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# taz.de -- Die Zukunft des Radiofeatures: Geht’s noch ins Ohr?
> Lange war das Radiofeature der verdiente Star der Medienwelt. Doch dann
> kam der Podcast. Wie das Genre die Digitalisierung trotzdem überstehen
> kann:
Bild: Das Radio-Feature lebt!
Ein Radiofeature über das Radiofeature könnte so beginnen: Zunächst hört
man ein rauschendes Radio. Jemand dreht am Regler eines Röhrenradios, bis
das Rauschen und Knacken verstummen. Eine O-Ton-Collage ertönt: „Mein
Fenster ist das Radio“, sagt eine ältere Stimme; „Unsichtbares wird
hörbar“, eine andere. Eine professionelle Sprecherin fragt: „Ist das
Radiofeature ein Relikt des vorigen Jahrtausends?“ Es geht um die Sorge, ob
dieses einzigartige Genre die Digitalisierung des Hörfunks und die
Podcastisierung des Radios überstehen kann.
Die zentrale Protagonistin des Radiofeatures, das Radiofeature selbst,
erzählt ihre Geschichte: Lange bevor es [1][Podcasts], Audiotheken und
Streaming-Anbieter gab, etablierte sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in
Deutschland. Ihre Vorbilder kamen von der [2][BBC in Großbritannien], wo
aufwendige, längere Radiobeiträge des Abendprogramms tagsüber beworben
wurden, „gefeaturet“ eben.
In den 1950er und 1960er Jahren war das Radiofeature vor allem ein
Autorenfeature: Der Ton war geprägt von im Studio vorgelesenen schweren
Texten von Schriftstellern. In den 1970er Jahren änderte sich der Klang
grundlegend: Als die technischen Möglichkeiten es erleichterten, die Welt
außerhalb der Studios einzufangen, kamen Stimmen aus dem Leben ins Radio.
Nicht mehr der Autorentext war fortan das Herzstück, sondern der O-Ton. Das
Radiofeature wurde dokumentarischer.
Eine junge Stimme mit austro-bairischem Akzent erklingt. Johanna Tirnthal,
selbst Feature-Autorin und Regisseurin, springt dem Radiofeature zur Seite.
Es sei die perfekte Form, das sinnliche Potenzial der Audiowelt zu nutzen,
denn es gehe dabei nicht um bloße Vermittlung von Information. „Mit einem
Feature kann ich Menschen an Orte mitnehmen, von denen sie nicht einmal
wussten, dass sie existieren.“
## Der Aufstieg des Podcasts
Es folgt eine Collage mit Ausschnitten aus Radiofeatures: etwa wie der
85-jährige Erich Graf Anfang der 1980er von seinem Leben erzählt, als
wahrscheinlich letzter Scherenschleifer der Stadt; wie Frauen eindringlich
von gewaltvollen Erfahrungen im Kreißsaal berichten; wie 1977 an
süddeutschen Stammtischen sich Frauen und Männer in Gewalt- und
Tötungsfantasien gegen RAF-Mitglieder und -Sympathisanten übertrumpfen. Das
unscheinbare Mikrofon gelangt an Orte, die der Kamera verschlossen bleiben.
Ein paar Zahlen und Fakten werden eingestreut, die zeigen, dass sich die
Voraussetzungen des Radios momentan stark ändern: Laut aktueller
Audioversum-Studie der ARD lauschten 2023 Menschen ab 14 Jahren
durchschnittlich 87 Minuten täglich am Radiogerät. 2019 waren es noch 102
Minuten. Im gleichen Zeitraum ist die Nutzung via Smartphone von 34 Minuten
(2019) auf 39 Minuten (2023) gestiegen. Vor allem Podcasts aller Art
werden immer mehr gehört: Laut Branchenverband Bitkom hören heute 45
Prozent der Menschen in Deutschland ab 16 Jahren hin und wieder Podcasts.
