# taz.de -- Gletscher und Klima: Das Eis schmilzt, die Erde bebt | |
> Geologen sind sich zunehmend einig, dass es einen Zusammenhang zwischen | |
> Klimakrise und Erdbeben gibt. Welche Klimaveränderungen sind wirklich | |
> wichtig? | |
Bild: Im Südosten Alaskas verzeichnet man seit Beginn des 19. Jahrhunderts e… | |
Der Süden Alaskas gehört zu den erdbebenreichsten Regionen der Welt. Vom | |
„Pfannenstiel“ im Südosten bis zu den Alëuten im Westen zieht sich der | |
Pazifische Feuerring die Küste entlang. Hier rumpeln die Krustenplatten mal | |
aneinander vorbei, mal taucht eine unter der anderen ins Erdinnere ab. Aber | |
das eine wie das andere ist mit heftigen und häufigen Erdbeben verbunden. | |
Doch scheinen hier nicht nur die plattentektonischen Kräfte aus dem | |
Erdinneren am Werk zu sein, sondern auch noch ein anderer Faktor. „Im | |
Südosten Alaskas verzeichnen wir seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein | |
gewaltiges Abschmelzen der Gletscher, und das scheint Beben zumindest | |
auszulösen“, formuliert Jeff Freymueller, Geophysiker an der Michigan State | |
University, betont vorsichtig. | |
Die Vorsicht ist nicht unbegründet: Erdbeben entfesseln die gewaltigsten | |
Kräfte auf diesem Planeten und die meisten entstehen in Tiefen von | |
mindestens zehn Kilometern. Wer also einen Einfluss von Klimaphänomenen wie | |
dem Abschmelzen von Gletschern auf das Geschehen in diesen Tiefen behaupten | |
will, braucht dafür sehr gute Gründe. | |
Immerhin gibt es mittlerweile Indizien, dass der Klimawandel den Auslöser | |
für ein Beben liefern kann, auch wenn er seine Ursache in der Tiefe nicht | |
berührt. Und die Indizien sind so ernsthaft, dass die | |
Geowissenschafts-Community darüber diskutiert. „Ich glaube, wir sind uns | |
alle einig, dass Klimaveränderungen eine Rolle im Erdbebengeschehen | |
spielen“, sagt etwa Niels Hovius, Geomorphologe am [1][Deutschen | |
Geoforschungszentrum in Potsdam (GFZ)]. „Die Frage ist nur, welcher | |
Aspekt wirklich wichtig ist.“ | |
Im St.-Elias-Gebirge im Südosten Alaskas, wo Jeff Freymueller das | |
Erdbebengeschehen seit Jahren untersucht, ist der wohl deutlichste Faktor | |
am Werk. Auf dem Gebirge lastet das nach den Eiskappen an Nord- und Südpol | |
größte zusammenhängende Gletschergebiet der Erde. Hunderte Milliarden | |
Tonnen Eis sollen hier die Nordamerikanische Kontinentalplatte in den | |
darunterliegenden Erdmantel drücken. | |
Wenn diese Last spürbar abzuschmelzen beginnt, beginnt der Kontinent | |
aufzusteigen wie ein Korken im Wasser. Der Grund: Das Gestein der | |
Kontinente ist weniger dicht als das des Erdmantels. Und weil Störungszonen | |
die Erdkruste durchziehen, können solche Lastveränderungen auch Erdbeben | |
auslösen. „Diese Lastveränderungen können die Spannungen in der Erde ebenso | |
stark erhöhen, wie jahrelange tektonische Bewegungen, und letztendlich | |
können sie dadurch Erdbeben auslösen“, so Freymueller. | |
Das Phänomen ist bekannt, nicht zuletzt aus [2][Skandinavien], das | |
eigentlich als weitgehend bebenfreie Zone gilt. Als dort zum Ende der | |
jüngsten Eiszeit die gewaltigen Eismassen abschmolzen, hob sich der | |
Kontinent und es kam zu vielen, oft auch schweren Beben. Das war lange | |
bevor Menschen dort irgendetwas aufzeichneten, aber im Gelände sind die | |
Spuren dieser starken Beben weiterhin zu sehen. | |
Ähnliches geschieht derzeit in Alaska und Grönland, wo sich die Gletscher | |
deutlich zurückziehen. Und in mehr oder weniger ferner Zukunft wird es auch | |
in der Antarktis mehr als nur Mikrobeben dieser Art geben, wenn die | |
landgebundenen Eiskappen stark schwinden. „Wenn viel von dieser Last | |
verschwindet, wird man das in der seismischen Aktivität spüren“, so | |
Geomorphologe Hovius. | |
## Aktivität auch in bebenfreien Gebieten | |
Der GFZ-Forscher hat selbst ein ähnliches Beispiel in Taiwan intensiv | |
erforscht: Hier war es allerdings kein abschmelzender Gletscher, sondern | |
Extremregen, der für drastische Lastveränderungen sorgte. „2009 blieb der | |
kleine Taifun Morakot über dem Süden Taiwans sozusagen hängen und | |
verursachte dort die stärksten Regenfälle, die wir bislang kennen: drei | |
Meter Niederschlag pro Quadratmeter in fünf Tagen“, so Hovius. | |
Die heftigen Regengüsse sorgten für ebenfalls rekordverdächtige Erosion. | |
