| # taz.de -- Neues Album von Mary Ocher: Wider den Hass | |
| > Mary Ocher Superstar: Die israelische Künstlerin feiert auf ihrem neuen | |
| > Album „Your Guide to Revolution“ die kleinen Freuden der | |
| > Konsumverweigerung. | |
| Bild: Konsumverweigerin: die israelische Künstlerin Mary Ocher | |
| Ein Schlauchboot schaukelt auf hoher See. Es ist nicht mit Menschen | |
| überladen, wie man das aus Nachrichtenbildern kennt, nur eine Passagierin | |
| ist an Bord: Grund zu Panik hat Mary Ocher trotzdem, ihr Boot wird | |
| umzüngelt von Flammen. Dann schwenkt die Kamera in dem zeitdiagnostischen | |
| Videoclip zu einer plastikvermüllten Insel, auf der versprengte Menschen | |
| zombiesk auf ihre Handys starren – und nicht mitkriegen, in welcher Not | |
| Ocher ist. „Sympathize with us / Because our corpses are nice“ singt die in | |
| Berlin lebende russisch-israelische Künstlerin über einen treibenden | |
| Discobeat – erzeugt von dem Schlagzeuger-Duo, das den in diesem Fall | |
| treffenden Namen Your Government trägt. | |
| Seit längerem arbeitet die exzentrische Künstlerin mit Mats Folkesson und | |
| Theo Taylor zusammen, die Ochers versponnene Klangwelten erden. Der | |
| abgründige Song „Sympathize“ entwickelt dank ihrer Beats einen launigen | |
| Groove. „Your Guide To Revolution“ hat sie das dazugehörige Album genannt … | |
| wobei Revolution bei Ocher erst mal nur bedeutet, an Eskalationsschrauben | |
| nicht weiterzudrehen. „Making the refusal to hate a subversive, | |
| revolutionary act“: So umschreibt der Waschzettel die Strategie der | |
| 37-Jährigen. | |
| Geboren 1986 in Moskau wanderte sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion | |
| mit ihrer Familie nach Israel aus. Seit 2007 lebt sie in Berlin. Neben | |
| ihrem eigenen Schaffen betreibt sie die Agentur „Underground Institute“. | |
| Was sie umtreibt – nicht nur ihre künstlerische Arbeit, sondern auch | |
| politische Positionierungen betreffend – [1][kommuniziert sie seit dem | |
| Album „The West Against The People“ (2017) auch über Essays,] die ihre | |
| Veröffentlichungen ergänzen. Verglichen mit dem Aufsatz, den es zum | |
| Vorgängeralbum dazu gab, es ging um Künstliche Intelligenz und andere | |
| dystopische Szenarien, lesen sich ihre Ideen im aktuellen „Guide for | |
| Radical Living“ eher harmlos: Dinge reparieren. Am Kinotag ins Kino gehen. | |
| Nie etwas auf Raten kaufen. Selbst kochen. Kurzum: ein bisschen aus dem | |
| Konsum-Hamsterrad aussteigen. Schrägerweise rät sie zudem, auf | |
| Wohnungseigentum hinzuarbeiten – was doch nach „If you can’t beat them, | |
| join them“ klingt. Nun denn. Offenbar kann man nicht auf kleine | |
| Revolutionen warten, bevor man seine Schäfchen ins Trockene bringt. | |
| ## Das richtige Leben im Falschen feiern | |
| Entstanden ist „Your Guide To Revolution“ zeitgleich mit dem Schwesteralbum | |
| „Approaching Singularity: Music For The End of Time“, das vergangenes Jahr | |
| erschien. Eingespielt wurden die Songs im Palazzo Stabile, einer | |
| norditalienischen Künstlerresidenz; produziert hat sie Mike Lindsay. | |
| Bekannt ist der britische Musiker durch seine Folktronica-Band Tunng. | |
| Ochers Musik auf den beiden Alben lässt sich als zwei Seiten einer Medaille | |
| lesen. Das erstveröffentlichte Werk beackert das große Ganze. Auf dem neuen | |
| Album feiert Ocher das richtige Leben im Falschen zumindest ein bisschen. | |
| Die Mittel, mit denen sie ihre Hörer:innen auf einen wilden Ritt | |
| mitnimmt, ähneln sich auf beiden Alben – analoge Synthesizer schaffen das | |
| Ambient-Fundament, über dem Ochers Gesang liegt. | |
| Dieser wirkt mal sakral, mal ätherisch, opernhaft und kühl; dazu spielen | |
| krautige Beats und polyrhythmische Klöppeleien. Und doch scheint der Vibe | |
| weniger melancholisch, bisweilen gar aufgedreht – und trotz der sozialer | |
| Abgründe, die sie thematisiert, durchaus humorvoll. | |
| Etwa in dem von Cumbia-Rhythmen grundierten Instrumental „Swedish Samoa“, | |
| zu dem Ocher frenetische Synthie-Kaskaden beisteuert. Das Ergebnis klingt | |
| nach Industrial – produziert von Kindern, die am Energy-Drink genuckelt | |
| haben. Gesellschaftliche Untiefen generieren eher Wut als Verzweiflung. In | |
| „Museum Of Childhood Terror“ etwa beackert Ocher den Nationalismus, der sie | |
| durch ihre Schulzeit begleitete – und dazu brachte, Israel den Rücken zu | |
| kehren. Nervöse Perkussion und ein Reminiszieren im dramatischen | |
| Spoken-Word-Modus mündet in Geschrei, das kaum mehr menschlich klingt – | |
| eher wie eine Säge. | |
| Herzstück des Albums ist die Songtrilogie „Rubaiyat Medley“, inspiriert | |
| [2][vom Album „The Rubáiyát of Dorothy Ashby“ (1970]). Zu dem fühlte sich | |
| US-Jazz-Harfinistin Ashby seinerzeit von den ein knappes Jahrtausend alten | |
| Schriften des persischen Dichters und Astronomen Omar Chayyām inspiriert. | |
| Ochers Interpretation atmet verschlurfte Lässigkeit, die dafür sorgt, dass | |
| die Musik nur selten überladen wirkt – und nebenbei daran erinnert, welches | |
| Trostpotenzial das Eintauchen in fremde kulturelle Sphären bisweilen hat. | |
| 2 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stephanie Grimm | |
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