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# taz.de -- Maxi Obexers Roman „Unter Tieren“: Warum Nietzsche weinte
> Maxi Obexers Roman „Unter Tieren“ ist schroff, lyrisch und illusionslos.
> Sie entzaubert die Südtiroler Bergwelt und den Menschen an sich.
Bild: Kühe können zu echten Gefährtinnen werden
„Überhaupt das im Singular gebrauchte Wort ‚das Tier‘, gemessen an der
unendlichen Vielfalt aller Arten, überlegen Sie mal: eine Ameise, ein Affe,
eine Schlange, alles dasselbe? Und der Mensch, der diesem einen Tier
gegenübersteht. Schon kurios, finden Sie nicht?“ Diese Frage stellt der
Dozent eines Philosophieseminars, das die Ich-Erzählerin von [1][Maxi
Obexers] Roman „Unter Tieren“ besucht. Es ist ein kurzes, eingeschobenes
Kapitel, in dem es unter anderem darum geht, dass ein Essay über die Frage
geschrieben werden soll, warum Nietzsche auf einer Turiner Straße ein
geprügeltes Pferd umarmte und weinte (daraufhin wurde er endgültig für
verrückt erklärt).
Hier wird in einem akademischen Ambiente, das den sozial größtmöglichen
Kontrast zu jenem Milieu darstellt, in dem der Rest des Romans spielt, die
Metaebene dessen angerissen, wovon dieses Buch handelt: Eine namenlose
Ich-Erzählerin hält Rückschau auf ihre Kindheit im ländlichen Südtirol.
Auslöser ist der Zusammenbruch ihrer Tante Antonia, bei der sie
aufgewachsen ist. Eines Tages verlässt Antonia ihren kleinen Hof in den
Bergen, um sich von einer Autobahnbrücke zu stürzen – wird aber gerettet
von einem streunenden Hund, der sich ihr angeschlossen hatte und nun bellt,
bis Fremde aufmerksam werden und die Frau von der Brücke holen. Antonia
waren von Amts wegen ihre Kühe weggenommen worden, irgend etwas mit
Gesundheitsgefährdung, und nun vermag sie ihrem Leben keinen Sinn mehr
abzugewinnen.
Die Ich-Erzählerin wird durch den Besuch bei Antonia im Pflegeheim
gedanklich in ihr früheres Leben zurückgeworfen. Die familiären Beziehungen
ihrer Kindheit sind dysfunktional. Die Mutter, selbst einer vermutlich
traumatischen Kindheit entronnen, verlässt ihre Tochter früh, lässt sie
zurück bei ihrer Schwester Antonia, die sich mit einer Milchwirtschaft
durchs Leben schlägt. Andere Familienmitglieder scheint es nicht zu geben –
außer einem Onkel, der ein schweigsamer Landmann und für die jugendliche
Ich-Erzählerin keine Bezugsperson ist.
## Beziehungen zwischen Menschen sind unzuverlässig
Die Kühe hingegen werden zu echten Gefährtinnen, als das Mädchen erstmals
einen Sommer mit ihnen auf der Alm verbringen darf – nur um danach hilflos
mitzuerleben, wie die Tiere nach dem Almabtrieb von ihren Besitzern
grundlos gepeinigt werden: „Die Gewalt der Männer war mir nicht fremd, sie
galt als natürlich und schien mit dem aufrechten Gang eingeübt worden zu
sein.“ Weil dieses Recht auf Gewaltausübung so natürlich scheint, ist die
Jugendliche noch nicht in der Lage, es grundsätzlich in Frage zu stellen.
Erst die Begegnung mit einem jungen Hirten, der sich lesend auf ein Leben
jenseits der Alm vorbereitet, gibt ihr ein Wort für das, was sie und die
Tiere erlebt haben: Sadismus.
Beziehungen zwischen Menschen, das ist zwischen den Zeilen des Romans
deutlich eingeschrieben, sind, auch wenn sie gelingen, flüchtig, im übrigen
aber unzuverlässig oder Schlimmeres. Das Gefühl tiefer Liebe erlebt die
Erzählerin erstmals mit ihrer Hündin Pirat. So wie der Hund seit
Jahrtausenden den Menschen begleitet, durchstreifen Hunde diesen Roman. Sie
suchen, obwohl ihr Vertrauen ständig missbraucht wird, die Nähe zum
Menschen. Obexers Sprache ist zugleich rau und lyrisch, kurze Sätze von
scheinbarer Einfachheit stehen ebenso für sich selbst, wie die Menschen es
tun, von denen darin die Rede ist.
Diese Sätze vereinen sich zu einer Erzählung, in der von Gefühlen nie die
Rede ist und Naturbilder innere Zustände verdeutlichen. Die Verwundungen,
die Menschen sich und den Tieren zufügen, liegen irgendwo hinter den
Worten. Als glücklich darf sich schätzen, wer während der Lektüre einen
Hund zum Streicheln hat. Oder ein Pferd zum Umarmen.
2 Jul 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Südtirol
Literatur
Tiere
US-Literatur
Kolumne Zwischen Menschen
Universität Bremen
Schweiß
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