# taz.de -- Rechtsextremismus in Thüringen: Von roten zu braunen Hochburgen | |
> Vor 95 Jahren feierte die NSDAP erste relevante Wahlerfolge bei der | |
> Landtagswahl in Thüringen. Heute ist dort der Zuspruch zur Rechten erneut | |
> stark. | |
Bild: Adolf Hitler beim Propagandamarsch durch die Straßen Weimars während de… | |
[1][Die Weimarer Republik] gilt als eine krisengeschüttelte, politisch | |
umkämpfte Episode, an deren Ende die Schreckensherrschaft der Nazis steht. | |
Vielerorts wandten sich die Menschen über die 14 Jahre, die die erste | |
deutsche Demokratie bestand, den extremen Rechten zu. Doch was sich in | |
Thüringen abspielte, sticht ins Auge. | |
Eigentlich startete das kleine Land zwischen Wartburg und Vogtland als | |
linke Musterregion in die 1920er Jahre. Hier befanden sich Zentren der | |
Arbeiterbewegung mit einer langen roten Wahlkontinuität. Eine regierende | |
SPD sorgte für eine bis dato beispiellose Kulturpolitik; erstmals in | |
Deutschland wurde hier etwa die Prügelstrafe in Schulen verboten. 1923 kam | |
es sogar zu einer rot-roten Landeskoalition mit der KPD – eine Rarität! | |
Ab dem Jahr darauf wandelte sich jedoch die politische Landschaft. | |
Konservative Parteien errangen die Oberhand und die noch kleine [2][NSDAP] | |
wurde durch rechtsbürgerliche Regierungen geradezu hofiert, um sich ihre | |
Unterstützung im Landtag zu sichern. Während sie in anderen Teilen | |
Deutschlands noch lange eine unbedeutende Splittergruppe blieb, wurde sie | |
hier immer größer. Bei den Landtagswahlen 1929 erhielt die Thüringer NSDAP | |
schließlich über 11 Prozent – genug, um eine Koalition mit rechtsnationalen | |
Parteien einzugehen und erstmals in ihrer Geschichte einen Minister zu | |
stellen. | |
1932, am Vorabend der Machtergreifung, bekam sie hier gut 43 Prozent. Das | |
Besondere am Zulauf der Thüringer NSDAP war, dass nicht nur ihre | |
mittelständische Stammklientel hinter ihr stand, sondern sich auch erstmals | |
in vielen ehemals linken Arbeitermilieus das Stimmungsbild wandelte. | |
Während das linke Lager in Ostthüringen noch recht stabil blieb, wurden vor | |
allem im Süden und Westen des Landes viele rote zu braunen Hochburgen. | |
Heimarbeit in der Spielzeugbranche | |
Besonders bei sogenannten Heimarbeiter:innen konnte die NS-Bewegung | |
punkten. Arbeiter:in war eben nicht gleich Arbeiter:in. Anders als bei | |
der klassischen Industriearbeit in Fabriken, die vor allem in Ostthüringen | |
die Norm darstellte, waren etwa in der Spielzeugbranche Südthüringens die | |
meisten in Heimarbeit beschäftigt. | |
Hier produzierte man auch für eine Firma, jedoch in den eigenen vier | |
Wänden. Statt am Feierabend mit den Kolleg:innen ein Bier zu trinken, | |
hatte man die Familie um sich, die in der Regel mitarbeiten musste. Dies | |
hatte auch eine politische Komponente: Statt sich als ein Proletariat mit | |
gemeinsamen Zielen zu begreifen, war die Einzelkämpfermentalität in | |
Heimarbeiterkreisen weit verbreitet. | |
Viele sahen sich noch als selbständige Handwerker:innen, ganz so als hätte | |
nie eine Industrialisierung stattgefunden. Bürgerliche Normen waren hier | |
weit verbreitet, ebenso die Bindung zur Kirche. Auch gewerkschaftlich | |
organisierten sich hier die wenigsten, wohingegen es in Ostthüringer | |
[3][Städten wie Gera] quasi zum guten Ton gehörte. | |
Paradoxerweise erwiesen sich gerade die Verhältnisse der Heimarbeit | |
katastrophaler als woanders. Tägliche Arbeitszeiten von 14 Stunden für | |
einen Hungerlohn waren keine Seltenheit. Eine gefährliche Kombination: Die | |
miserable wirtschaftliche Lage gepaart mit einer bürgerlichen Identität und | |
der Ablehnung der Arbeiterbewegung führte zu einem Protestwahlverhalten, | |
von dem die NSDAP profitierte. | |
Die propagierte ein Image, was die Geschichtsforschung später veranlasste, | |
von der „ersten deutschen Volkspartei“ zu sprechen. Ihr Arbeiterbegriff | |
umschloss alle, die irgendwie arbeiteten, egal ob am Fließband, im Büro | |
oder auf dem Acker, egal ob selbständig oder beschäftigt. | |
Bewusste Ansprache der Arbeiterschaft | |
Man konnte diese „Arbeiterpartei“ mit gutem Gewissen wählen, ohne sich zum | |
dreckigen Klischee des Proletariats zählen zu müssen. Gleichzeitig sprach | |
man die Arbeiterschaft bewusst an, spielte mit Begriffen wie „Sozialismus“ | |
und brach teilweise in rote Milieus ein. So war es letztlich nicht nur die | |
Heimarbeiterschaft, die zu Hitler kam, sondern auch viele | |
Industriebeschäftigte. | |
Um in Arbeitermilieus einzudringen, egal ob sie Fabrik- oder Heimarbeit | |
ausübten, musste die NS-Bewegung jedoch auf mehr als nur die bürgerlichen | |
Tendenzen ihres Wahlvolks setzen. Über Einzelpersonen schufen sich die | |
