| # taz.de -- Mutterschaft und Frausein: Wehe, sie gehen | |
| > Wenn Mütter ihre Kinder verlassen, gilt das als skandalös. Unsere Autorin | |
| > wurde verlassen und begibt sich auf die Suche nach Erklärungen. | |
| Im Hafen von Melbourne liegt ein großes Schiff. Es wird gleich aufbrechen, | |
| um die Fahrt nach Deutschland anzutreten. An Bord steht unter vielen | |
| anderen Passagieren meine Mutter. Sie winkt meinem Vater und mir zu. Wir | |
| sind an Land geblieben. Ich weine, denn ich weiß, dass meine Mutter sehr | |
| lange weg sein wird. „Mama kommt bald wieder“, tröstet mein Vater mich. | |
| Aber das stimmt nicht. Meine Mutter kommt nicht wieder. Erst drei Jahre | |
| später werden wir uns in Deutschland wiedersehen. | |
| Als meine Mutter 1964 mit dem Schiff abreiste, war ich fünf Jahre alt. Sie | |
| gab das Leben auf, das sie und mein Vater als Einwanderer:innen in | |
| Australien führten, um nach Deutschland zurückzugehen. | |
| Es war nicht das erste Mal, dass sie mich verließ, und es sollte auch nicht | |
| das letzte Mal gewesen sein. Ich hoffte, sie besser verstehen zu können, | |
| wenn ich einmal selbst Mutter wäre. Aber da verstand ich sie noch weniger. | |
| Denn ich hätte mich nie freiwillig für längere Zeit von meinen Kindern | |
| getrennt. | |
| Noch immer verfolgt mich die Frage: Warum nahm sie mich nicht mit? | |
| Nun bin ich 65 Jahre alt, und das Thema lässt mich nicht los. Bald werde | |
| ich alt sein. Es klingt vielleicht kitschig, aber wenn ich einmal sterbe, | |
| möchte ich mit meiner Mutter im Reinen sein. | |
| Aussprechen können wir uns allerdings nicht mehr. Meine Mutter ist schon | |
| lange tot, und zu Lebzeiten weigerte sie sich, mit mir darüber zu sprechen. | |
| Aber ich kann mit anderen Müttern, die ihre Kinder zurückließen, reden. | |
| Warum sind sie gegangen? Und ist es möglich, sie trotzdem zu lieben? | |
| ## Ultimativer Tabubruch | |
| Mütter, die von ihren Kindern weggehen, gelten in unserer Gesellschaft | |
| immer noch als etwas Skandalöses. Wenn jemand geht, dann sind es | |
| normalerweise Männer. [1][85 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland | |
| sind Mütter], wobei die Zahl der alleinerziehenden Väter laut dem | |
| Statistischen Bundesamt in den vergangenen Jahren leicht angestiegen ist. | |
| Es tut sich also langsam etwas in Sachen Geschlechterrollen, aber auch | |
| darin, wie das Thema behandelt wird. So sind in jüngerer Zeit zunehmend | |
| Podcasts und Sachbücher erschienen, die sich des Themas aus neuen, teils | |
| überraschenden Blickwinkeln annehmen. In einer [2][Doku des Schweizer | |
| Senders SRF rät die Psycho- und Paartherapeutin Felizitas Ambauen], kein | |
| vorschnelles Urteil zu treffen, wenn eine Frau von der Familie weggeht. | |
| Eine Trennung sei schwierig, aber nicht immer schädlich. Die spanische | |
| Journalistin Begoña Gómez Urzaiz beschreibt in ihrem Buch „Mütter, die | |
| gehen“ die Lebensläufe berühmter Frauen, die ihre Kindern verließen. Sie | |
| fragt, warum diese Entscheidung als ultimativer Tabubruch gesehen wird, und | |
| was das über unsere Erwartungen an Mütter erzählt. | |
| Um mehr über Mütter zu erfahren, die ihre Kinder verlassen, starte ich | |
| einen Aufruf im Bekanntenkreis und in den sozialen Medien. Es melden sich | |
| zehn Mütter zwischen Mitte 20 und Ende 50 und eine mittlerweile erwachsene | |
| Tochter bei mir, die, so wie ich, zeitweise ohne ihre Mutter aufwuchs. | |
| Zwischen ihren Geschichten und meiner gibt es einen wesentlichen | |
| Unterschied. Die Mütter, mit denen ich rede, sind zwar ausgezogen, aber im | |
| Gegensatz zu meiner entfernten sie sich nicht aus der Welt ihrer Kinder. | |
