# taz.de -- Yahya Sinwar, Hamas und der Tunnelblick: Gaza und der doppelte Boden | |
> Untergrund und Unbewusstes. Was das Tunnelsystem der Hamas über die | |
> Fähigkeiten der Organisation aussagt. | |
Bild: Im Norden von Gaza-Stadt sichern israelische Soldaten einen Tunnel, den H… | |
Die islamistische Terrororganisation Hamas kam im Gazastreifen 2007 an die | |
Macht. Gaza erhielt Millionen an Hilfsgeldern. Wenig kam der Bevölkerung | |
zugute. Vieles floss, buchstäblich, in den Untergrund, in eine | |
Parallelstruktur unter der Erde. | |
Sie hätten in die Höhe bauen können, mit Licht und Luft. Stattdessen haben | |
sie sich in den Erdboden eingegraben. Auch das ist Teil der Tragödie von | |
Gaza. | |
Dem herrschenden Kopf der Hamas ist das durchaus bewusst. Yahya Sinwar | |
sagte einmal einer italienischen Journalistin, „aus Gaza könnte Singapur | |
werden oder Dubai“, es gebe in der jungen Generation der Palästinenser | |
genug Brillanz und Esprit. Sogar Frieden mit Israel schien ihm damals, | |
2018, denkbar. Dazu wollte er es dann aber doch nicht kommen lassen. | |
Yahya Sinwar gilt als der Planer der „Operation Al-Aqsa-Flut“. So lautet | |
der Codename für den Überfall der radikal-islamistischen Terrororganisation | |
Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, als 1.139 Männer, Frauen und Kinder | |
massakriert und 240 Menschen nach Gaza verschleppt wurden. | |
## Größenwahn und Talent | |
Getrieben waren die Verbrechen von der größenwahnsinnigen Fantasie, Israel | |
auszulöschen, wie das die erste Charta der Hamas beschwor. Der Massenmord | |
wollte [1][eine eliminatorische Fantasie in Realität übersetzen.] | |
Seit dem 7. Oktober wurde Sinwar öffentlich nicht mehr gesehen. Er soll | |
abgetaucht sein in den Untergrund, was wörtlich zu verstehen ist. Offenbar | |
hält er sich in dem weitverzweigten Tunnelsystem auf, das die Hamas unter | |
der Erde des Gazastreifens angelegt hat. Auch „Gaza Metro“ genannt | |
beherbergt es Führungsriegen der Hamas, die selten auf der Erdoberfläche zu | |
sehen sind, und es dient jetzt auch als Kerker für die Geiseln. | |
Sinwar, der mehr als 20 Jahre in israelischen Haftanstalten verbracht | |
hatte, bis er 2011 durch Geiselnahme und Erpressung freikam, weiß, dass er | |
nicht nochmal freikäme, würde Israels Armee ihn entdecken. Inhaftiert | |
worden war er wegen der Ermordung von Palästinensern. Im Gefängnis hatte er | |
Hebräisch gelernt, Bücher der Feinde studiert und einen palästinensischen | |
Heldenroman verfasst. Daneben soll er weitere Morde an [2][„Verrätern“ im | |
Gazastreifen] in Auftrag gegeben haben. Prägend dürfte damals die Erfahrung | |
gewesen sein, dass und wie sich Macht auch aus der Distanz ausüben lässt. | |
Unter der Erde hat Sinwar seine Autorität auch den Entführten demonstriert. | |
Eine freigekommene, 85 Jahre alte Friedensaktivistin schilderte einer | |
israelischen Zeitung, wie Sinwar wenige Tage nach dem Massaker eine Gruppe | |
der in den Tunnels festgehaltenen Israelis aufgesucht und sich bei den | |
unter Schock stehenden nach ihrem Befinden erkundigt hatte. | |
## Die unterirdische Regierung | |
Der Bau der Tunnels hatte als Geheimaktion begonnen. Jehad al-Saftawi, | |
Autor eines Fotobands über Gaza, berichtete Anfang 2024 im Time Magazin, | |
wie seine Familie 2013 die Bauphase mitbekam. Ein Tunneleingang lag direkt | |
unter dem Neubau im Norden von Gaza, für den seine Eltern lange gespart | |
hatten. In den Nächten hörte die Nachbarschaft seltsame Geräusche und sah | |
seltsame Dinge. Lastwagen rollten an, maskierte Männer verhängten | |
Baustellen mit Planen, die Erde vibrierte, gedämpfter Baulärm drang aus | |
Schachtöffnungen. | |
Jehad und sein Bruder Hamza entdeckten eine Stahltür und fragten einen der | |
Maskierten nach dem Zweck der Arbeiten. Keine Sorge, habe der gesagt, es | |
würden bloß Waffenarsenale angelegt und Schutzräume geschaffen, für den | |
Fall einer israelischen Invasion. | |
Tausende Bewohner des Gazastreifens werden Ähnliches erlebt haben, an | |
Hunderten von Baustellen. Schmugglertunnel hatte es an den Grenzen des | |
