# taz.de -- Barrierefreier Nahverkehr in Berlin: Netz voller Lücken | |
> Der Nahverkehr müsste seit zwei Jahren komplett barrierefrei sein. Vor | |
> allem bei den Bushaltestellen ist die BVG davon aber noch weit entfernt. | |
Bild: Rollstuhl-Piktogram in einem BVG-Bus | |
BERLIN taz | „Wumm.“ Der aggressive Knall, mit dem die ausklappbare Rampe | |
auf dem Bordstein aufschlägt, ist ein vertrauter Soundtrack für viele | |
Menschen, die sich im Rollstuhl durch die Stadt bewegen und dabei Busse der | |
BVG nutzen. Wenn sich die Lücke zwischen Haltestelle und Fahrzeugkante | |
nicht überwinden lässt, sind sie darauf angewiesen, dass die Busfahrerin | |
oder der Busfahrer aussteigen und händisch für Überbrückung sorgen. | |
Dieses Prozedere kann nicht nur als demütigend erlebt werden, es sollte | |
eigentlich auch längst der Vergangenheit angehören: Seit 2022 müssen gemäß | |
dem deutschen Personenbeförderungsgesetz Fahrzeuge, Infrastruktur und | |
Informationssysteme des öffentlichen Nahverkehrs komplett barrierefrei | |
sein. Nicht nur, aber vor allem bei den Bushaltestellen ist Berlin | |
meilenweit davon entfernt – und von übermäßigem Eifer kann in der Politik | |
nicht die Rede sein: Gerade wurde im Rahmen der Haushaltskürzungen 170.000 | |
Euro für die Umgestaltung von Bushaltestellen gestrichen. | |
Die Senatsverwaltung für Mobilität gibt auf Nachfrage der taz an, dass | |
aktuell nur „ca. 10 Prozent der insgesamt rund 6.500 Berliner | |
Bushaltestellen barrierefrei ausgebaut“ sind. Bezeichnend ist, dass die | |
BVG, die diese Haltestellen ja nutzt, keine Angaben dazu machen kann. Und | |
auch nicht dazu, wo es mit dem Umbau absehbar weitergeht. Die BVG verweist | |
hier auf die Bezirksämter, die als Baulastträger dafür zuständig sind. | |
Aber auch bei denen ist die Datenlage kümmerlich: Pankow, Neukölln und | |
Friedrichshain-Kreuzberg etwa führen gar keine Statistik. In | |
Tempelhof-Schöneberg weiß man nicht genau, wie viele Bushaltestellen es im | |
Bezirk gibt, hat aber eine Liste der bereits barrierefrei umgebauten (es | |
sind 24 von rechnerisch über 500). Mitte dagegen kennt die Zahl der noch | |
nicht barrierefreien Haltestellen (circa 400). Laut einer Sprecherin sollen | |
16 davon demnächst vom landesweiten Sonderprogramm „Barrierefreier Ausbau | |
von 100 Haltestellen“ profitieren. | |
Klar ist dagegen, welche Kriterien eine barrierefreie Bushaltestelle | |
erfüllen muss. Das steht im immer noch gültigen Nahverkehrsplan 2019–2023, | |
der übrigens davon ausgeht, dass 35 Prozent der BerlinerInnen | |
mobilitätseingeschränkt sind: Nicht nur die rund 350.000 Menschen mit einem | |
Grad der Behinderung (GdB) über 50, sondern auch alle, die alters- oder | |
krankheitsbedingt, durch Kinderwagen oder schweres Gepäck auf | |
Barrierefreiheit angewiesen sind. Letztere wird definiert als „in der | |
allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne | |
fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“. | |
Der Nahverkehrsplan legt fest, was alles dazugehört – beim Busverkehr etwa | |
Standards der „Bordhöhe“ und der Haltestellenkanten, um Abstände in Höhe | |
und Weite zu minimieren. Außerdem muss sichergestellt werden, dass die | |
Busse genügend Platz haben, um vollständig parallel und möglichst dicht an | |
die Haltestelle heranfahren zu können. Als Vorzugslösung werden hier | |
Haltestellen-„Kaps“ genannt, die direkt an die Fahrbahn heranragen, | |