| Dennoch haben sie Schuldgefühle. Sie wollen erzählen, wie es dazu kam, dass | |
| sie auszogen und ihre Kinder nicht mitnahmen. In diesem Text wird nur ihre | |
| Sicht wiedergegeben und nicht die ihrer Ex-Partner und Kinder. Auch wenn | |
| ich nicht alle Geschichten zitiere, schwingen sie zwischen den Zeilen mit. | |
| ## Scham und Schuld | |
| Meine jüngste Interviewpartnerin ist 26 Jahre alt. Ich nenne sie Ronja, | |
| weil sie, so wie die anderen Frauen in diesem Text, nicht mit ihrem | |
| richtigen Namen in der Zeitung genannt werden will. Sie hat Angst vor | |
| Stigmatisierung. | |
| An einem regnerischen Frühlingsmorgen sind wir in einem Café verabredet. | |
| Ronja rührt das vor ihr stehende Frühstück nicht an, zu sehr drängt es sie, | |
| ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Sohn lebe bei ihr, erzählt sie, während | |
| die jüngere Tochter nach der Trennung bei ihrem Ex-Partner blieb. Sie habe | |
| in der Schwangerschaft eine chronische Krankheit bekommen und sich nicht in | |
| der Lage gesehen, allein für zwei kleine Kinder zu sorgen. Bei dem Vater | |
| ihres Kindes aber wollte sie nicht bleiben. Er bot an, das Baby bei sich zu | |
| behalten, und sie willigte ein. Er sei ein fürsorglicher Vater und seine | |
| Mutter unterstütze ihn mit der Erziehung, erzählt sie. Alle zwei Monate | |
| lege sie 600 Kilometer zurück, um für ein paar Tage bei ihrer Tochter zu | |
| sein. Ronja sagt, sie bereue es nicht, ihr Baby bei seinem Vater gelassen | |
| zu haben. Aber sie schämt sich trotzdem. Deshalb weiß fast keiner, dass sie | |
| nicht ein, sondern zwei Kinder hat. | |
| Sie kenne noch eine andere Frau, die ihrer Umgebung verschweige, dass sie | |
| ein Kind habe, erzählt die junge Frau. Deshalb sei sie auch davon | |
| überzeugt, dass es viele Frauen mit einem solchen Geheimnis gibt. „Sie | |
| trauen sich nicht, darüber zu reden, weil andere denken, Frauen wie wir | |
| seien schlechte Mütter“, vermutet Ronja. | |
| Das Gespräch lässt mich etwas ratlos zurück. Junge Frauen, die einen | |
| Ex-Partner haben, der das gemeinsame Kind gut versorgt, schämen sich dafür, | |
| wenn sie es bei ihm lassen? | |
| „Bei der Bewertung von Eltern, die von Zuhause ausziehen und ihre Kinder | |
| beim Partner lassen, werden ‚doppelte Standards‘ angelegt“, sagt Marie | |
| Fröhlich, Kulturanthropologin an der Universität Göttingen. Fröhlich | |
| forscht und publiziert zu Fragen von Reproduktion und Care-Arbeit. „Väter, | |
| die gehen, schocken nicht“, stellt sie in unserem Gespräch fest. Mütter, | |
| die gehen, aber schon. „Begründet ist das in der engen ideologischen | |
| Kopplung von Frausein und Mutterschaft, die bis heute tief sitzt.“ | |
| Mutterschaft und Mutterliebe erscheinen als ‚natürlich‘. Dazu kämen | |
| zusätzliche Erwartungen, dass Frauen nicht nur die Sorgearbeit leisten und | |
| das Kind lieben sollten, sondern auch attraktiv und beruflich aktiv sein | |
| müssten, siehe das Phänomen „MILF“. Um Geschlechtergerechtigkeit zu | |
| erreichen, sei es daher dringend notwendig, am gesellschaftlichen | |
| Mutterbild zu rütteln. | |
| Die Glorifizierung der Mutterrolle ist eine verhältnismäßig moderne | |
| Erfindung. Die französische Philosophin Élisabeth Badinter hat sich mit der | |
| Entwicklung des Mutterbildes in Frankreich eingehend beschäftigt. Sie | |
| schreibt in „Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert | |
| bis heute“, dass bis weit ins 18. Jahrhundert hinein um Kinder nicht viel | |
| Aufhebens gemacht wurde. Die angeblich naturgegebene Rollenverteilung gab | |
| es damals noch nicht. Alle gingen zusammen aufs Feld: Mütter, Väter, | |
| Kinder. Schon ab sechs Jahren mussten auch die Jüngsten hart arbeiten. Von | |
