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# taz.de -- Gespräche über Meinungsfreiheit: Ja, aber…
> Die Schriftstellervereinigung PEN Berlin tourt mit einer Gesprächsreihe
> durch Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Es wurde hitzig diskutiert.
Bild: PEN Berlin ist mit der Gesprächsreihe „Das wird man ja wohl noch sagen…
Generell haben alle Menschen hierzulande das Recht, ihre Meinung in Wort,
Schrift und Bild frei zu äußern. Deutschland belegt in der weltweiten
Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen den zehnten Platz.
Das deutsche Staatsoberhaupt kann ohne Konsequenzen öffentlich kritisiert
werden, das Internet erlaubt es, alle möglichen Meinungen in die Welt zu
tragen. Und doch sehen immer mehr Menschen in Deutschland die
Meinungsfreiheit bedroht. Warum ist das so?
Dieser Frage widmet sich aktuell die Gesprächsreihe „Das wird man ja wohl
noch sagen dürfen“ des PEN Berlins. In 37 Podiumsdiskussionen wird über
Demokratie und Meinungsfreiheit gesprochen; nicht in Berlin, Hamburg oder
München, sondern in meist kleineren Städten in Sachsen, Thüringen und
Brandenburg – jenen Bundesländern also, in denen im September ein neuer
Landtag gewählt wird. Seit Anfang August tourt der PEN Berlin, der sich
2022 im Streit vom PEN-Zentrum Deutschland abspaltete, durch Sachsen.
An einem heißen Sommerabend in Wurzen strömen immer mehr Menschen in den
Vortragsraum des Joachim-Ringelnatz-Geburtshauses. Die Bestuhlung reicht
nicht aus, Nachzügler müssen stehen. 75 Personen sollen gekommen sein.
Bevor die Autorinnen Sabine Rennefanz und Charlotte Gneuß auf dem Podium
mit ihrem Gespräch beginnen, steigt der PEN Berlin mit einer Fragerunde
ein. Wer kommt gebürtig aus Sachsen? Ein Großteil der Anwesenden meldet
sich. Wer ging noch in der DDR zur Schule? Immerhin etwas mehr als die
Hälfte.
## Engere Meinungskorridore
Auch die erste Frage für das Podiumsgespräch gibt der PEN Berlin vor: Gibt
es Meinungsfreiheit in Deutschland? Beide Schriftstellerinnen antworten mit
Ja, schieben jedoch ein Aber hinterher. Sabine Rennefanz, Autorin des
Buches „Eisenkinder“ über die Wendegeneration in Ostdeutschland, beklagt zu
viel Emotion in Debatten.
Meinungskorridore würden immer enger, zu schnell werde man heute in eine
Ecke gestellt. Diese Haltung blitzte in der Vergangenheit bereits in ihrer
Kolumne für den Spiegel durch, unter anderem, als sie von einer angeblichen
„modernen Hexenjagd“ gegen Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer schrieb.
Das Aber von Charlotte Gneuß zielt in eine andere Richtung: Die Grenzen des
Sagbaren würden für ihren Geschmack eher zu weit ausgedehnt, zum Beispiel
durch in Talkshows unwidersprochen bleibende Aussagen rechter
Politiker:innen. Gleichzeitig würde zu viel Bedeutung in die Frage gelegt,
aus welcher Identität heraus gesprochen werde.
Dabei sei das mit der Identität manchmal gar nicht so einfach. Gneuß’
Debütroman „Gittersee“ spielt 1976 in Dresden und [1][löste eine Debatte
darüber aus, wer über die DDR sprechen solle und wer nicht.] Gneuß selbst
ist 1992 im Westen Deutschlands geboren, ihre Eltern hatten die DDR kurz
vor dem Mauerfall verlassen.
## Gefühl der Ohnmacht
Schon nach kurzer Zeit geht es auf dem Podium weniger um Meinungsfreiheit
als um ostdeutsche Erfahrungen. Im anschließenden Gespräch mit dem Publikum
kommt der Vorwurf auf, man habe am eigentlichen Thema vorbeigeredet. „Es
ging nur um die DDR und die Wende, das kennen wir hier alles, wir haben es
erlebt“, lautet eine Wortmeldung. Dennoch scheint die Veranstaltung in der
Verquickung beider Themen einen Nerv getroffen zu haben.
In der schwülen Saalluft entbrennt eine hitzige Diskussion über das Gefühl
der Ohnmacht nach der Wende und des Nicht-gehört-Werdens. Themen wie der
Krieg in der Ukraine oder die Vor- und Nachteile der kapitalistischen
Gesellschaft im Gegensatz zur DDR werden gestreift, Wortbeiträge mit
Applaus oder verächtlichem Schnaufen quittiert. Einigkeit besteht immerhin
darin, dass man in der DDR seine Meinung auf jeden Fall nicht frei äußern
konnte.
Zwei Tage später in Großenhain antworten die Autor:innen [2][Jakob
Springfeld] („Unter Nazis“) und Anna Kaminsky („Frauen in der DDR“) auf…
Einstiegsfrage nach der Meinungsfreiheit in Deutschland ebenfalls mit einem
eingeschränkten Ja.
Früher, in den 1990ern, seien freiere Debatten möglich gewesen, heute werde
zu sehr in Schwarz-Weiß gedacht, beklagt Kaminsky, die seit 2001 Direktorin
der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist. Woher diese
Veränderung gekommen sei, bleibt ungeklärt.
## Meinungs- und Widerspruchsfreiheit
Der sächsische Aktivist Springfeld merkt an, dass [3][Meinungsfreiheit
nicht mit Widerspruchsfreiheit zu verwechseln] sei. Diejenigen, die sich am
lautesten darüber beklagten, dass es keine Meinungsfreiheit gebe, seien
doch gerade diejenigen, die ihre Meinung am lautesten sagten.
Auch in Großenhain streift das Gespräch auf dem Podium viele Themen
flüchtig, ohne in die Tiefe zu gehen. Womöglich ist das dem Konzept
geschuldet, das für die Autor:innengespräche nur eine knappe halbe
Stunde vorsieht, bevor zum Austausch mit dem Publikum übergeleitet wird.
Auch wenn die Fragen nach den Gründen einer – zumindest gefühlt – härter…
Debattenkultur und nach den Grenzen der Meinungsfreiheit unbeantwortet
bleiben, regt die Gesprächsreihe doch zur Auseinandersetzung an und öffnet
einen Raum für, nun ja, verschiedene Meinungen.
19 Aug 2024
## LINKS
[1] /Romane-von-Charlotte-Gneuss-und-Anne-Rabe/!5963332
[2] /Antifa-in-Ostdeutschland/!6016874
[3] /Pressefreiheit-in-Thueringen/!6025619
## AUTOREN
Rosa Budde
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