# taz.de -- Senatorin Bekeris über Schule ohne Noten: „Wer möchte, kann mit… | |
> Auch Gymnasien dürfen bis zur achten Klasse auf Noten verzichten, sagt | |
> Hamburgs Schulsenatorin Ksenija Bekeris (SPD). Sie stellt sich klar gegen | |
> G9. | |
Bild: Auch in Mathe soll Förderung verhindern, dass sich die Schere zwischen d… | |
taz: Frau Bekeris, freuen Sie sich auf die Ferien? | |
Ksenija Bekeris: Ich freue mich auf den Urlaub und Zeit mit Familie und | |
Freunden. | |
Wie waren die ersten Monate als Hamburgs Schulsenatorin? | |
Sehr intensiv. Ich lerne gern Neues kennen. Ich freue mich über offenen | |
Austausch mit all den schulischen Gremien und Akteuren, die sich zusammen | |
tun, um Bildung weiterzuentwickeln. Ich kannte als Lehrerin ja bisher eine | |
andere Perspektive. | |
Ihr Vorgänger Ties Rabe war 13 Jahre im Amt. Wie unterscheiden Sie sich? | |
Rein optisch. Es ist auch ein Unterschied, dass jetzt wieder eine Frau die | |
Schulbehörde führt. Und Rabe war vorher Lehrkraft an einem Gymnasium. Ich | |
komme aus der Berufsschule. Da ist man anders sozialisiert. | |
Die Gremien wollen mehr Beteiligung von unten. Hamburgs [1][Elternkammer | |
fordert] einen Bildungsgipfel als feste Struktur, wo Akteure aller | |
Schulformen über die Lernkultur im 21. Jahrhundert reden. Eine gute Idee? | |
Ich lerne viele Akteure kennen, die sich intensiv mit Schule | |
auseinandersetzen, zum Beispiel die Schüler:innenkammer. All diese Gremien | |
schauen heute mit einem guten, jeweils eigenem Fokus auf Schule. Durch | |
einen Gipfel würden die ihre Wirkweise verlieren. Also nein. | |
Hamburg hat 2020 mit der Deputation ein übergeordnetes Gremium abgeschafft. | |
[2][Ein Fehler]? | |
Ich habe als Abgeordnete damals für die Abschaffung gestimmt. Die | |
Deputationen waren parteipolitisch besetzt. Durch ihr Wegfallen haben wir | |
die einzelnen schulischen Gremien aufgewertet. Wir als Schulbehörde laden | |
die Kammern regelmäßig zum Gespräch ein. An Stelle der Deputation haben wir | |
den „Beirat der Kammern und des Landeschulrats“, mit dem sich die | |
Behördenleitung regelhaft austauscht. | |
Zur Lernkultur gehört die Bewertung. Im Schulversuch „Alleskönner“ durften | |
die Schulen auf Noten verzichten. Die 50 Modellschulen dürfen das nun | |
weiterhin tun. Andere nicht? | |
Doch. Wer mitmachen möchte, kann mitmachen. Wir sind in Hamburg sehr offen | |
dafür. Es gibt auch einen Beschluss meiner Partei dazu. | |
Ab welchem Jahrgang wären dann denn Noten doch Pflicht? | |
Ab Jahrgang neun. | |
Also könnte bis dahin sogar ein Gymnasium Noten durch Berichte ersetzen. | |
Was fanden Sie als Lehrerin besser? | |
Ich hatte an der Berufsschule eine diverse Schülerschaft und lege mich da | |
nicht fest. Wichtig ist, mit den Schülern in den Austausch zu gehen, wo sie | |
stehen und was sie brauchen. | |
Hamburg hat [3][neue Bildungspläne]. Es gibt Kritik, das sei zu viel Stoff. | |
Verstehen Sie das? | |
Die Bildungspläne sind in der Erprobungsphase und werden innerhalb der | |
ersten drei Jahre evaluiert. Das ist wichtig. Es gab darum viel | |
Auseinandersetzung. Jetzt schauen wir im Laufe der drei Jahre, wo wir | |
nachsteuern. Dem möchte ich nicht vorgreifen. Zudem gibt es ja Freiräume | |
für eigene Schwerpunkte. Die Rahmenpläne geben die Inhalte nur zur 50 | |
Prozent vor, die andere Hälfte obliegt der freien Gestaltung. | |
Gymnasialschulleiter sagen, in den Naturwissenschaften gebe es diese | |