| den vielen Kindern, die damals geboren wurden, wurden die meisten | |
| weggegeben: zu einer Amme aufs Land, in eine Lehre, auf einen Hof. Oder, | |
| wer es sich leisten konnte, in eine Pflegefamilie oder ins Internat. Die | |
| Philosophin schließt aus Fallberichten und historischen Aufzeichnungen, | |
| dass sich Mütter oft nicht sonderlich für ihre Kinder interessierten. | |
| Die Rolle der Mutter, so wie wir sie kennen, sei erst mit dem Aufkommen | |
| eines begüterten Bürgertums klar definiert worden, so Badinter. Die Frau | |
| habe zu Hause für Ordnung und Behaglichkeit gesorgt, Erziehung wurde nun | |
| als ein bewusster Akt verstanden. | |
| Erst mit der Psychologisierung der Mutter-Kind-Beziehung im 20. Jahrhundert | |
| sei die Mutter auch für das seelische Wohl ihrer Kinder zuständig gewesen. | |
| Als Gebärende wisse sie intuitiv, was das Kind brauche, hieß es damals. Und | |
| wenn nicht, dann stimme etwas nicht mit ihr. | |
| Statt von einem Mutterinstinkt spricht Badinter von einem Pflichtgefühl, | |
| das bei Frauen kultiviert worden sei. Mutterliebe könne vorhanden sein – | |
| oder auch nicht. | |
| ## Fürsorgeinstinkt | |
| Es fällt mir schwer zu glauben, dass es keinen Mutterinstinkt geben soll. | |
| Nichts roch süßer als der flaumige Nacken meiner Kinder, als sie klein | |
| waren. Wenn die Kleinen weinten, litt ich mit ihnen. Erst als Mutter | |
| erlebte ich, wie weit sich mein Herz öffnen kann.Sind das etwa keine | |
| Merkmale eines Mutterinstinktes? | |
| Das als „Kuschelhormon“ bekannte Oxytocin sei mitverantwortlich für die | |
| Mutter-Kind-Bindung, erfahre ich aus einem Artikel im National Geographic. | |
| Das Hormon werde verstärkt im Gehirn der werdenden Mutter produziert und | |
| steigere ihr Bedürfnis, sich um ihr Kind zu kümmern. Es sei maßgeblich bei | |
| der Mutter-Kind-Bindung beteiligt. Doch Wissenschaftler:innen zufolge | |
| kann das Hormon nicht nur in der Mutter, sondern auch in anderen Personen, | |
| die sich einem Neugeborenen zuwenden, freigesetzt werden. | |
| Elternschaft sei ein Prozess, in dem sich das Gehirn langsam durch Hormone | |
| und Erfahrungen verändere, sagen Annika Rösler und Evelyn Höllrigl | |
| Tschaikner, Autorinnen des Buches „Mythos Mutterinstinkt“. Entscheidend sei | |
| der Kontakt zum Kind und es zu umsorgen, nicht das Gebären an sich. | |
| Wäre es also nicht treffender, statt von einem Mutterinstinkt von einem | |
| Fürsorgeinstinkt zu sprechen? Denn der ist offenbar bei allen Menschen | |
| verschiedenen Geschlechts angelegt. | |
| Einer Frau wird die Mutterrolle als selbstverständlich zugestanden. Ein | |
| Mann muss sich unter Umständen anstrengen, um die rechtliche Anerkennung | |
| als Vater zu bekommen. Das sagt viel über das Mutter- und Vaterbild aus, | |
| das in unserer Gesellschaft auch durch die Gesetzgebung zementiert wird. | |
| Das Bürgerliche Gesetzbuch schreibt der Mutter von Geburt an das Sorgerecht | |
| zu. Im Gegensatz dazu ist der juristische Begriff des Vaters in Deutschland | |
| sozial konstruiert. Als Ehemann der Mutter ist er automatisch auch Vater | |
| ihres Kindes, unabhängig davon, ob er auch der biologische Vater ist. Und | |
| ein nicht verheirateter Vater muss seine Vaterschaft erst anerkennen | |
| lassen, damit er ebenfalls das Sorgerecht erhält. | |
| ## Regretting Motherhood | |
| Dabei gibt es Konstellationen, in denen der Vater der fürsorglichere | |
| Elternteil ist. Und es gibt Frauen, die sich in der Mutterrolle einfach | |
| nicht wohlfühlen. Meine Kusine zum Beispiel. Einmal erklärte sie mir, dass | |
| sie sich gegen Kinder entscheiden würde, wenn sie noch einmal vor der Wahl | |
| stünde. Ihr Bekenntnis schockierte mich. Dass meine Kusine nicht ihre | |