idealerweise ausgestattet mit dem sogenannten Kasseler Bord aus speziellen | |
Betonelementen. | |
## Misslingen einkalkuliert | |
Dabei war den AutorInnen des Nahverkehrsplans schon 2019 bewusst, dass | |
„aufgrund der enormen Anzahl von Haltestellen eine vollständige Umsetzung | |
der gesetzlichen Vorgabe bis zum 1. Januar 2022 nicht möglich“ sein würde. | |
Als Ziel wurde definiert, eine Priorisierung durchzuführen und „ab 2023 | |
circa 200 Bushaltestellen pro Jahr barrierefrei auszubauen“. Angesichts des | |
Status quo wäre damit erst in rund 30 Jahren vollständige Barrierefreiheit | |
erreicht. Und das, obwohl laut BVG „immer mehr mobilitätseingeschränkte | |
Personen unsere Verkehrsmittel nutzen“. | |
Im Haus von Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) sieht man das Problem, | |
verweist auf das 100-Haltestellen-Sonderprogramm, dessen Umsetzung | |
„zeitnah“ beginnen soll, spielt den Ball aber auch an die Bezirksämter | |
zurück: Es „wurde seitens der Senatsverwaltung bereits mehrfach darauf | |
hingewiesen, dass sich die Bezirke zu einer verbesserten Bearbeitung | |
abstimmen sollten“, heißt es in einer Antwort an die taz. Und die jüngste | |
Budgetkürzung? Hier sei „davon auszugehen, dass die Absenkung des | |
Titelansatzes keine Auswirkungen auf die tatsächliche Umsetzung“ habe, | |
denn: „Mittelabforderungen durch die Bezirke waren für das Jahr 2024 nicht | |
mehr in der Höhe des Titelansatzes zu erwarten.“ | |
Berlins Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Christine | |
Braunert-Rümenapf, macht klar, dass es sich beim Verfehlen der | |
Barrierefreiheit-Ziele nicht nur um einen Verstoß gegen ein Bundesgesetz, | |
sondern auch gegen das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes und die | |
UN-Behindertenrechtskonvention handelt. Auf die Frage, ob der Senat genug | |
tut, um schnellstmöglich Barrierefreiheit im ÖPNV herzustellen, antwortet | |
sie mit einem klaren Nein. | |
## Beschleunigung gefordert | |
Der Ausbau der Haltestellen müsse „unbedingt beschleunigt werden“, so | |
Braunert-Rümenapf zur taz. Wobei die rechtlichen Rahmenbedingungen im | |
Grunde ja sehr gut seien: „Wenn es eine Regelungslücke gibt, dann ist es | |
das Fehlen von Sanktionen bei Nichteinhaltung der Vorgaben“, sagt die | |
Landesbeauftragte. Eine andere Möglichkeit, den notwendigen Prozess zu | |
beschleunigen, „könnte auch darin bestehen, finanzielle Anreize an die | |
Umsetzung der Barrierefreiheit zu koppeln“. | |
Solange die Infrastruktur noch nicht barrierefrei ist, sei die mangelnde | |
Durchsetzung der Verkehrsregeln durch die Bezirke eine zusätzliche Hürde, | |
kritisiert Braunert-Rümenapf: „Wenn an der Haltestelle illegal geparkt | |
wird, müssen die Ordnungsämter schnell und konsequent durchgreifen.“ Da das | |
oft nicht geschehe, müssten Busse immer wieder schräg auf der Fahrbahn | |
halten – mit noch stärker eingeschränkter Zugänglichkeit. | |
Ein verbreitetes Problem sieht Braunert-Rümenapf im Übrigen auch bei den | |
Bussen selbst: „Wenn die Fahrzeuge voll sind, reicht der Platz oft nicht | |
für eine Person im Rollstuhl. Dann heißt es schnell: Warten Sie doch auf | |
den nächsten Bus. Vielleicht wird es sogar der übernächste.“ Sie suche auch | |
bei diesem Thema immer wieder das Gespräch mit der BVG. | |
24 Jun 2024 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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