50-Prozent-Regel nicht. Dort wurde sogar Stoff von der Oberstufe in die | |
Mittelstufe verlagert, sodass [4][der Druck steigt] und sie in diesen | |
Fächern Schüler verlieren. | |
Von den Naturwissenschaften wurde uns das auch zurückgemeldet. Richtig | |
ist, dass die Bildungsstandards der Naturwissenschaften eine vollständige | |
Auflistung der zu erreichenden Kompetenzen liefern und nicht nur – wie in | |
den Geisteswissenschaften – einen verbindlichen Kern beschreiben. Insofern | |
lassen die Kerncurricula in diesen Fächern wenig Raum für Weiteres. | |
Wenn Sie die Pläne erst nach drei Jahren evaluieren, verlieren Sie in den | |
Fächern viele Schüler. | |
Wir sehen, dass besonders der Jahrgang zehn belastet ist. Dort sind wir | |
schon konkret im Austausch mit den Anwendern der Bildungspläne, was zu tun | |
ist. Wir haben die Gymnasien ermuntert, zur Entlastung ihrer | |
Schüler:innen in der Jahrgangsstufe zehn nur noch zwei | |
Naturwissenschaften verpflichtend zu machen. Dies entspricht den Vorgaben | |
für die Vorstufe. | |
Sie könnten sagen, die Stoffvorgaben sind exemplarisch. | |
Es geht ja darum, dass die Schüler im Endeffekt die Abituraufgaben schaffen | |
müssen. | |
Die Kultusministerkonferenz (KMK) macht nur „Soll-Vorgaben“ und [5][lässt | |
Spielraum]. | |
Das ist definitiv falsch. Die Bildungsstandards sind Grundlage der | |
länderübergreifenden Abituraufgaben. Hamburg hat sich selbst in der KMK | |
verpflichtet, diese umzusetzen. Sie nicht umzusetzen, würde bedeuten, die | |
Schüler:innen nicht angemessen auf die länderübergreifenden Prüfungen | |
vorzubereiten. | |
Ist es nicht eine Illusion, dass ein [6][Zentralabitur] in allen Fächern | |
kommt? | |
Bislang war es nicht die Absicht der Länder, ein richtiges Zentralabitur | |
einzuführen. Dies wäre nicht mit der Struktur der Oberstufe vereinbar, da | |
in die Abiturnote ja auch die zuvor in den Semestern erworbenen | |
Leistungspunkte einfließen. Was wir Länder haben, ist seit 2017 ein | |
gemeinsamer Aufgabenpool für die Fächer Mathe, Deutsch, Englisch und | |
Französisch. Wir möchten dieses Prinzip auf mehr oder alle Fächer | |
ausweiten. Da gebe ich nicht auf, mit anderen Minister:innen nach | |
Lösungen zu suchen. | |
Eine Lösung, die eine [7][Volksinitiative fordert], ist, auch in Hamburg an | |
Gymnasien die Schulzeit zu verlängern. Warum kommt das nicht infrage? | |
Weil wir hier in Hamburg einen vorbildlichen und gut funktionierenden | |
Schulstrukturfrieden haben mit vielen unterstützenden Maßnahmen. | |
Sie meinen die [8][Zwei-Säulen-Struktur] Stadteilschule und Gymnasium? | |
Nicht nur. Schulen haben hier die Möglichkeit, jenseits von | |
Strukturdebatten ihr Profil auszubilden. Das ermöglicht, die Wahl der | |
weiterführenden Schule nach Neigungen und Interessen. Und wir bieten die | |
Möglichkeit, am Gymnasium nach acht und an der Stadtteilschule nach neun | |
Jahren das Abitur abzulegen. Es ist ein großer Vorteil, beide Optionen zu | |
haben. | |
Fehlen die Kapazitäten dafür, dass alle Kinder ihr Abi an der | |
Stadtteilschule machen? In der jüngsten Anmelderunde gab es dort 600 | |
Ablehnungen. | |
Zwar konnte bei rund 600 Schülerinnen und Schülern die | |
Erstwunsch-Stadtteilschule leider nicht realisiert werden, die Schulform | |
Stadtteilschule aber sehr wohl. In Hamburg wählen jeweils etwa 50 Prozent | |
der Eltern Stadtteilschule oder Gymnasium, also sind beide Formen gut | |
angewählt. Eltern können die Schulform passend dazu wählen, was ihr Kind | |