Vor vier Jahren waren es 33 Prozent.
Die Radiofeature-Protagonistin erklärt, dass sie immer häufiger Podcast
genannt wird. Doch der Podcast steht mittlerweile für eine bestimmte
Erzählweise, weshalb die Radiofeature-Protagonistin sich nicht immer
angesprochen fühlt. Beim „Laberpodcast“ sind ein oder mehrere Hosts zu
hören, die über spezielle Themen sprechen, häufig ganz ohne Einspieler. Der
Doku-Podcast hingegen erinnert in vielerlei Hinsicht an das Radiofeature,
ist mitunter auch aufwendig produziert, aber im Gegensatz zum Radiofeature
meist seriell, während das Radiofeature in der Regel knapp eine Stunde
dauert und in sich abgeschlossen ist.
Im Radiofeature über das Radiofeature wäre nun der Zeitpunkt, dass die
Protagonistin ihre zentrale Herausforderung schildert: Obwohl es gerade
einen Podcast-Boom gibt und auch Doku-Podcasts ein Millionenpublikum
erreichen, befindet sich das Radiofeature gerade in einer Krise.
## Betreutes Hören
Düstere Musik ertönt. Eine Sprecherin erklärt deutlich und bestimmt, dass
in öffentlich-rechtlichen Sendern inzwischen weniger klassische
Radiofeatures zu hören sind. Stattdessen laufen auf den Sendeplätzen
Doku-Podcasts.
Ein weiterer O-Ton-Geber ist zu hören. Er stellt sich selbst vor: „Ich bin
Michael Lissek. Ich war lange Jahre Feature-Autor und bin inzwischen beim
SWR als Redakteur für Features zuständig.“ Es drohe die „Podcastisierung�…
des Radiofeatures, sagt er. Der Unterschied zwischen gängigem Doku-Podcast
und klassischem Radiofeature zeige sich etwa bei der Ansprache. Während das
Radiofeature gerne auch mal ohne Sprecher auskommt, gibt es beim
etablierten Doku-Podcast in der Regel einen oder mehrere Hosts, die die
Hörenden buchstäblich an die Hand nehmen. „Betreutes Hören“ nennt Lissek
das und kritisiert eine strukturelle Unterforderung des Publikums.
Eine neue Stimme ist zu hören, die die Radiofeature-Protagonistin beruhigen
möchte: Johannes Nichelmann, selbst einst Feature-Autor gewesen, arbeitet
heute bei einer selbst gegründeten Audioproduktionsfirma, Studio Jot. Die
Podcast-Welt sei sehr vielfältig, sagt er. Der kumpelhafte Host, der
haarklein jeden Schritt seiner Recherche erzählt, sei vielleicht nur eine
Mode, die gerade wieder zurückgefahren werde. Die Podcast-Welle sieht
Nichelmann positiv. Durch die einfacheren technischen Möglichkeiten gebe es
eine Demokratisierung der Audiowelt und vielfältigere Produkte, die auch
ein breiteres, jüngeres und diverseres Publikum erreichen würden.
Eine Krise des Doku-Features [3][im Öffentlich-Rechtlichen] sieht
Nichelmann nicht, allenfalls eine des traditionellen künstlerischen
Radiofeatures. Diese sei aber auch hausgemacht, denn die
Feature-Verantwortlichen hätten es in einigen Anstalten verpasst, einen
Generationenwechsel einzuleiten, junge Autorinnen und Autoren zu fördern
und zu halten.
## Ein verändertes Nutzungsverhalten
Zum zweiten sei der Medienwandel verschlafen und das veränderte
Nutzungsverhalten nicht ausreichend reflektiert worden. Auf digitalen
Plattformen, bei privaten Anbietern wie bei der ARD Audiothek, muss man
lange und kompliziert suchen, bis man auf die hochwertigen Radiofeatures
stößt. Das findet Nichelmann nicht mehr zeitgemäß, auch angesichts der
Kosten, die ein aufwendig produziertes Radiofeature macht.
