# taz.de -- Reporter Dündar und Türfent über Türkei: „Mein Heimweh ist ri… | |
> Nedim Türfent saß in der Türkei im Knast, Can Dündar floh ins Exil. Im | |
> Interview sprechen die Journalisten über ihre Heimat – und über Julian | |
> Assange. | |
Bild: Nelim Türfent und Can Dündar beim Gespräch zu Gast bei der taz in Berl… | |
wochentaz: Julian Assange wurde aus einem britischen Gefängnis entlassen, | |
hat einen Deal mit den Vereinigten Staaten geschlossen und ist in seine | |
Heimat Australien zurückgekehrt. Was denken Sie über diese Entwicklung? | |
Can Dündar: Ich habe vor ein paar Tagen meine Fernsehdokumentation über | |
Julian Assange fertiggestellt, die in einer Woche ausgestrahlt werden soll. | |
Natürlich ist es sehr erfreulich, dass er freigelassen wurde, aber im | |
Gegenzug musste er einen sehr hohen Preis zahlen, indem er sich schuldig | |
bekannte, geheime US-Dokumente veröffentlicht zu haben. Es ist auch keine | |
so positive Entwicklung in Bezug auf die Pressefreiheit. | |
Inwiefern? Als Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet konnten Sie rechtzeitig | |
aus der Türkei fliehen, um einer jahrelangen Haftstrafe zu entgehen. | |
Can Dündar: Mein Fall in der Türkei und der von Julian haben viele | |
Gemeinsamkeiten. Er hat über US-Kriegsverbrechen berichtet, ich wurde vor | |
Gericht gestellt, inhaftiert und bewaffnet angegriffen, weil ich über | |
illegale Waffenlieferungen des türkischen Staates nach Syrien berichtet | |
habe. Aber wir haben auch viel Solidarität erfahren. | |
Nedim Türfent: Ich bin auch erleichtert, dass Julian Assange wieder frei | |
ist. Er wird sich erst daran gewöhnen müssen, dass er nicht nur Wände | |
sieht, wenn er aus dem Fenster schaut. Mir ging es genauso, aber ich wusste | |
immer, dass es Menschen in der Türkei und in vielen anderen Ländern der | |
Welt gibt, die mein Schicksal verfolgen, sodass ich mich nicht allein | |
fühlte. Zuerst warfen mir die Wärter in meinem Gefängnis die Briefe vor die | |
Füße. Dann merkten sie, dass immer mehr Briefe kamen – dann mussten sie | |
sich überlegen, wie sie mit mir umgehen. | |
Can Dündar: Julian Assange war nicht der erste Fall von Kriminalisierung | |
von Journalisten. Aber er war der erste Verleger, der in den USA nach dem | |
Espionage Act strafrechtlich verfolgt wurde. Das hatte einen wichtigen | |
Ansteckungseffekt. Journalisten trauen sich nicht mehr, über so sensible | |
Themen wie Geheimdienst- oder Kriegsverbrechen zu berichten. Leider ist die | |
Situation in den Medien in der Türkei die gleiche. | |
Nedim Türfent: Investigativer Journalismus ist heute nur noch in | |
risikoreicheren Gewässern möglich. Was Assange als Teil des Deals | |
akzeptieren muss, ist mit Risiken und Gefahren behaftet. Böswillige | |
Staatsanwälte und Richter könnten dieses Urteil als Präzedenzfall für | |
andere Fälle nutzen. Der Ausgang dieses Falles ist also ein sehr schlechter | |
Präzedenzfall für den investigativen Journalismus. Noch schlimmer würde es | |
werden, wenn Donald Trump Präsident der USA werden sollte. Wie Sie wissen, | |
definiert er sich selbst als Feind der freien Presse. | |
Herr Türfent, wie kam es zu Ihrer Verhaftung und Verurteilung? | |
Nedim Türfent: Ich komme aus Hakkari in der kurdischen Region der Türkei, | |
an der Grenze zum Irak und zum Iran, im äußersten Osten. Es war eine Zeit | |
politischer Unruhen und bewaffneter Zusammenstöße zwischen kurdischen und | |
türkischen Kräften. Und dann hörte ich davon, wie kurdische Bauarbeiter bei | |
einer Razzia von der Polizei schikaniert, misshandelt und gedemütigt | |
wurden. Ich begann zu recherchieren und sammelte Augenzeugenberichte. Dann | |
sah ich die Aufnahmen der Körperkamera eines Polizisten und machte sie | |
