# taz.de -- „Hamlet“ beim Wiener Impulstanz Festival: Nackt, fragil und mit… | |
> Die südafrikanische Choreographin Dada Masilo verschafft Shakespeares | |
> „Hamlet“ ein zweites Leben. Es liegt jenseits der Hegemonieansprüche | |
> Europas. | |
Bild: Dada Masilo als Ophelia bedeckt die Toten mit Blüten und spricht leise B… | |
In einer „Hamlet“-Aufführung kommt je nach Textfassung irgendwann in der | |
dritten Stunde nach vielen Worten das große Finale. Fünfter Akt, zweite | |
Szene: Duell mit offenem Ausgang, in dem alle verlieren können und es auch | |
tun. Claudius, König und Schurke, vergiftet eine Schwertspitze und den | |
Trunk im Siegerpokal, Hamlet ficht mit Laertes, seinem Freund und | |
Widersacher. Im Tumult verletzen sich beide an der doppelt tödlichen | |
Klinge. | |
Die Intrige fliegt auf, Hamlet flößt Claudius den giftigen Kelch ein, | |
Mutter Gertrude hat schon getrunken, den Tod des Sohns vor Augen hat sie | |
ihre Schuldigkeit getan und kann gehen. Im letzten Atemzug erkennen | |
soldatische Körper wahre Freundschaft nur unter Männern, Hamlet und Laertes | |
versöhnen sich. Der Krise folgt die Rückkehr zu legitimer Herrschaft. „Der | |
Rest ist Schweigen.“ | |
In ihrer Auseinandersetzung mit „Hamlet“ gelangt die südafrikanische | |
Tänzerin und Choreografin Dada Masilo bei der Premiere beim Impulstanz | |
Festival im Wiener Burgtheater schon nach etwas mehr als einer Stunde zu | |
einem Ende, fertig ist sie damit noch lange nicht. Sie fragt nach dem, was | |
hinter dem Schweigen liegt, versucht im Tanz hervorzukehren und | |
hervorzulocken, woran die Worte versagen. | |
Der Showdown des fünften Akts ist tanzend bis zur Kenntlichkeit verfremdet, | |
ein Schwert, drei Kelche wie gehabt, dann erscheinen immer mehr | |
Tänzer:innen. Ihr expressives Ineinander klärt sich, bis das gesamte | |
Ensemble die Szene erobert und ein jeder mit seinem Kelch den Tanz bis zur | |
tödlichen Erschöpfung steigert. Eine junge Frau betritt die Bühne – nackt, | |
waffenlos, fragil, mit Blumen im Arm. Es ist die längst vergessene Ophelia. | |
Dada Masilo lässt sie bis zum Schluss leben und spielt sie selbst. | |
## Unzeitgemäße Fragen nach dem Ganzen | |
Die Gewalt der Tragödie führt in nichts Neues, die Krise scheidet nicht | |
legitime Herrschaft von der Tyrannei, der Blutzoll der Geschichte bleibt | |
zweifelhaft als Preis des Fortschritts. Die zerbrechliche Ophelia bedeckt | |
die Toten mit ihren Blüten und spricht leise Bruchstücke aus ihrem | |
Blumenmonolog. Jetzt erst wird Ophelia verrückt, wer wollte es ihr | |
verdenken? Dada Masilo benetzt in der Andeutung des Suizids ihrer Figur aus | |
einem Glasgefäß ihr Gesicht und den kahlen Kopf mit Wasser. Der Rest ist | |
Trauer. | |
Bei Impulstanz in Wien sind Dada Masilo und ihr Ensemble The Dance Factory | |
seit gut zehn Jahren gern gesehene Gäste. Ihre Arbeiten bilden einen | |
deutlichen Kontrast zu vorherrschenden Tendenzen im zeitgenössischen Tanz, | |
zu den vielen kleinteiligen Formaten, zum Kreisen um Identitätsfragen in | |
immer engeren Kurvenradien, zur solipsistischen Auseinandersetzung an den | |
Grenzen des Körpers oder vielmehr seiner Fiktion hin zu dem, was | |
möglicherweise Gesellschaft ist. | |
Gegen den gesteigerten Partikularismus einer Spätavantgarde kann Dada | |
Masilo als einstige Außenseiterin unzeitgemäße Fragen nach dem Ganzen | |
stellen. Sie setzt sich mit der europäischen Balletttradition ebenso | |
auseinander wie mit zeitgenössischen Formen und afrikanischen | |
Tanztraditionen. Sie entwickelt daraus ein vollkommen eigenes Vokabular. | |
Das führt sie nicht in den Eklektizismus, es gelingen ihr vielmehr | |
erstaunliche Synthesen. | |
In „The Sacrifice“ (2021) etwa korrespondieren nicht nur Strawinskys Musik | |
und afrikanische Tanzformen. Masilo stellt in der Dezentrierung immer | |
wieder auch Elemente europäischer Ideologie infrage. Sie verweigert etwa | |
[1][das symbolische Frauenopfer in „Le sacre du Printemps“ und die | |
Überwindung der Natur zur Entfaltung eines immer männlich gedachten | |
Geistes]. | |
## Ein eitler Geck im Frack | |
„Hamlet“ ist nach den „großen“ Stücken des romantischen Balletts ein | |
weiteres Monument europäischer Tradition, dem sich Dada Masilo in | |
kultureller Aneignung gegen die Richtung des Herrschaftsgefälles nähert. Es | |
lohnt sich bei dieser Umkreisung des Stoffs die Ophelia-Perspektive auf | |
der, wenn man so will, Rückseite des Mondes einzunehmen. Wie Rhapsoden der | |
Antike künden eine Sängerin und drei dezent agierende Instrumentalisten vom | |
Grauen aus dem dunklen Norden. | |
Hamlet, gesprochen von Aphiwe Dike, getanzt von Leorate Dibatana, ein | |
eitler Geck im Frack, löst sich aus der Hofgesellschaft, spricht seinen | |
berühmtesten Monolog. Das Liebesduett mit Ophelia bleibt brüchig. Weibliche | |
Unterordnung als symmetrische Paarbeziehung zu camouflieren, gelang zu | |
Shakespeares Zeiten nicht recht. | |
Ophelia taucht ab, Dada Masilo nimmt den Beobachtungsposten als | |
handlungstreibende Ensemblekraft ein bis hin zur Szene, die das | |
Mordkomplott aufdeckt. Die mit Albert Khoza genderfluid besetzte Gertrude | |
spricht Masilo von der Mittäterschaft frei und gibt ihr eine innige | |
Mutter-Tochter-Beziehung zu Ophelia. Zwischen ihrem fragilen Körper und der | |
mächtigen goldbehängten Gertrude entsteht etwas, für das elisabethanische | |
Männerbünde keine Worte hatten. | |
25 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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