Feature-Autorin Johanna Tirnthal kommt noch einmal zu Wort und äußert sich
kritisch in Bezug auf die Orientierung an Zahlen: „Die Diskussion um die
Zukunft des Features berührt eine Grundfrage des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks: Machen wir vor allem Programm, das sich verkauft – oder ist
nicht auch Teil des Auftrags, etwas Hochwertiges wie das Radiofeature zu
machen, das sich aber nicht unbedingt verkaufen muss?“ Laut
Rundfunkstaatsvertrag besteht der Auftrag öffentlich-rechtlicher
Rundfunkanstalten darin, die demokratischen, sozialen und kulturellen
Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen.
Noch einmal ertönt ein Ausschnitt aus einem Radiofeature, um zu zeigen,
welche Möglichkeiten die klassische Form eines Radiofeatures bietet. Es
geht um das Stück „Ein Funkenfeuer in mir. Jan, Porträt eines Freundes“ v…
Thomas David, das Michael Lissek produziert hat. Es ist viel von Jan zu
hören: dass er die Coronamaßnahmen ablehnte, den Umgang mit jenen, die sich
nicht impfen lassen wollten, als schrecklich empfand. Eher anhand von
Aussagen seines Umfelds werden Abgründe der Vergangenheit und der Seele des
Protagonisten deutlich.
Hier zeigt sich, was ein gut gemachtes Feature ermöglichen kann: Räume
öffnen, Fragen stellen, Zwischen- und Grautöne herausarbeiten und
offenlegen. Ob eine an gängige Erzählweisen angepasste Podcast-Serie, bei
der ein Host immer gleich die Interpretation liefert, so etwas könnte,
bleibt fraglich.
## Zwischen Fakten und Unterhaltung
Dass beides geht, sagt eine letzte neue Stimme. Ulrike Ebenbeck leitet beim
BR die Redaktion Hörspiel, Dokumentation und Medienkunst. Sowohl das
klassische Radiofeature als auch serielle Doku-Podcasts hätten ihre
Berechtigung und ihr Publikum. Insgesamt seien Dokus stark nachgefragt. Sie
würden sich aber verändern: „Was für die Hörerinnen und Nutzer heute am
meisten zählt, sind neben der Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt
wird, die Protagonist*innen beziehungsweise Charaktere, deren
Entwicklung und der Spannungsbogen einer Story“, sagt sie. „Das Publikum
will auch bei der Vermittlung von Fakten und Rechercheergebnissen ein
Stückweit unterhalten werden.“
Zum Schluss des Radiofeatures kommt ein Epilog der zentralen Protagonistin
selbst. Vielleicht, sagt sie, ist ein Nebeneinander von Doku-Podcast-Serien
wie „Cui Bono: Wer hat Angst vorm Drachenlord“ oder „Teurer Wohnen“, die
die Breite ansprechen, und ihr, dem klassischen Radiofeature, das sich eher
in einer Nische aufhält, möglich. Im Idealfall ergänzen sich die Formen und
profitieren voneinander: das Feature von der Popularität der Podcasts,
indem jüngere Nutzergruppen auch das Radiofeature entdecken; die Podcasts
von Handwerk, Erzählweisen und Technik der Feature-Szene.
Ob sie selbst als eigenständiges Genre den aktuellen Wandel in der
Audiowelt aber übersteht, weiß sie nicht. Es wird, sagt sie, von den
Entscheidern in den öffentlich-rechtlichen Sendern abhängen. Aber auch
davon, ob es gelingt, das Feature mehr Menschen zugänglich zu machen.
17 Aug 2024
## LINKS
[1] /Podcast-Guide/!t5027040
[2] /BBC/!t5013742
[3] /Oeffentlich-Rechtlicher-Rundfunk/!t5015122
## AUTOREN
Sebastian Friedrich
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