öffentlich. Das wurde in der ganzen Türkei bekannt. | |
Hatte das berufliche Konsequenzen für Sie? | |
Nedim Türfent: Ich wusste, dass es jetzt gefährlich werden würde. Als ich | |
Morddrohungen von der türkischen Polizei erhielt, stellte mich meine Mutter | |
eines Tages zur Rede und sagte: „Mein Sohn, geh wenigstens abends nicht | |
raus, um die Nachrichten zu verfolgen“. Und ich antwortete meiner Mutter: | |
„Das ist genau das, was sie anstreben. Aber wir Journalisten müssen die | |
Abende erhellen, gewissermaßen die Dunkelheit.“ Ich sagte ihr, dass es | |
genau das sei, was sie wollten: Dass man ihrer Einschüchterung nachgibt. | |
Das konnte ich nicht tun. | |
Can Dündar: Es gibt immer weniger Journalisten wie Nedim, die nicht | |
kapitulieren, die nicht aufgeben. [1][Die Türkei ist ein Gefängnis für | |
Journalisten], so viele Journalisten sind im Gefängnis. | |
Nedim Türfent: Nachdem ich mit einem Video über die Polizeifolter an | |
kurdischen Bauarbeitern berichtet hatte, sagte mir ein Polizist auf der | |
Straße: „Wenn du weiter berichtest, wird es nicht gut für dich sein.“ Die | |
Polizei begann, mich systematisch ins Visier zu nehmen. Die Polizei | |
bedrohte mich mit dem Tod, indem sie Fotos von Menschen, die sie bei | |
Zusammenstößen getötet hatten, auf ihren Social-Media-Accounts teilte und | |
sagte: „Nedim, wir schauen uns jede Leiche und jeden toten Körper an, um zu | |
sehen, ob du es bist!“ In der Tat war diese Nachricht für mich wie die | |
Büchse der Pandora. Nach dieser Nachricht wurde ich mit Stalking, | |
Schikanen, Drohungen und Gefängnisaufenthalten verfolgt. | |
Can Dündar: Stellen Sie sich vor: [2][Sie riskieren Ihr Leben, Ihre | |
Familie, Ihre Freiheit im Namen des Journalismus]. Ich frage meine | |
deutschen Kollegen oft, ob sie das Risiko eingehen würden, über eine | |
riskante Geschichte zu berichten, wenn sie wüssten, dass die Polizei | |
morgens an ihre Tür klopft, sie auf unbestimmte Zeit inhaftiert, vielleicht | |
sogar foltert… Leider ist es in einigen Ländern notwendig, solche Risiken | |
einzugehen, um sicherzustellen, dass die Öffentlichkeit die Wahrheit | |
erfährt. Pressefreiheit und Demokratie können nicht verteidigt werden, ohne | |
einen Preis zu zahlen. | |
Nedim Türfent, w urden Sie auch misshandelt? | |
Nedim Türfent: Die Polizisten haben mich mit dem Gesicht nach unten mitten | |
auf den Asphalt gelegt. Einer hat mir die Hände auf dem Rücken gefesselt | |
und angefangen, mich zu schlagen. Ein Polizist stieg sogar auf meinen | |
Rücken und fing an, auf mir herumzutrampeln. Meine Familie und meine | |
Anwälte setzten sich sofort mit der Staatsanwaltschaft und der Polizei in | |
Verbindung. Sie sagten: „Wir haben Nedim nicht verhaftet, wir wissen nichts | |
davon.“ Meine Kollegen und Rechtsorganisationen starteten eine Kampagne für | |
mich in den sozialen Medien. In der Zwischenzeit brachte mich die Polizei | |
auf den Gipfel eines Berges. Einige Polizisten eröffneten das Feuer in die | |
Luft und fingen an, sich zu streiten, ob sie mich töten sollten oder nicht. | |
Dann klingelte bei einem von ihnen das Telefon und sie hörten auf, mich zu | |
töten. Die Unterstützungskampagne hat mich am Leben erhalten und ich wurde | |
verhaftet. | |
Sie haben fast zwei Jahre in Isolationshaft verbracht … | |
Nedim Türfent: Ja, ich wurde unter strenger Isolation gehalten. Denn auch | |
im Gefängnis habe ich, wie viele andere, meine Feder nicht aufgegeben. Und | |
weil sie mich nicht davon abbringen konnten, haben sie mich in | |
Isolationshaft gesteckt. Sie wollten mich daran hindern, die Geschichten | |
anderer Gefangener zu schreiben. Als ich in Einzelhaft war, habe ich | |
diesmal angefangen, Gedichte zu schreiben. Wie John Berger sagt: „Alles, | |