braucht. | |
In Klasse vier wissen viele Eltern noch nicht, was das heißt. | |
Dann führen wir aber eine andere Diskussion. | |
Warum hat Rot-Grün mit den Eltern, die diese Volksinitiative betreiben, | |
[9][nicht verhandelt]? | |
Wir hatten mit der Volksinitiative eine [10][Schulausschuss-Sitzung]. Da | |
haben wir als Behörde sehr transparent dargestellt, welche massiven | |
Auswirkungen die Umsetzung ihrer Forderungen hätte, kombiniert damit, dass | |
ich als Behördenleiterin die Sichtweise und Beweggründe dieser Eltern nicht | |
teile. Ich sah keinen Spielraum für Verhandlungen. Aber ein Gespräch habe | |
ich angeboten. | |
Nach den Ferien startet die Initiative ihr Volksbegehren. Was machen Sie, | |
wenn die die Hürde von 68.000 Unterschriften nimmt? | |
Ich hoffe sehr, dass wir die Hamburger:innen überzeugen, dass wir | |
bereits jetzt ein gutes schulisches Angebot haben. Aber wir leben in einer | |
Demokratie, und dann müssen sich die Menschen entscheiden. | |
Sie könnten mehr Campusschulen schaffen, wo G8 und G9 möglich ist. | |
Wir haben zum nächsten Schuljahr schon sechs Campusschulen. Die werden | |
tatsächlich sehr gut angewählt. Zwei weitere Campusschulen sind konkret in | |
Planung. | |
Oder ist die Zeit doch reif für eine [11][Schule für alle]? | |
Im Moment haben wir für unser Modell eine große Akzeptanz. Ich gehöre nicht | |
zu jenen, die politische Diskussionen nur anhand von Theorien verfolgen. | |
In Hamburg verfehlen etwa 20 Prozent der Grundschüler die Mindeststandards. | |
Tut Hamburg genug dagegen? | |
Wir haben eine datengestützte Schulentwicklung und sind gut darin zu | |
schauen, was wirkt. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern haben wir es | |
geschafft, den Trend umzukehren. Die Schere zwischen den Schülern mit guten | |
und mit weniger guten Startvoraussetzungen geht nicht weiter auf. | |
Woran liegt das? | |
Unser Lesetraining, das vorgibt, dass die Kinder wirklich jeden Tag 20 | |
Minuten lesen, führt dazu, dass sich die Kompetenzen annähern. Die Schulen | |
melden uns zurück, dass man merkt, wer am Lesetraining teilgenommen hat. | |
Das stimmt mich positiv und deswegen weiten wir das Lesetraining auf Klasse | |
5 und 6 aus. Ähnlich ist es mit dem Programm „Mathe sicher können“. | |
Was kann man noch tun? | |
Wir haben als Kultusministerkonferenz jetzt beschlossen, dass wir schon vor | |
Klasse eins Lernausgangslagen der Kinder testen, um festzustellen, welche | |
Fördermaßnahmen das einzelne Kind benötigt. So soll sichergestellt werden, | |
dass jedes Kind den Anschluss in Klasse eins schafft. Parallel verbessern | |
wir mit dem neuen Startchancenprogramm von Bund und Ländern noch mal die | |
Bildungschancen von Kindern mit sozioökonomischer Benachteiligung. | |
Eine Ihrer ersten Initiativen war [12][ein Niqab-Verbot]. Warum war das | |
nötig, betrifft es doch nur zehn Schülerinnen? | |
Dieses Gesetz hatte Senator Rabe schon 2020 angestoßen. Dann kam Corona und | |
die Unterrichtsbedingungen hatten sich zeitweise durch Schulschließungen | |
und Maskenpflicht völlig verändert. Jetzt hatten wir eine betroffene | |
Schülerin, die klagen wollte. | |
Wie weit gehen Sie, wenn die Schülerin den Niqab nicht ablegt? Ist das | |
Schulsystem da nicht trotzdem hilflos? | |
Wir führen zuerst pädagogische Gespräche. Das wirkt. Schülerinnen haben den | |
Niqab inzwischen abgelegt. | |
8 Jul 2024 | |
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