| Kinder, sondern die Mutterrolle ablehnte, verstand ich damals nicht. | |
| Die israelische Soziologin Orna Donath veröffentlichte im Jahr 2016 | |
| Interviews mit Frauen, die ihre Entscheidung bereuten, Mutter geworden zu | |
| sein, ihr Buch „Regretting Motherhood“ („Mutterschaft bereuen“) löste | |
| vielerorts Debatten aus. Vor allem die deutschen Leser:innen habe es | |
| empört, sagt Donath. Hier habe die Diskussion viel länger angehalten als in | |
| Israel. Schließlich nimmt man doch eigentlich an, eine Frau werde es einmal | |
| bereuen, keine Kinder bekommen zu haben. Aber doch nicht andersherum! | |
| Hat auch meine Mutter insgeheim die Entscheidung bereut, Mutter geworden zu | |
| sein? Als Erwachsene fragte ich sie einmal, ob ich ein Wunschkind gewesen | |
| sei. Ein Psychologe habe ihr damals geraten, schwanger zu werden, erfuhr | |
| ich. Er meinte, ein Kind könne ihre Ehe retten. | |
| Meine Eltern waren, kaum volljährig, 1954 als deutsche Auswanderer nach | |
| Australien gekommen. Sie lernten die fremde Sprache, fanden Jobs, | |
| heirateten, bauten ein Haus. Mein Vater begann auf Pferde zu wetten. Meine | |
| Mutter wurde unglücklich. Dann bekam sie mich. Das erste Mal verließ sie | |
| uns, als ich vier war. Drei Monate lang wusste keiner, wo sie war. Mein | |
| Vater vermutete später, sie habe einen Liebhaber gehabt. Und dann war sie | |
| mit einem Mal wieder da und wir machten einfach weiter wie bisher. Aber es | |
| hatte sich etwas verändert. Ich lebte in der ständigen Furcht, sie könnte | |
| wieder gehen. Damit das nicht passierte, wurde ich ein braves Kind, das | |
| keine Fehler machen wollte. Aber es nützte nichts. | |
| Weil sie Heimweh hatte und in einer schwierigen Ehe feststeckte, bestieg | |
| meine Mutter also ein Jahr später das große Schiff. Sie reiste mit ihrer | |
| Mutter, die uns in Australien besucht hatte, zurück nach Deutschland. War | |
| ihr Leben mit einem kleinen Kind zwischen Wäschebergen und Kochtöpfen zu | |
| einsam und eng geworden? | |
| Die drastischste Form von Flucht ist es, sich selbst zu vernichten. In | |
| Mareike Fallwickls 2023 erschienenem Roman „Die Wut, die bleibt“ wird die | |
| Erschöpfung einer Frau geschildert, die ihre Familie auf extreme Weise | |
| verlässt: Helene steht vom Abendbrottisch auf, um Salz zu holen, geht auf | |
| den Balkon und stürzt sich in den Tod. Fallwickl stellt mit dieser | |
| Geschichte dar, wie unterbewertet die meist von Frauen geleistete | |
| Care-Arbeit ist und wie sehr sie in der öffentlichen Debatte vernachlässigt | |
| wird. Und dass sich nichts ändern wird, wenn einfach nur die nächste Frau | |
| in die Lücke springt, die Helene hinterlässt. | |
| Da meine Mutter nicht zurückkehrte, führte nun Oma, die Mutter meines | |
| Vaters, unseren Haushalt. Sie achtete darauf, dass ich die Briefe meiner | |
| Mutter pünktlich beantwortete. Manchmal ergänzte sie sie mit ein paar | |
| freundlichen Sätzen. Alle anderen regten sich darüber auf, dass meine | |
| Mutter nicht zurückkam. Wäre mein Vater weggegangen, wäre die Aufregung | |
| vermutlich nur halb so groß gewesen. Nur meine Oma schien meine Mutter zu | |
| verstehen. | |
| Die Gründe, weshalb Mütter nicht durchgängig in die Betreuung ihrer Kinder | |
| involviert sind, würden unterschiedlich bewertet, sagt Kulturanthropologin | |
| Fröhlich. Dabei käme es auf ihren gesellschaftlichen Platz an. „Eine | |
| Mutter, die bisher die Hauptverantwortung für die Care-Arbeit trug und | |
| auszieht, wird anders betrachtet als eine Top-Managerin, die beruflich viel | |
| unterwegs ist – obwohl beide in gleichem Umfang in die Sorgeverantwortung | |
| und Kinderbetreuung eingebunden sein können.“ Während die eine sich schnell | |
