| # taz.de -- Grünen-Politiker über die EU-Wahl: „Unsere Sprache war austausc… | |
| > Der Grüne Rasmus Andresen kritisiert Personaldebatten und Forderungen | |
| > nach härterer Asylpolitik. Blinde Flecken seiner Partei beklagt aber auch | |
| > er. | |
| Bild: Jubel sieht anders aus: Die Parteivorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda… | |
| taz: Herr Andresen, der Grünen-Vorstand will bald [1][seine Analyse der | |
| verlorenen Europa-Wahl] vorlegen. Wie groß ist Ihr Vertrauen, dass er die | |
| richtigen Schlüsse zieht? | |
| Rasmus Andresen: Das Wahlergebnis war deutlich unter unseren Erwartungen | |
| und hat bei vielen in der Partei einen Schock ausgelöst. Ich habe schon den | |
| Eindruck, dass alle Seiten ernsthaft über Konsequenzen nachdenken. Ich | |
| vertraue darauf, dass es zu Änderungen kommt. Aber es gibt eine Kontroverse | |
| über die Frage, in welche Richtung sich Sachen ändern müssen. | |
| Manche in der Partei sagen: Es braucht neue Leute im Vorstand. | |
| Diesen Reflex erlebt man im politischen Berlin oft. Aber es greift zu kurz, | |
| das Ergebnis bei einzelnen Personen abzuladen. Das könnte uns sogar an | |
| einer tieferen Analyse der Ursachen hindern. Unser Ergebnis hat mehr mit | |
| unserem unklaren politischen Profil zu tun als mit Personen. | |
| Manche in der Partei sagen auch: Robert Habeck muss jetzt zum | |
| Kanzlerkandidaten erklärt werden. | |
| Eine Partei, die gerade unter 12 Prozent steht, sollte keine Zeit damit | |
| vergeuden, über Kanzlerkandidaten zu fabulieren. Im Wahlkampf haben mich | |
| die Leute auch nicht auf die Kandidatenfrage angesprochen, sondern auf | |
| Regierungskompromisse und ihre Alltagssorgen. Wir müssen darüber reden, | |
| wofür wir stehen wollen und wie wir unser Profil schärfen. | |
| Dann mal los: Was ist für Sie der wichtigste Punkt? | |
| Unter jungen Leuten und unseren Stammwählern haben uns Kompromisse bei | |
| grünen Kernthemen Vertrauen gekostet, zum Beispiel beim Klimaschutzgesetz. | |
| Wir haben es aber auch nicht geschafft, unsere Antworten auf die | |
| wirtschaftliche und soziale Verunsicherung der Gesellschaft zu vermitteln. | |
| Wenn ich an Schulen unterwegs bin, werde ich von jungen Menschen oft | |
| gefragt: Wie kann ich mir in Zukunft noch ein vernünftiges Leben leisten? | |
| Es gibt grüne Parteien in anderen europäischen Ländern, die mit sozialen | |
| Botschaften gute Ergebnisse eingefahren haben. Das sollten wir auch nach | |
| vorne stellen. | |
| Was ist aber im Jahr 2024 die richtige Antwort auf die soziale Frage? Laut | |
| Umfragen war zwar für viele Menschen soziale Gerechtigkeit ein | |
| wahlentscheidendes Thema. Gleichzeitig stoßen Verbesserungen für | |
| Bürgergeldempfänger, für die sich die Grünen zuletzt starkgemacht haben, | |
| oft auf Ablehnung. | |
| Ich finde es richtig, auch in diesem Bereich mehr zu machen. Aber wer sind | |
| die Leute, die wir als Grüne in den letzten Jahren erreicht haben und die | |
| sich jetzt abwenden? Das sind selten Menschen, die selbst im Bürgergeld | |
| sind. Das sind Menschen, denen die Miete zu schaffen macht oder die sich | |
| für ihre Familie kein Eigenheim mehr leisten können. | |
| Oder es sind junge Menschen, die nach Corona und wegen ihrer Zukunftsängste | |
| mentale Probleme haben. Wohnen, Lebensmittelpreise, Therapieplätze: Solche | |
| Themen würde ich bei der sozialen Frage in den Mittelpunkt stellen. | |
| Menschen haben völlig zu Recht das Gefühl, dass unser Land in diesen | |
| Bereichen nicht mehr funktioniert. | |
| Das sind dicke Bretter. Sie glauben wohl nicht, dass da in der Ampel noch | |
| viel zu machen ist? | |
| Nein, aber dass man Kompromisse machen muss und als 15-Prozent-Partei in | |
| einer Koalition nicht alles durchsetzen kann, lässt sich den Menschen | |
| vermitteln. Es wäre nur wichtig, dass wir neben das Regierungsprojekt auch | |
| wieder eine eigenständige Profilierung stellen. Immer weniger Menschen | |
| erkennen, dass wir bei diesen Themen für Ziele kämpfen, die über den | |
| Koalitionsvertrag hinausgehen. | |
| [2][Die Haushaltseinigung vom Freitag], die in zentralen Punkten die | |
| Handschrift der FDP trägt, macht es wohl nicht leichter. | |
| Die Einigung ist mit vielen Härten versehen. Dass sich die FDP trotz | |
| sozialer Probleme im Land wieder mit Steuersenkungen für Gutverdiener | |