10.000 Erdrutsche auf einer Fläche von 7000 Quadratmetern mobilisierten 1,2 | |
Kubikkilometer Erdreich und Gestein. Das hatte Effekt auf die | |
Bebentätigkeit auf der Insel, die ebenfalls auf dem Pazifischen Feuerring | |
liegt. „Es gab mehr schwache und weniger starke Beben als zu erwarten | |
gewesen wäre“, so Hovius. Denn schwache Beben entziehen der Störungszone | |
Energie, sodass die Ladung unter das Niveau sinken kann, bei dem ein | |
starkes Beben ausgelöst wird. | |
Entscheidend ist: Die Vorgänge an der Oberfläche sind nur der Auslöser, sie | |
liefern sozusagen den Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen | |
bringt. Ohne die Bewegungen der Krustenplatten, die Störungszonen so weit | |
mit Energie aufladen, dass sie kurz davor sind, sich in einem Beben zu | |
entladen, bleiben auch die größten Gletscherschmelzen oder Taifune | |
folgenlos. Die Rolle von Klimaänderungen, seien sie natürlich oder | |
menschengemacht, sei daher begrenzt. Zumindest wenn es um die großen | |
Schadenbeben geht, die in großer Tiefe entstehen. | |
„Allerdings überrascht uns die Erde auch immer wieder mit etwas Neuem, zum | |
Beispiel mit extrem flachen Beben, die ihren Ursprung in vielleicht einem | |
Kilometer Tiefe haben. Und da können Klimaveränderungen größeren Einfluss | |
haben“, sagt [3][Jean-Paul Ampuero], Seismologe an der Universität der Côte | |
d’Azur in Nizza. Diese flachen Beben entfalten viel weniger Energie als die | |
schweren Beben an den bekannten Störungszonen. Sie treten aber auch in | |
Gebieten auf, die als bebenfrei gelten oder zumindest nur eine geringe | |
Bebengefahr haben. | |
Die Folge: Bauwerke sind für Erdstöße nicht ausgelegt, sodass schon ein | |
relativ schwaches Beben einen großen Schaden verursachen kann. „Solche | |
Beben stellen ein Problem dar, weil die Störungen, die da aktiviert werden, | |
überall verlaufen können und sie sehr viel einfacher durch einen | |
Massenabtrag an der Oberfläche beeinflusst werden können“, so Ampuero. | |
2019 soll ein Steinbruch in der französischen Region Ardéche Auslöser eines | |
Erdbebens der Stärke 5,4 gewesen sein. „Nach 200 Jahren war so viel Gestein | |
herausgeholt worden, dass die Erdkruste reagierte“, erklärt der Seismologe | |
Ampuero. | |
Ein weiteres Beispiel für menschengemachte Erdbeben liefert die | |
Fracking-Industrie, die in Oklahoma Bebenschwärme durch eine drastische | |
Veränderung des Grundwassersystems auslöste. Sie pumpte große Wassermengen | |
in den Untergrund und erhöhte dort den Druck im Gestein. | |
Das kann auch bei Extremwetterereignissen passieren. Die schwachen Beben | |
nach dem Taifun Morakot in Taiwan hatten vor allem flache Ursprungszonen | |
und könnten mit einem durch den Regen stark veränderten Grundwassersystem | |
zusammenhängen. Morakot ist bislang das einzige Klimaphänomen, von dem | |
solche Einflüsse auf die Bebentätigkeit bekannt ist. Doch in der Folge | |
eines sich verschärfenden Klimawandels könnten immer mehr davon auftreten. | |
Das Problem: die Menschheit ist nahezu blind für solche Gefahren, denn die | |
seismischen Netze, die die Erdbewegungen protokollieren, sind zurzeit | |
vollständig auf die großen Störungszonen ausgerichtet. „Wir müssten einen | |
Teil unserer Aufmerksamkeit auf diese blinden Flecken richten, und das | |
nicht nur mit Seismometern, sondern mit einer ganzen Batterie von | |
Umweltsensoren, um die Änderungen in Meteorologie und im Boden zu | |
erfassen“, fordert GFZ-Forscher Hovius. | |
Entscheidend wird die Frage sein, ob sich der Klimawandel nicht nur in der | |
Bebenhäufigkeit niederschlägt, sondern auch das Risiko für Menschen und | |
Infrastruktur erhöht. Darauf deutet momentan nur wenig hin. „Die kleinen | |
Erdbeben sorgen nicht für große Zerstörungen, sie werden keine große Rolle | |
für die Gesellschaften spielen“, schätzt Hovius. | |
Und die Gefahr, dass der Klimawandel ein großes Beben zumindest auslöst? | |
„Ich würde nicht sagen, dass es unmöglich ist, ich halte es nur für sehr, | |
sehr unwahrscheinlich!“ Zumindest für den geologisch kurzen Zeitraum der | |
nächsten Jahrhunderte. | |
23 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gfz-potsdam.de/ | |
[2] /Skandinavien/!t5025026 | |
[3] https://scholar.google.com/citations?user=RHXdl6EAAAAJ&hl=en | |
## AUTOREN | |
Holger Kroker | |
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