| mit dem Vorwurf konfrontiert sehe, ihre Kinder ‚verlassen‘ zu haben, | |
| scheine das Verhalten der anderen nur wenig erklärungsbedürftig. | |
| Meine Mutter ging freiwillig. Viele andere nicht. Manche fliehen aus einer | |
| Situation, die ihr Leben bedroht. | |
| ## Häusliche Gewalt | |
| Während meiner Recherche zu diesem Text besuche ich auch ein | |
| Frauenschutzhaus. Zwei Mitarbeiterinnen empfangen mich in ihrem hell | |
| angestrichenen Büro. Sie erzählen, dass es hin und wieder vorkomme, dass | |
| Frauen ohne ihre Kinder bei ihnen Zuflucht suchen. | |
| „Er hätte mich umgebracht, wenn ich die Kinder mitgenommen hätte“, zitiert | |
| eine Mitarbeiterin eine Klientin, die die rasende Wut ihres Mannes | |
| gefürchtet habe. Andere würden Hals über Kopf flüchten und später | |
| versuchen, ihre Kinder nachzuholen. Und manchmal käme es vor, dass eine | |
| Frau aus einer islamisch geprägten Familie verstoßen würde und dann ohne | |
| ihre Kinder käme, ergänzt die andere. Diese Frauen kämen mit der Situation | |
| oft besser zurecht als andere. „Sie haben schließlich keine andere Wahl“, | |
| so die Mitarbeiterin. Es sei kulturell vorgegeben, dass die Kinder in der | |
| Familie des Mannes blieben. Unter der Sehnsucht nach ihren Kindern litten | |
| sie oft trotzdem. | |
| Häusliche Gewalt wird auch von mehreren meiner Gesprächspartnerinnen als | |
| Grund ihres Weggehens genannt. Drei von ihnen haben es so lange bei ihrem | |
| Partner ausgehalten, bis die Kinder fast volljährig waren. Oder sie | |
| blieben, bis ein Katastrophenfall eintrat. Erst dann befreiten sie sich. | |
| Die Geschichten dieser Frauen sind natürlich anders gelagert – denn oft | |
| handeln sie aus Not. | |
| Mit Claire telefoniere ich drei Mal. Als sie mir ihre Geschichte erzählt, | |
| sehe ich vor meinem inneren Auge einen Film ablaufen. | |
| „An manchen Tagen genügte ein falsches Wort und mein Mann schlug, schrie | |
| und beschimpfte die Kinder. Aber nicht immer in meiner Gegenwart“, erzählt | |
| Claire. Heimlich konsultierte sie eine Anwältin. „Sie rechnete mir vor, wie | |
| meine finanzielle Situation aussehen würde, wenn ich wegginge. Und riet | |
| mir, die Situation auszuhalten.“ Ihr Mann drohte, die Kinder zu behalten, | |
| sollte sie sich trennen. | |
| Den Moment, der ihr Leben komplett auf den Kopf stellte, würde Claire am | |
| liebsten löschen. „Er drängte mich an die Wand, provozierte und beschimpfte | |
| mich, wie so oft. Plötzlich stiegen die vielen Jahre, die ich bei ihm | |
| ausgehalten hatte, mit voller Wucht in mir auf. Nur ein Moment länger und | |
| ich hätte ihn umgebracht.“ Claire streifte ihren Ring ab, legte ihn auf den | |
| Tisch und schnappte den Autoschlüssel. In diesem Ausnahmezustand war nichts | |
| anderes möglich, als einfach zu gehen. Ohne die Kinder. | |
| ## Angst vor Armut | |
| Viele Jahre Streit um die Kinder, die sie nachholen wollte, haben sie | |
| ausgebrannt. „Alle haben in ihm immer nur den armen Mann gesehen, der mit | |
| den Kindern sitzengelassen wurde“, sagt sie. Sie selbst aber bleibe in den | |
| Augen anderer eine Rabenmutter. „Keiner hat begriffen, dass ich uns vor | |
| einem großen Unheil bewahrt habe, indem ich ging. Er durfte weiterleben, | |
| und ich musste nicht ins Gefängnis.“ | |
| Die Polizei schaltete Claire nie ein, schließlich war sie nicht körperlich | |
| angegriffen worden. Doch dass psychische Gewalt als eine ebenso schlimme | |
| Form von Gewalt verstanden wird, war ihr damals nicht klar. Und auch nicht, | |
| dass Frauenhäuser Frauen mit ihren Kindern bei jeglicher Art von Gewalt | |
| aufnehmen. Vielleicht hätte ihr ein frühzeitiges Beratungsangebot | |
| weiterhelfen können. | |
