengung von Diskursräumen beitrug. Sie erzählt auch, | |
welchen Stellenwert Räume wie das Ringelnatzhaus, das sie leitet, haben. | |
Das ist es auch, was Yücel und PEN Berlin hier wollen: Kulturräumen im | |
ländlichen Raum eine Stimme verleihen. | |
Eine Woche später, Montag, der 19. August, in Dresden: Im Hygienemuseum | |
gibt es viel Andrang. Yücel ist auch hier wieder mit dabei. Es ist die | |
letzte Veranstaltung der Reihe in Sachsen, bevor sie nach Thüringen und | |
Brandenburg kommt. Wie an allen anderen Veranstaltungsorten: auch hier | |
viele weiße Häupter, aber durchaus diverser als in Wurzen. Man kann nicht | |
sagen, dass PEN Berlin ausgerechnet die jüngeren Wähler oder Erstwähler | |
angezogen hat. | |
## Diskurs außerhalb des Internets | |
Auf dem Podium sitzt Paula Irmschler, Schriftstellerin und Satirikerin, in | |
Dresden geboren, heute in Köln lebend. Auf die Frage, ob in Deutschland | |
Meinungsfreiheit herrscht, antwortet Irmschler mit Ja. Aber auch das kennt | |
ein Aber: Ihre Sorge gilt dem Weiterbestand von Debattenräumen außerhalb | |
des Internets. Was an diesem Abend dennoch mitschwingen wird: Wer | |
Meinungsfreiheit meint, meint oft das, was auf Social Media geäußert wird | |
oder vielmehr geäußert werden darf. | |
Fragt man Yücel, wen er gerne noch auf dem Podium gehabt hätte – immerhin | |
waren streitbare Persönlichkeiten wie Dieter Nuhr oder Uwe Tellkamp | |
angefragt –, wiegelt Yücel ab. Man sei mehr als zufrieden mit denen, die | |
gekommen sind. | |
Mit Irmschler auf dem Podium: die Historikerin Katja Hoyer. Auch sie | |
beschäftigt sich mit der DDR, insbesondere mit ihrer jüngeren Geschichte. | |
In „Diesseits der Mauer“ erzählt sie die Geschichte der DDR neu – ohne | |
Nostalgie und ohne den ständigen Vergleich mit dem Westen. Es geht ihr um | |
die Sicht der Menschen, die den deutschen Sozialismus selbst erlebt haben. | |
Auf die Frage, ob es in Deutschland Meinungsfreiheit gebe, antwortet sie | |
ebenfalls mit einem „Ja, aber“. | |
Plastisch wird dies am ehesten, als sie über die Interviewversuche für | |
ihr Buch berichtet, über die Scheu der Interviewten, über ihre | |
Erfahrungen in der DDR zu sprechen. Ihr Gefühl ist: Sie müssten „immer | |
gleich ein Gelöbnis auf die Bundesrepublik“ ablegen. Und darum geht es | |
vielen auch, die in Wurzen und den anderen Städten die Veranstaltungen des | |
PEN Berlin besucht haben: Sie wollen wahrgenommen werden. | |
## Es fehle eine Diskussionskultur | |
Der Gesprächsbedarf ist auch in Dresden groß. Als Moderatorin Lydia Jakobi | |
die Ergebnisse der Allensbach-Studie 2021 anspricht, wonach nur noch 65 | |
Prozent der Befragten glaubten, dass man seine Meinung in Deutschland frei | |
sagen könne, sieht man nickende Köpfe. Es sei nicht so sehr die | |
Beschränkung der Meinungsfreiheit, die bedenklich sei, so Jakobi, vielmehr | |
fehle eine Diskussionskultur. | |
Einer der Zuschauer, laut Handmeldung Compact-Leser, sieht die | |
Meinungsfreiheit in Deutschland deutlich bedroht. Grundlage für diese | |
Annahme sind die 750 Anzeigen wegen sogenannter Hassnachrichten, die das | |
Habeck-Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und sein Abgeordnetenbüro | |
gestellt hätten. Der Redebeitrag erntet Widerspruch. | |
Es entspinnt sich eine Debatte über die Grenzen des Sagbaren. Dennoch: Am | |
Ende scheint das Publikum sich selbst mit einer Teilnehmerin der Dresdner | |
Corona-Spaziergänge darauf einigen zu können, dass es mehr Zuhören im | |
Diskurs brauche. Über die Ausformung ist man sich jedoch uneinig. Die | |
Grenze sei, so die Ansicht vieler, die sich zu Wort melden, da, wo Menschen | |
das Recht auf Existenz abgesprochen wird. | |
Am Ende des Abends in Dresden fällt das Urteil vieler Anwesenden positiv. | |
Fragt man diejenigen vor der Tür, wie sie die Veranstaltung fanden, sagen | |
viele: „gut“, „wichtig, vor allem vor der Wahl“. Eine Frau, vielleicht | |
Mitte 50, sagt: „Es täte gut zu sehen, dass man noch miteinander reden | |
kann, dass man irgendwie den anderen auch ähnlich ist in den schwierigen | |
Zeiten.“ | |
Genau darum geht es bei der Reihe von PEN Berlin: um den Versuch, mit | |
Menschen ins Gespräch zu kommen. Und auch darum, dass Meinungsfreiheit | |
nicht die Abwesenheit von Widerspruch bedeutet. Nach Dresden wird es für | |
Yücel und PEN Berlin weiter nach Sonneberg in Thüringen gehen. Weiter | |
reden, weiter zuhören. | |
22 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jessica Ramczik | |
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