was du im Gefängnis hast, sind Worte“. Und ich denke, kein Mensch kann ohne | |
Worte leben. | |
Vielleicht habe ich ein bisschen naiv gefragt, aber ist nicht alles düster? | |
Can Dündar: Ja, so kann man es sehen. Aber diese Düsternis beflügelt unsere | |
Kreativität. Hier ist ein konkretes Beispiel: Das Buch von Nedim… | |
… „Jenseits der Mauern. „Gedichte und Texte eines Journalisten im | |
Gefängnis“, das Texte enthält, die Nedim für taz.gazet geschrieben hat … | |
Can Dündar: … in einem freien Lebens- und Arbeitsumfeld hätte es diese | |
Gedichte vielleicht nie gegeben. Dieser Druck hat einen Dichter geschaffen. | |
In der Türkei gibt es eine Art von Literatur, die „Gefängnisliteratur“ | |
genannt wird. Die Gefängnisse beherbergen auch die größten Bibliotheken des | |
Landes, das ist das Vermächtnis der dort Inhaftierten… Es gab eine | |
Geschichte, die in dem Gefängnis, in dem ich war, oft erzählt wurde: Eines | |
Tages fragte ein Gefangener nach einem Buch; der Bibliothekar sagte: „Das | |
Buch haben wir nicht, aber der Autor ist hier“. | |
… das ist Humor, nicht wahr? | |
Can Dündar: Ja, es ist Humor… Aber es ist auch eine Form des Widerstands: | |
Ja, die Botschaft „alles ist düster, der Druck ist groß, aber wir sind | |
stärker als sie“. Als ich im Gefängnis saß, haben meine Redaktionskollegen | |
unser tägliches Treffen außerhalb meines Gefängnisses organisiert und damit | |
eine Botschaft in die Welt geschickt, dass es einen Redakteur im Gefängnis | |
gibt. | |
Wir treffen uns hier in Berlin. Herr Dündar, Sie leben in Berlin im Exil, | |
Herr Türfent, Sie waren in Leipzig und sind jetzt mit einem Stipendium in | |
Gießen, aber Sie werden vielleicht in die Türkei zurückkehren. Wie geht es | |
für Sie weiter? | |
Can Dündar: Jeden Morgen, wenn ich aufwache, frage ich mich, ob heute der | |
Tag ist, an dem ich zurückkehre. Die Sozialdemokraten sind [3][bei der | |
letzten Wahl in der Türkei stärkste Partei geworden]… Man kann nie wissen. | |
Als die Mauer in Deutschland fiel, hat das auch niemand erwartet, aber es | |
ist passiert! | |
Nedim Türfent: Nach dem Gefängnis habe ich meinen Stift wieder in die Hand | |
genommen und meinen Journalismus fortgesetzt. Aber jedes Mal, wenn ich | |
nachts den Kopf auf das Kissen legte, hatte ich Angst, dass die Polizei | |
morgens die Tür aufbricht. Als ich vor einigen Monaten nach Leipzig kam, | |
fühlte ich mich durch die Angst vor der Polizei ganz anders. Ich werde | |
wieder hinfahren, wahrscheinlich nach Hakkari, in meine Heimatstadt. Ich | |
weiß nicht, was mit mir geschehen wird, aber ich kann nicht wie ein Vogel | |
Strauß den Kopf in den Sand stecken, während all diese Gräueltaten | |
geschehen. Denn wenn auch die Journalisten und Schriftsteller den Mund | |
halten, wird es morgen und übermorgen niemanden mehr geben, der den Mund | |
hält. Deshalb ziehe ich es vor, Risiken einzugehen. | |
Haben Sie ein bisschen Heimweh? | |
Can Dündar: Natürlich… Ich vermisse meine Heimat, meine Familie, meine | |
Freunde, die Kultur meines Landes. Mein Heimweh ist nicht klein, es ist | |
riesig. | |
Nedim Türfent: Es gibt ein türkisches Sprichwort: Wenn man eine Nachtigall | |
in einen goldenen Käfig steckt, wird sie singen: Bitte nimm mich in meinem | |
Heimatland auf. Ich möchte meinem Land helfen, wieder ein schöneres Land zu | |
werden. | |
Dem Gespräch ging ein taz Talk, in Kooperation mit Amnesty International, | |
in der taz-Kantine voraus. Das Gespräch mit beiden ist eine erweiterte und | |
redaktionell gekürzte Fassung. Übersetzung aus dem Türkischen beim taz | |
Talk: Melek Korkmaz, Hamburg. | |
4 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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