Gazastreifens schon lange gegeben. Aber das war neu: die Anlage einer | |
unterirdischen Struktur solchen Ausmaßes, die als militärisches | |
Hauptquartier und Interims-Regierungssitz dient. | |
## 500 Kilometer Tunnelnetz | |
Die Hamas habe den Untergrundkrieg neu erfunden, urteilte die | |
Völkerrechtlerin Daphné Richemond-Barak im Juni in der Zeitschrift Foreign | |
Affairs. Vergleichbar sei das Tunnelsystem weder mit den Schützengräben des | |
Ersten Weltkriegs noch mit den Tunnels, die al-Qaida in Mali oder der IS in | |
Syrien und im Irak nutzten. Am ehesten seien die Gazatunnels vergleichbar | |
mit unterirdischen Kommandozentralen von Staaten. Von nichtstaatlichen | |
Akteuren wie einer Terrororganisation kannte man Ähnliches bisher nicht. | |
Auf eine Länge von 500 Kilometern wird das Tunnelnetz geschätzt. Allein für | |
den Beton wurden zigtausend Säcke Zement und Sand verbraucht. Gewölbe und | |
Räume sollen stabil und einsturzsicher sein, manche Tunnel breit genug für | |
Jeeps. Zur Infrastruktur gehören Strom und Wasser, Beleuchtung und | |
Belüftung. Kabelstränge laufen die Wände entlang, Kabelbündel hängen von | |
den Decken. | |
Israels Armee berichtet von mehreren Ebenen, teils bis zu zwanzig Meter | |
tief und verbunden mit Fahrstühlen. Es gibt Internet, Waschräume und | |
Duschen, Küchen, Vorratskammern, Schlafplätze, Konferenzräume, Waffenlager | |
und Waffenfabriken. Einstiegsluken dienen als Abschussrampen. | |
Der Gazastreifen hat eine physische Parallelstruktur. Auch darum ist es für | |
Israels Armee eine extreme Herausforderung, die Hamas zu entmachten und zu | |
entwaffnen. Das verhältnismäßig kleine Gelände des Gazastreifens ist | |
doppelt vorhanden, oberirdisch und unterirdisch, sichtbar und unsichtbar. | |
Angriffe auf die Tunnelstruktur sind statisch riskant. Und sie könnten noch | |
lebende Geiseln gefährden. | |
## Guerilla-Romantik | |
Propagandavideos der Hamas verströmen Partisanenflair. Sie präsentieren das | |
unterirdische Innere als eine Art Bergwerk und Werkstatt des Terrors. Zu | |
sehen sind vermummte Männer mit Munitionsgürteln und Handfeuerwaffen, wie | |
sie Mörser oder Panzerfäuste schleppend durch gewölbte Gänge eilen, in | |
denen Fahnen der Hamas hängen. Eingeblendet ist das Logo des militärischen | |
Arms der Hamas und dessen Netzadresse www.alqassam.net. | |
In einer Szene drängen sich Terrorkrieger um die Luftaufnahme einer Stadt. | |
In einer anderen hocken Vermummte als Kriegsrat im Kreis, schwer bewaffnet, | |
mit Headcams auf den schwarzen Mützen. Über ihren Köpfen ein Bild der | |
Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Israels Armee hat Ausschnitte [3][der Videos | |
auf Youtube eingestellt.] | |
Das Tunnelnetz hat viele Millionen gekostet, die nicht zuletzt aus | |
Hilfsgeldern westlicher wie arabischer Staaten kamen. Bei Schmuggel und | |
Schwarzhandel kassierte man im Untergrund hohe Mautgebühren für die | |
Passage. | |
Ein Direktor der Hilfsorganisation World Vision soll an die Hamas rund 45 | |
Millionen Spendendollars weitergeleitet haben. Das Bezirksgericht von | |
Beersheba in Israel verurteilte Mohammad El Halabi am 30. August 2022 zu | |
zwölf Jahren Haft. Ein Berufungsverfahren läuft. Auch damit wurden | |
Militärgerät und Baumaterial beschafft. | |
[4][Unmengen an Ressourcen, die dem zivilen Aufbau über der Erde dienen | |
sollten], wurden zweckentfremdet und versickerten buchstäblich im Boden. | |
## Skulpturenpark einer Diktatur | |
Bauprojekte, die der Bevölkerung Ressourcen entziehen, sind typisch für | |
Diktaturen. Selten allerdings so flächendeckend und dysfunktional. Albanien | |
ist ein weiteres Beispiel. Das Land war übersät mit kleinen und großen | |
Kuppeln aus grauem Beton, als hätte das Erdinnere Blasen geworfen, die sich | |
verhärtet hatten. | |
Sie lagen in Hinterhöfen, auf Viehweiden, an Flussufern, in Städten, alle | |
hatten Öffnungen wie Schießscharten. Jedem im Land hatte [5][der | |
kommunistische Diktator Enver Hoxha] einen Platz im Bunker versprochen, | |
700.000 Bunker für die 3 Millionen Einwohner entstanden, teils durch | |