| Oft hält die Angst vor Armut Frauen davon ab, früher zu gehen. Nach der | |
| Trennung bekommen viele Frauen ihren Unterhalt und den Kindesunterhalt von | |
| ihren Ex-Partnern nur unregelmäßig oder nicht in voller Höhe. | |
| Aber es gibt eine spezielle staatliche Leistung für Alleinerziehende, den | |
| Unterhaltsvorschuss, wenn vom anderen Elternteil kein Unterhalt eintrifft. | |
| Das Einkommen des alleinerziehenden Elternteils ist dabei unerheblich. Das | |
| mag für eine Grundversorgung reichen. Aber es verhindert nicht, dass die | |
| Frauen einen sozialen Abstieg erleben, der ihnen Angst macht. | |
| ## Aus Liebe zu den Kindern | |
| Wenn sich Frauen aus häuslichen Gewaltsituationen lösen, machen sie es oft | |
| mit der letzten Kraft, die ihnen verblieben ist. Und die reicht nicht immer | |
| dafür aus, ihre Kinder in eine neue, unübersichtliche Situation | |
| mitzunehmen. Sie wollen erst das Wohnen, Kindergarten, Schule und die | |
| finanziellen Verhältnisse klären. | |
| Aber das Nachholen der Kinder gelingt dann nicht immer. Wenn der Mann nach | |
| dem Auszug der Frau sogleich den Antrag auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht | |
| stellt und die Mutter in ungeklärten Verhältnissen lebt, hat er gute | |
| Chancen, die Kinder zu behalten, erfahre ich von einer Familienanwältin aus | |
| dem Bekanntenkreis. Bei der gerichtlichen Beurteilung, wo das Kind besser | |
| aufgehoben sei, gebe es den Aspekt, das Kind möglichst nicht aus seiner | |
| gewohnten Umgebung zu reißen. Meine Gesprächspartnerinnen berichteten mir, | |
| dass sie trotz der schwierigen Umstände den Kontakt zu ihren Kindern | |
| aufrechterhalten konnten. | |
| Auch mit Heike spreche ich. Sie ist heute 60 Jahre alt, und sie ließ einst | |
| ihre beiden acht- und neunjährigen Kinder bei ihrem Ex-Partner. Heike nahm | |
| eine neue Beziehung als Sprungbrett, um sich von ihrem Partner zu lösen, | |
| von dem sie sich nicht wahrgenommen fühlte. „Wenn ich etwas mit ihm allein | |
| machen wollte, wunderte er sich darüber“, berichtet sie. Als sie auszog, | |
| wusste sie, dass er um die Kinder kämpfen würde. Das wollte sie den Kindern | |
| ersparen. Außerdem hätte es das weitere gemeinsame Erziehen der Kinder | |
| erheblich erschwert. Sie fand eine geräumige, bezahlbare Wohnung, und die | |
| Kinder begannen, genauso oft bei ihr zu übernachten wie beim Vater. In | |
| ihrem Bekanntenkreis habe es für das Zurücklassen der Kinder wenig | |
| Verständnis gegeben, erzählt sie. „Alle haben in mir nur die starke Frau | |
| gesehen, die macht, was sie will. Aber so habe ich mich nicht gefühlt. Ich | |
| war oft traurig und habe die Kinder vermisst.“ Dass die gemeinsame | |
| Erziehung mit dem Ex-Partner weiterhin gut funktionierte, hält Heike unter | |
| anderem dem „Wechselmodell“ zugute. | |
| In diesem Fall sind die Kinder wechselweise in beiden elterlichen | |
| Haushalten zu Hause. Überwiegt der zeitliche Aufenthalt bei einem | |
| Elternteil, zum Beispiel 40 Prozent beim Vater und 60 Prozent bei der | |
| Mutter, ist von einem „asymmetrischen Wechselmodell“ die Rede. Eine | |
| Voraussetzung dafür ist die räumliche Nähe der Wohnungen beider Elternteile | |
| zueinander. | |
| Für das kindliche Wohlergehen seien vor allem positive Familienbeziehungen | |
| und ein regelmäßiger Kontakt zum anderen Elternteil wichtig, sagt eine | |
| Studie. Unabhängig davon, auf welches Betreuungskonzept sich die Eltern | |
| geeinigt haben. | |
| ## Ein Analphabet im Haushalt | |
| Ich war in der zweiten Klasse, als meine Mutter verlangte, ich solle zu ihr | |
| nach Deutschland ziehen. Alle waren sich einig, dass ein Kind zu seiner | |
| Mutter gehört. So gab mein Vater nach. Meine Mutter und ich hatten uns drei | |
