# taz.de -- Jugendliche in Thüringen: Wir Kinder der Stadt Nordhausen | |
> Bei einem Filmprojekt in Thüringen bestimmen Jugendliche Themen und | |
> Szenen. Das zeigt nicht nur die Stärken kultureller Jugendbildung. | |
Bild: Die verlassene Fabrik, in der das Filmprojekt stattfindet, steht synonym … | |
Nordhausen taz | Anfangs scheint der Tanz in der alten Fabrikhalle | |
harmonisch. Auf dem ölverschmierten Boden wiegen sich zwei Mädchen [1][zu | |
den Klängen von „Schwanensee“]. Zwei taktvolle Schritte, ein Griff nach der | |
Hand, innig herangezogen und ein abrupter Stoß. Die klassische Musik | |
steigert sich. Noch ein Stoß, dann ein Schlag, ein Mädchen geht zu Boden. | |
Mit stolpernden Schritten richtet sie sich auf, fällt erneut und bleibt | |
liegen, während Schwanensee allmählich verstummt. Dieses Mal siegt der Tod | |
über die Liebe. | |
Die Kamera fährt noch einmal dicht auf das Mädchen am Boden zu, hält auf | |
ihr Gesicht. In der Fabrik riecht es metallisch und chemisch. Massive | |
Betonsäulen tragen das Wellblechdach. Wasser tropft wie leichter Regen in | |
eine Pfütze. Dann steht die 14-jährige Lee auf, läuft lächelnd zurück zur | |
applaudierenden Film-Crew und versucht sich dabei den Dreck vom rechten | |
Ärmel zu klopfen. Szene geschafft, auf zur nächsten. | |
Die leere Fabrik dient an diesem Montag kurz vor den Sommerferien in | |
Thüringen einem knappen Dutzend Jugendlicher im Alter von 13 bis 15 Jahren | |
als Filmkulisse. Sie arbeiten gemeinsam mit zwei Kamerafrauen, einem | |
Tonassistenten, einem Dramaturgen, einer Visagistin, einer Kostümbildnerin | |
und einer Regisseurin an einem Filmprojekt. Die Idee: In selbstgestalteten | |
Szenen zeigen die Jugendlichen, welche Themen sie bewegen, beschäftigen. | |
In dem Tanz zu Schwanensee verarbeitet Lee zum Beispiel die Themen Liebe | |
und Zusammenbruch, wie sie etwas später erklärt: „Man denkt, man hat die | |
wahre Liebe gefunden – bis einen der Partner betrügt. Oder umbringt, wie in | |
meiner Szene. Ich spiele da eine Frau, die von ihrem Mann an dem Tag | |
ermordet wurde, an dem sie eigentlich heiraten sollten.“ | |
## Eine zurückhaltende Regisseurin | |
Als Regisseurin leitet Christina Friedrich das Projekt. Sie ist selbst in | |
Nordhausen geboren und aufgewachsen und arbeitete schon in Japan, Marokko, | |
der Schweiz und Israel. Mit den Jugendlichen in Nordhausen hat sie bereits | |
bei zwei weiteren Filmen gearbeitet. Aber dass die dieses Mal maßgeblich | |
selbst die Szenen kreieren, ist neu. Beim Dreh beobachtet Friedrich eher, | |
gibt kaum Anweisungen. Höchstens den Kamerafrauen sagt sie: „Noch näher | |
ran.“ Ist die Kamera aus, regt sie bei den Jugendlichen an, wie sie sich | |
bewegen könnten oder besser ins Licht treten. | |
Dass Kinder und Jugendliche abseits von Fernsehen und Netflix mit | |
Schauspielerei in Berührung kommen, ist selten. In der letzten Thüringer | |
Kinder- und Jugendbefragung besuchen drei Viertel der Befragten selten oder | |
nie kulturelle Veranstaltungen wie das Theater – geschweige denn, dass sie | |
selbst auf die Bühne traten. So haben sie wenig Möglichkeiten, in andere | |
Rollen zu schlüpfen oder andere Perspektiven einzunehmen. In Kommunen gilt | |
die Förderung für kulturelle Bildungsangebote dann oft als streichbar – | |
obwohl sie zum [2][gegenseitigen Verständnis und damit zum | |
gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt]. | |
An diesem Montagnachmittag in der Fabrik kurz vor den Sommerferien ist es | |
erst halb fünf Uhr, doch durch die dunklen Wolken ist es düster. Hier ist | |
die Zeit stehen geblieben: Auf allen Fabrikuhren ist es immer kurz nach | |
acht. Von 1991 bis Ende 2020 fertigte der US-Konzern Eaton hier in | |
Nordhausen Ventile für die Automobilindustrie. Dann schloss die Fabrik in | |
der Pandemie, weil Konkurrenz in Asien die Produkte zu geringeren Preisen | |
anbieten konnte. Die leere Industriehalle kaufte der Nordhäuser Unternehmer | |
Axel Heck. | |
Da Heck die Arbeit von Christina Friedrich inhaltlich gut findet, dürfen | |
sie in der Fabrik filmen. „Das ist nicht selbstverständlich“, betont | |
Friedrich. Für sie ist die leere Brache dabei mehr als alte Mauern mit | |
dickem Wellblechdach. Sie sei ein Trauerort, „der synonym für ganz viele | |
Orte der Stadt steht, in denen etwas nicht mehr existiert. Viele | |
geschlossene Kombinate, also ehemalige Fabriken, das geschlossene Freibad.“ | |
Und es sei ein Ort, an dem die Jugendlichen mit der Biografie ihrer Eltern | |
in Berührung treten. | |
## Bevölkerungsrückgang seit der Wende | |
Fast vier Jahre steht die Arbeit im Eaton-Werk still. Nicht irgendwo am | |
Stadtrand, sondern kaum zehn Minuten zu Fuß vom Bahnhof entfernt. Die | |
überraschende Schließung erinnert unweigerlich an die Zeit nach der Wende. | |
Auch Nordhausen blieb bei der Wiedervereinigung nicht vom Plattmachen der | |
Betriebe und den damit einhergehenden Jobverlusten verschont. Seit 1990 | |
geht die Einwohner:innenzahl kontinuierlich zurück. Heute leben etwa | |
41.000 Menschen in der Stadt. | |
Auf einem gefederten Fahrrad rollt Josephine über den ebenen Boden der | |
Fabrikhalle. Unter dem Dach zwitschert ein aufgeregter Vogel. Ihr Ziehvater | |
hat bis zum letzten Tag in der Fabrik gearbeitet, erzählt die 13-Jährige. | |
Mittlerweile arbeitet er im Sicherheitsdienst. „Ich will später mal in die | |
Veranstaltungstechnik gehen. Da hilft mir die Erfahrung hier auch“, sagt | |
sie über den Dreh. Ihre Anliegen im Film sind Selbstverletzung und | |
Verschmelzung. | |
Wie kommen die Jugendlichen eigentlich auf die Themen? „Abgesprochen hat | |
sich keiner“, sagt Josephine. Es gehe eben um die eigenen Emotionen, das, | |
was einen bewege. „Wir zeigen anderen Jugendlichen, die das Gleiche | |
durchmachen, dass es normal ist“, sagt sie. | |
Ihr Kollege Lukas ist schon im Kostüm, trägt einen schwarzen Ledermantel | |
und eine weiße Hemdkrause, wie sie im 17. Jahrhundert beliebt war. Er | |
ergänzt: „Es gibt viele Jugendliche, die ihre Probleme für sich behalten | |
und nicht darüber sprechen. Der Film soll einen Anreiz geben, zu sagen: | |
‚Das ist normal, ich kann darüber reden und werde nicht ausgelacht oder | |
gemobbt.‘“ Seine Themen im Film sind Glaube und Freude. | |
## Träume von Actionfilmen | |
Beim Dreh hofft die Tänzerin Lee etwas für ihre berufliche Zukunft | |
mitzunehmen. „Theater, Filmen, Schauspielern, das interessiert mich, und | |
vielleicht möchte ich das mal versuchen, wenn ich erwachsen bin.“ Sie | |
träumt von größeren Projekten, auch von Actionfilmen. Lee wurde in | |
Nordhausen geboren, aber zum Studieren, da träumt sie vom Ausland, etwa | |
England. Die Chancen auf eine große Zukunft in der kleinen Stadt seien | |