Tunnels verbunden. | |
Albanien glich einem gigantischen Skulpturenpark der politischen Paranoia, | |
denn Hoxha fürchtete die Invasion durch Feinde, die niemals kamen. Der | |
wahre Feind war die eigene, bizarre Ideologie, die sich im Wortsinn | |
eingebunkert hatte. Nach der Diktatur besprühten Leute die Bunker mit | |
Graffiti, nutzten sie als Ziegenstall, Weinkeller und Discos, für Brennholz | |
oder Abfall. Inzwischen sind die meisten abgerissen und in Tirana wirbt ein | |
Bunkermuseum mit dem Wahn- und Gruselfaktor auch der Tunnelgänge. | |
## Der Tunnelblick von Gaza | |
Gazas unterirdische Welt ist real. Zugleich ist sie sinnbildliche | |
Manifestation einer unterirdischen Ideologie, die destruktiv ist und | |
dystopisch, deren politischer Diskurs dominiert ist von Märtyrertum, Morden | |
und Opfern. | |
Das Wall Street Journal berichtete über vertrauliche Nachrichten, in denen | |
Sinwar zivile Opfer im Gazastreifen begrüßt, sie brächten „frisches Blut in | |
die Adern der Nation“. Als im April 2024 drei Söhne des Hamas-Führers | |
Ismael Hanijeh im Gazakrieg starben, verkündete das Politbüro der Hamas, er | |
„danke Allah für die Ehre, dass sie als Märtyrer sterben durften“. | |
Schon den Schulkindern in Gaza werden „Märtyrer“ als Helden und Vorbilder | |
präsentiert und auch in den Medien ist die Propaganda der Vernichtung | |
ubiquitär. | |
Wenn aber zum Selbstverständnis einer Gruppe die Auffassung gehört, der | |
eigene Nachbar habe kein Existenzrecht und dürfe vernichtet werden – was | |
die frühe Charta der Hamas über Israel besagt – dann entwickelt sich | |
Paranoia. Die eigene Absicht wird auf die anderen, die zu Tötenden, | |
projiziert. Permanent vibriert die Furcht, gestraft zu werden. | |
## Gegner als Kollaborateure | |
Dabei werden Wissen und Gewissen verdrängt, dass der Terror unethisch und | |
illegitim ist, Gegner als „Kollaborateure“ denunziert. Gaza ist doppelt | |
vorhanden, oberirdisch und unterirdisch, sichtbar und unsichtbar. Und auf | |
konkretistische Weise bilden die beiden Ebenen ab, wie stark Bewusstsein | |
und Unbewusstes voneinander abgespalten sein sollen. | |
So führt das Tunnelsystem den Tunnelblick derer vor, die sich freiwillig in | |
die Lichtlosigkeit begeben haben, ins Jenseits der Aufklärung. Ohne es zu | |
wollen zeigen die Tunnel, wie sehr ihre Erbauer in ihre Phantasmen | |
abgetaucht sind, wie massiv sie sich abschotten von Ratio und den Räumen | |
des Diskursiven. | |
Wie mit den albanischen Bunkern der Paranoia entstand auch mit den Tunneln | |
in Gaza eine antisoziale Megaskulptur. Sie scheint einer Nekropole | |
nachgeahmt, mit Katakomben für die Lebenden, die unter Tage den Tod | |
beschwören. | |
## Der Weg aus den Tunneln | |
Yahya Sinwar hat recht. Es gibt enorm viel Potenzial unter Palästinensern. | |
Auch die eindrucksvolle Leistung, das Tunnelsystem zu konstruieren, zeugt | |
davon. Doch das Potenzial wurde in die falsche Richtung gelenkt. | |
Jetzt lebt ein Großteil der Bevölkerung auf Trümmern über Tunneln, die | |
Zivilstruktur wird von der Hamas als Schutzschild verwendet, um | |
Einstiegsluken zu verbergen. | |
Vermutlich wird die Bevölkerung nur mit internationaler Verwaltung, großen | |
Geberkonferenzen und einer demokratischen Bildungsoffensive aus den | |
Terrortunneln heraus gelangen. Gebraucht wird dafür die internationale | |
Solidarität vieler pro-palästinensischer Demokraten. | |
Propalästinensisch zu sein ist einfach. Es bedeutet, dafür zu sein, dass | |
Gaza von der unterirdischen Hamas befreit wird. Dafür, dass die Bevölkerung | |
eine demokratische, rechtsstaatliche Regierung oben auf der Erde erhält, | |
mit gleichberechtigten Männern und Frauen, mit Schulen ohne Mordpropaganda. | |
All das ist ohne Zweifel möglich, ob in einem eigenen Staat oder in einer | |
Föderation. Anstatt sich in die Erde zu graben, können auch Palästinenser | |
nach oben bauen, mit Licht und Luft. | |
26 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Caroline Fetscher | |
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