| Jahre nicht gesehen, als ich am Flughafen in Hannover ankam. Ich erkannte | |
| sie nicht am Aussehen, sondern an ihrem Duft, eine Mischung aus Make-up und | |
| Niveaseife. Mit acht Jahren sauste ich zum ersten Mal auf einem Schlitten | |
| über verschneite Hügel, so etwas kannte ich aus Australien nicht. | |
| Was blieb, war die Sehnsucht. Nur richtete sie sich jetzt auf meinen Vater, | |
| der zwar auch wieder in Deutschland lebte, den ich aber nur einmal im Monat | |
| sah. Die Sehnsucht nach ihm war nicht kleiner, als es die nach meiner | |
| Mutter gewesen war. | |
| Als ich zehn war, ließen sich meine Eltern scheiden. Das Thema Betreuung | |
| wurde neu verhandelt. Am liebsten hätte ich wieder bei meinem Vater gelebt, | |
| denn er war der ausgeglichenere und liebevollere Elternteil von beiden. | |
| Aber aus Loyalität zu meiner Mutter verriet ich niemandem meinen Wunsch. | |
| Richtig nachgefragt, was ich möchte, hat sowieso keiner. Außerdem war mein | |
| Vater im Haushalt ein Analphabet. | |
| Bis heute liegt die Hauptverantwortung für die Care-Arbeit überwiegend bei | |
| der Frau. Sind sich Männer darüber bewusst, dass sie damit auf wichtige | |
| Kompetenzen verzichten? Würden Mutter- und Vaterrollen als gleich wichtig | |
| erachtet, wiesen Väter ebensolche Care-Kompetenzen wie Mütter auf, könnte | |
| es für beide Elternteile leichter sein, auf Augenhöhe zu kommunizieren. | |
| In seinem Buch „Vatersein“ (2022) sieht Tillmann Prüfer, der selbst Vater | |
| von vier Kindern ist, im neuen Feminismus besonders für Männer eine große | |
| Chance. Sie sollten die historische Möglichkeit nutzen, aus den tradierten | |
| Männerrollen auszubrechen, und sich fragen: Was will ich als Vater? Was | |
| sollen meine Kinder davon haben? Wie werden wir alle glücklicher? | |
| ## Ein Generationenproblem | |
| Nelly, 36, meldet sich, weil sie früher selbst ein Kind war, das von ihrer | |
| alleinerziehenden Mutter oft alleingelassen wurde. Wir verabreden uns auf | |
| Zoom. | |
| Als ihre Mutter beruflich eine Weile ins Ausland ging, war Nelly zehn, | |
| berichtet sie. „Eine Studentin zog bei uns ein. Sie zahlte wenig Miete und | |
| sollte dafür ein Auge auf mich haben.“ Aber die Studentin zeigte wenig | |
| Interesse an ihrer jungen Mitbewohnerin. Die einsamen Nachmittage | |
| verbrachte Nelly oft am Telefon, um mit ihren Freundinnen zu sprechen. Als | |
| ihre Mutter nach einem halben Jahr zurückkam, schimpfte sie über die hohe | |
| Telefonrechnung. Den Zusammenhang zwischen der Einsamkeit ihrer Tochter und | |
| den langen Telefonaten sah sie nicht. | |
| Gegenüber ihrer verstorbenen Mutter ist Nelly heute milde gestimmt: „Ein | |
| knappes Einkommen, familienfeindliche Arbeitszeiten und ein Ex-Partner, der | |
| sich nicht kümmerte.“ Dazu kam: Ihre Mutter hatte selbst keine fürsorgliche | |
| Mutter gehabt. Diese hatte sie verlassen, als sie noch ein Kind war. Der | |
| Vater, voll berufstätig, gab die Tochter an seinen Bruder. „So lebte sie | |
| erst bei Onkel und Tante und ab dem Alter von sieben in mehreren | |
| Internaten. Woher hätte sie wissen sollen, was ein Kind braucht?“ | |
| Nellys Verständnis für ihre Mutter bringt mich zum Nachdenken. Meine Mutter | |
| war rebellisch und wurde von ihrem Vater oft verprügelt. Seinen Anfällen | |
| war sie schutzlos ausgeliefert. Demnach hatte auch sie emotionale Fürsorge | |
| vermisst. Könnte das ein Grund dafür sein, weshalb sie wenig Empathie für | |
| mich aufbrachte? | |
| In ihrer Freizeit war meine Mutter fast nur mit mir zusammen. Wenn sie am | |
| Abend nach Hause kam, sprach sie mit mir wie mit einer Erwachsenen. | |
| Manchmal schlief ich neben ihr ein, während sie ihr Leid klagte: über die | |