gering. | |
Zu Christina Friedrichs Zeit in Nordhausen an der Schule „Wladimir Iljitsch | |
Lenin“, die mittlerweile abgerissen wurde, lernte sie Akkordeon zu spielen. | |
Damals sei das üblich gewesen. „Es gab monatliche Theaterbesuche, die | |
kostenlos waren.“ Heute sehe das anders aus. „Es gibt da kein durchgehend | |
nutzbares Angebot für Kinder und Jugendliche.“ In Nordhausen noch weniger | |
als in westdeutschen Städten. | |
Wenig kulturelle Angebote für Kinder und Jugendliche in Nordhausen? Martina | |
Degenhart widerspricht da – zumindest teilweise. Auch sie ist in Nordhausen | |
aufgewachsen und leitet seit 2009 die Jugendkunstschule. „Wir haben in der | |
Stadt ein verhältnismäßig großes Angebot an Kinder- und Jugendarbeit im | |
kulturellen Bereich“, sagt sie. Damit meine sie etwa den Kinderzirkus | |
Zappelini, das Junge Theater oder eben die von ihr geleitete | |
Jugendkunstschule selbst. | |
Aber ja, räumt sie ein, das Angebot erreiche nicht alle. Wen nicht? Um das | |
zu verstehen, muss man wissen, Nordhausen lässt sich in die Oberstadt und | |
in die Unterstadt aufteilen. Die unterscheiden sich, zugespitzt gesagt, so: | |
In der Oberstadt stehen die Villen, in der Unterstadt stehen die | |
Plattenbauten. Und dort, das stimme, sei wirklich keins der Angebote direkt | |
vor der Tür. | |
## Nicht für alle zugänglich | |
Zudem, erklärt Degenhart behutsam weiter, motivierten vor allem Eltern ihre | |
Kinder, Zeichnen oder Schauspielern in den Kursen zu lernen. Wie in anderen | |
Bildungsbereichen gilt auch bei der Kultur: Die soziale Herkunft | |
beeinflusst maßgeblich, wo es für Kinder langgeht. In der Unterstadt leben | |
mehr Kinder in finanziell schwierigen Verhältnissen, so erzählt es | |
Degenhart. | |
Doch trotz Gebühren braucht es finanzielle Förderung von der Kommune. „Da | |
wäre ein bisschen mehr Planungssicherheit gut. Wenn die Haushalte eng | |
werden oder der Stadtrat auf andere Bereiche mehr Wert legt, dann sind wir | |
sehr schnell von Kürzungen bedroht.“ Wie das in Zukunft aussieht? | |
Ende der Woche [3][wählt Thüringen einen neuen Landtag]. Schon bei der | |
Kommunalwahl Ende Mai bekam die AfD in Nordhausen 35 Prozent der Stimmen | |
für den Stadtrat. Auch Martina Degenhart sitzt im Stadtrat, allerdings für | |
die Linke. Sie sei besorgt, ob die Kulturvereine noch weiter gefördert | |
werden. | |
Die Jugendkunstschule unterstützt das Filmprojekt der Jugendlichen mit | |
Christina Friedrich finanziell und bei der Organisation. Die Regisseurin | |
kenne sie schon eine Weile, erzählt Degenhart. „Wir sind sehr froh, das mit | |
ihr machen zu können.“ Friedrich befähige die Jugendlichen, ihre Ideen | |
auszudrücken und „bündelt das dann zu einem einzigartigen Werk“. | |
In der Fabrikhalle schaut Christina Friedrich über die Schulter ihrer | |
Kamerafrau. Es ist dunkel, nur ein schwacher Lichtschein fällt von | |
irgendwoher auf die am Boden sitzende Josephine. Sie hat das linke Bein | |
angewinkelt, über Arme und Beine läuft rote Flüssigkeit. Die Finger zu | |
Krallen gekrümmt, fährt sie darüber, als würde sie sich kratzen. Ganz | |
dicht, direkt vor ihr, schwebt die Kamera. Selbstverletzung, auch das ist | |
ein Thema, das Kinder und Jugendliche bewegt. | |
27 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
David Muschenich | |
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