Nationalsozialisten kleine Bastionen in Arbeitermilieus; Ausgangspunkte, | |
von denen weitere überzeugt werden sollten. | |
Das war umso wichtiger, da die Partei einen „Mittelstandsbauch“ besaß; | |
Selbstständige und Beamte waren überrepräsentiert. Agitationsversuche | |
konnten praktisch nur scheitern, wenn etwa gut bezahlte Bankangestellte | |
ihren „Volksgenossen“ an der Werkbank von der arbeiterfreundlichen NSDAP | |
erzählten. In gezielten Gesprächen wurde daher versucht, sogenannte | |
Milieuöffner in der Arbeiterschaft für die eigene Sache zu gewinnen. | |
Überläufer als Vorbilder | |
Aber auch Aufsätze in NS-Zeitungen eigneten sich hervorragend, indem man | |
Vorbilder schuf: Entweder schrieb man über einen Überläufer oder | |
bestenfalls berichtete die Person selbst – oft noch verifiziert mit | |
Klarnamen und Adresse, was für die damalige Pressepraxis nicht ungewöhnlich | |
war. | |
Als Motiv, das Lager zu wechseln, gab man meist die Enttäuschung über eine | |
korrupte oder zu lasche Arbeiterbewegung an. Tatsächlich finden sich in der | |
Thüringer NSDAP einige Beispiele von Überläufern. | |
In Steinach bei Sonneberg trat ein Glasarbeiter nach dem Streit mit dem | |
Vorsitzenden aus seiner Gewerkschaft aus und wurde führendes Mitglied der | |
NSBO vor Ort, einer Art Nazi-Gewerkschaft. Im ehemals roten Waltershausen | |
schaffte es die Hitlerbewegung den örtlichen Antifaführer sowie einen | |
Betriebsratsvorsitzenden zum Übertritt zu bewegen – viele an der Basis | |
folgten. Und ein ehemaliger Gewerkschafter aus Greiz tourte nach seinem | |
politischen Wandel durch Thüringen und konnte neue Arbeiter:innen | |
rekrutieren. Die Strategie, alle Schichten, gerade auch die Arbeiterschaft, | |
anzusprechen, war zweifelsfrei von Erfolg gekrönt. | |
Parallelen zu 1920er Jahren | |
[4][Die heutige Situation in Thüringen] ist selbstverständlich eine | |
grundsätzlich andere. Statt auf den Ersten Weltkrieg, Inflation und | |
Wirtschaftskrise blicken [5][die Menschen in Thüringen] heute auf 40 Jahre | |
DDR und eine in vielen Punkten schiefgelaufene Wiedervereinigung zurück. | |
Doch wenn heute, 100 Jahre später, immer wieder Parallelen gezogen werden | |
zu den krisenhaften 1920er Jahren, in denen die Nationalsozialisten das | |
Fundament für ihre zwölf Jahre währende Schreckensherrschaft legen konnten, | |
lohnt es sich, genauer hinzugucken. | |
Laut aktuellen Umfragen könnte die AfD in Thüringen stärkste Kraft werden. | |
Gezielt im Sinne einer Volkspartei versucht sie, alle Schichten | |
anzusprechen, von der Oberschicht bis zur Industriearbeiterschaft. Letztere | |
sind seit Jahren im Fokus der Thüringer AfD. | |
Nach 1. Mai-Kundgebungen mit dem Motto [6][„Sozial ohne rot zu werden“] | |
versuchte Fraktionsvorsitzender Björn Höcke 2018 auch eine | |
Streikversammlung im Eisenacher Opel-Werk zu infiltrieren. Inzwischen geht | |
man davon aus, dass etwa ein Drittel der Belegschaft dort die AfD wählt. | |
Die politische Rechte profitiert auch von einem Vertrauensverlust in die | |
etablierten Parteien. Zwar sind die kurzlebigen Regierungen der Weimarer | |
Republik, eingebettet in ein polarisiertes Vielparteiensystem, schwerlich | |
mit Groko-Überdruss und Ampelfrust der letzten Jahre vergleichbar. | |
Unzufriedene suchen nach Alternativen | |
Das gilt ebenso für die massiven wirtschaftlichen und sozialpolitischen | |
Probleme, die die Weimarer Regierung zu lösen hatte. Doch damals wie heute | |
gilt: Wer unzufrieden ist mit der eigenen wirtschaftlichen Situation, macht | |
sich auf die Suche nach Alternativen – auch wenn sich diese in manchen | |
Fällen als menschenverachtend darstellen. Heute trägt die AfD diesen | |
Anspruch sogar im Parteinamen. | |
Auch die besondere Rolle von Einzelpersonen lohnt es sich damals wie heute | |
in den Blick zu nehmen. Viele Dinge, die vor zehn Jahren als unsagbar | |
galten, sind in vielen Städten heute Alltagsgespräch aufgrund des Einsatzes | |
Einzelner, die die Gesprächskultur in Straßenbahnen, auf Arbeit und an | |
Stammtischen prägen. [7][Björn Höcke] sprach bei einem auf Youtube | |
veröffentlichten Bürgerdialog Anfang 2024 davon, dass ein kleiner Thüringer | |
Ort AfD-Werte von über 50 Prozent erreichte, weil eine einzelne Person dort | |
regelmäßig Infomaterial verteile. | |
Dieses Rezept stellt kein Privileg der politischen Rechten dar. Auch auf | |
linker, bzw. demokratischer Seite kann der Einsatz im persönlichen Umfeld | |
helfen, den öffentlichen Raum zurückzuerobern und rechter Hetze Paroli zu | |
bieten. Auch das funktionierte damals vielerorts so wie heute – und sollte | |
uns Mut machen. | |
27 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Oliver Bahl | |
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