| anstrengende Arbeit in der Fabrik, über ihre Einsamkeit. Ihre labile | |
| Gesundheit. Früher hatte sie Akkordeon gespielt, als sei das Instrument ein | |
| Teil von ihr. Wenn sie Geschichten erzählte, hingen alle an ihren Lippen. | |
| Wann war das zuletzt vorgekommen? | |
| Den Begriff Mental Load gab es für ihre Symptome noch nicht: Migräne, | |
| Schlafstörungen, depressive Verstimmungen. Sie war ständig gereizt. Aber in | |
| den Augen anderer war meine Mutter einfach nur „seelisch labil“. | |
| ## Den Muttertag vergessen | |
| Kaum achtzehn geworden, zog ich aus. Mit einem Blumenstrauß in der Hand und | |
| einem schlechten Gewissen stand ich ein paar Wochen später vor ihrer Tür. | |
| Ich hatte den Muttertag verpasst. Ein Tag, der ihr besonders wichtig war. | |
| Vielleicht brauchte sie ihn als Bestätigung, dass sie eine gute Mutter war. | |
| Aber ihr Name auf dem Klingelschild war verschwunden. Sie war weggezogen | |
| und hatte sich nicht einmal von der Nachbarin verabschiedet. Meine | |
| Großmutter erklärte, meine Mutter wolle nichts mehr mit mir zu tun haben. | |
| Zuerst war ich froh, die komplizierte Beziehung losgeworden zu sein. Aber | |
| dann kamen die Sorgen. Wer würde ihr jetzt zuhören? Sie beraten, wenn sie | |
| nicht weiterwusste? | |
| Nach einem Jahr erfuhr ich, dass sie nun in Berlin lebte. Sie nahm meine | |
| Entschuldigung für den vergessenen Muttertag an, und wir trafen uns wieder. | |
| Mehrere Jahre später wuchs im Kopf meiner Mutter ein Tumor. Auch eine OP | |
| und Bestrahlungen nützten nichts. „Ich habe doch noch gar nicht fertig | |
| gelebt“, sagte sie. Irgendwann konnte sie nicht mehr reden, und sie bewegte | |
| sich kaum noch. Ich schob ihr Bett ans Fenster. So konnte sie den Blick in | |
| den Himmel richten. | |
| Als sie mich zum letzten Mal verließ, war ich nicht da, um ihre Hand zu | |
| halten. Ich weiß nicht einmal, ob sie es gewollt hätte. | |
| Die Autorin Laura Catoni bedankt sich am Ende ihres taz-Essays „War nicht | |
| alles gut, so wie es war?“ bei ihrer Mutter. Zu lange habe sie ihre | |
| Leistungen – und damit die aller anderen Mütter in unserer Gesellschaft – | |
| nicht anerkannt, sondern als selbstverständlich hingenommen. Damit findet | |
| sie einen versöhnlichen Abschluss für ihre Geschichte. | |
| Mit einem solchen kann ich leider nicht dienen. Ich hatte nie den Impuls, | |
| mich bei meiner Mutter zu bedanken. Es ist zu viel zwischen uns | |
| schiefgelaufen. | |
| Doch während ich diesen Text schrieb, hatte ich manchmal das Gefühl, sie | |
| sitze neben mir. Jetzt, da ich die letzten Worte tippe, sagt meine Mutter | |
| zum ersten Mal etwas. | |
| „Bis du erwachsen warst, war ich die meiste Zeit bei dir“, erinnert sie | |
| mich. | |
| „Ich war nicht nur eine Mutter, die weggegangen ist.“ | |
| Ich nicke. | |
| Das stimmt. | |
| 17 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christine Leutkart | |
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| Diskriminierung im öffentlichen Dienst: Wie der Staat Mutterschaft bestraft | |
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| nacharbeiten, um eine höhere Lohngruppe zu erreichen. Britta J. klagt | |
| dagegen. | |
| Mutterschaft auf der Bühne: Her mit dem modernen Mutterbild! | |
| In Theatern in Berlin und Potsdam reflektieren Autorinnen und | |
| Regisseurinnen: Warum ist der gesellschaftliche Umgang mit Müttern oft so | |
| ungerecht? | |
| Mutter werden oder nicht?: Bis das letzte Ei gesprungen ist | |
| Es wurde viel über Frauen gesprochen, die ihre Mutterschaft bereuen. Unsere | |
| Autorin wollte die meiste Zeit kein Kind. Jetzt ist sie 38 und fragt sich, | |
| ob das ein Fehler war. |