| durchgesetzt hat, wird die Spaltung zementieren. Das macht es für uns in | |
| der Tat schwieriger, soziale Forderungen glaubwürdig zu vertreten. | |
| Gleichzeitig sind wir die Partei in der Ampel, die für spürbare | |
| Verbesserungen für Menschen mit wenig Einkommen kämpft. Wir kommunizieren | |
| das aber nicht stark. Problematisch ist auch, dass aus unseren Reihen immer | |
| wieder Äußerungen kommen, die unsere Parteitagsbeschlüssen widersprechen | |
| und das Signal senden, dass es uns mit sozialer Politik doch nicht so ernst | |
| ist – Stichwort Rentenkürzungen oder Mindestlohn. | |
| Cem Özdemir hat sich kürzlich dagegen ausgesprochen, den Mindestlohn auf 15 | |
| Euro zu erhöhen. Aber er will ja auch Ministerpräsident von | |
| Baden-Württemberg werden, da muss man einen anderen Kurs fahren als der | |
| Rest der Partei. | |
| Ich war selbst lange Landespolitiker und weiß, dass jedes Bundesland seine | |
| eigene Dynamik hat. Aber die Kollegen, die solche Äußerungen treffen, | |
| machen das bundespolitisch und nicht landespolitisch. Es schadet uns, wenn | |
| wir dann als unsozialer dastehen, als es unser Programm hergibt. | |
| Laut Umfragen war auch die Migrationspolitik wahlentscheidend, und auch | |
| dazu gibt es kontroverse Wortmeldungen aus Baden-Württemberg. [3][Winfried | |
| Kretschmann fordert von den Grünen „mehr Härte und Klarheit“] gegen | |
| irreguläre Migration. Was halten Sie davon? | |
| Ich würde in der Bewertung darauf schauen, was in der Realität | |
| funktioniert. Die gerade erst beschlossene Verschärfung des EU-Asylrechts | |
| wird nicht den Effekt haben, der versprochen wurde. Sie wird das Leben | |
| vieler Menschen verschlechtern, ohne mehr Ordnung ins System zu bringen. | |
| Als Grüne haben wir aber vielleicht ein bisschen unterschätzt, wie das | |
| Thema in der Bevölkerung diskutiert wird. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Gerade von jungen Menschen höre ich oft Sorgen über die Funktionsfähigkeit | |
| des Staats. Dazu gehören neben der sozialen Infrastruktur oder dem ÖPNV auf | |
| dem Land auch Aspekte wie Kriminalität. Wir müssen also auch hier über | |
| Konsequenzen für unsere Politik reden. In der Asyldebatte haben wir | |
| meistens zwischen Grünen in Berlin, Stuttgart und Brüssel diskutiert, aber | |
| es nicht geschafft, die Diskussion auf die Lage vor Ort zu transferieren. | |
| Was heißt das konkret, wenn es um Gewalttaten von Geflüchteten wie zuletzt | |
| in Mannheim oder Bad Oeynhausen geht? | |
| Wir sollten da keine Schnellschüsse machen. Aber als Politik haben wir in | |
| den letzten Jahren unterschätzt, dass Menschen Angst haben, wenn in ihrem | |
| Umfeld Kriminalität passiert – durch wen auch immer. In Regionen, in denen | |
| das besonders stark empfunden wird, sollten wir die Sicherheitsbehörden | |
| stärken, aber auch in die Daseinsvorsorge, die soziale Infrastruktur und | |
| die Sozialarbeit investieren. | |
| Die Strategiedebatte der Grünen dreht sich nicht zuletzt um Zielgruppen. | |
| [4][Die einen wollen sich auf die Kernwählerschaft konzentrieren, die | |
| anderen stärker um die politische Mitte buhlen]. Wen haben Sie mit Ihren | |
| Vorschlägen im Sinn? | |
| Wir können mit 12 Prozent nicht zufrieden sein und sollten für die nächsten | |
| Jahre wieder den Bereich um 20 Prozent zum Ziel haben. Dafür müssen wir in | |
| unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft ausstrahlen. Wenn wir unser | |
| soziales Profil stärken, kann das zu einer massiven Ausweitung in Milieus | |
| führen, die uns bisher überhaupt nicht wählen. Wir müssen aber vor allem | |
| wieder die Leute ansprechen, die uns lange die Treue gehalten haben und die | |
| wir bei der Europawahl verloren haben. | |
| Unsere Wahlkampagne zur Europawahl war stark darauf ausgerichtet, | |
| konservative Milieus für uns zu gewinnen. Unsere Sprache war austauschbar, | |
| [5][unsere Plakate hätten auch von der CDU kommen können]. Das hat aber | |
| nicht dazu geführt, dass uns diese neuen Milieus gewählt haben. Stattdessen | |
| sind angestammte Milieus zu kleineren Parteien gegangen oder haben gar | |
| nicht gewählt. Sie müssen wir wieder erreichen. | |
| 7 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Schulze | |
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