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# taz.de -- Ortsbesuch in Leverkusen: Die Stadt zum Verein
> Klar, den neuen Deutschen Fußballmeister der Männer, Bayer 04, kennt
> jeder. Doch wie sieht dessen Heimat eigentlich aus?
Bild: Rot-schwarze Farbtupfer in der ganzen Stadt verraten, welcher Verein hier…
LEVERKUSEN taz | Ultramarin ist ein dunkler, aber ungemein intensiver
Blauton, beinahe leuchtend. In der Malerei wurde es früher vor allem für
Jesus- und Mariendarstellungen verwendet. Die Pigmente dafür konnten nur
aus Lapislazuli hergestellt werden, das man über das Meer nach Europa
transportieren musste – daher der Name Ultramarin. Lange Zeit war es sehr
kostbar.
Vor exakt 200 Jahren, 1824, wurde deshalb in Frankreich ein Preisgeld für
die Erfindung von synthetischem Ultramarin ausgeschrieben, und auch ein
junger deutscher Chemiestudent aus dem Bergischen Land, der zu dieser Zeit
gerade in Paris lebte, verfolgte den Wettbewerb aufmerksam. Zurück [1][in
seiner Heimatstadt Wermelskirchen], gründete er 1834 die erste deutsche
Ultramarin-Fabrik und verlegte sie einige Jahre später, Stichwort
Standortfaktoren, 25 Kilometer nach Südwesten, an den Rhein. Der Name des
Mannes: Carl Leverkus.
Ohne Ultramarin, das kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, gäbe es
jetzt keinen deutschen Fußballmeister, der nach gleich zwei Chemikern
benannt ist: Bayer Leverkusen. Es gäbe nicht einmal die Stadt dazu.
Läuft man in diesem Frühjahr durch [2][ebenjene frischgebackene
Meisterstadt], sieht man Ultramarin sehr selten. Leverkusens Farben sind
andere: Gelb, Beige, Weiß und Grau die meisten Hausfassaden. Hellgrün und
silbergrau die Rohre im Chemiepark, sie schlängeln sich um bräunliche
Gebäude. Grün auch die Büsche, Bäume und Seitenstreifen, die Parks und
Wälder, von denen es im weitläufig zersiedelten, nach Osten hin ins
Ländliche ausfransende Stadtgebiet zahlreiche gibt. Dunkelgrau und Weiß die
Straßen, die ebenfalls eine wichtige Rolle spielen: Blickt man von oben auf
Leverkusen, lassen sich keine vertrauten urbanen Strukturen, lässt sich
kein historisches Zentrum ausmachen, findet das Auge nur an einer Stelle
Halt – fast genau in der Mitte liegt ein Autobahnkreuz.
## Schaut, es gibt uns!
Gelbweißgrüngelbgrau. Es ist eine blass erscheinende Grundierung, aber sie
bietet einen guten Kontrast zu zwei Farbakzenten, die beim Besuch an jeder
Ecke zu finden sind: Dunkelrot und Schwarz. Trikots, Banner, Wimpel in den
Farben von Bayer Leverkusen hängen in Fenstern, an Gartenzäunen und über
Hauseingängen, mitunter auch wie an einer Wäscheleine über die Straße.
Zusätzlich wurde in einer offenbar konzertierten Aktion überall in der
Stadt schwarz-rotes Flatterband um Laternenmasten gewickelt und über die
Mittelinseln der Kreisverkehre gespannt, notfalls nahm man auch Luftballons
oder Plastikteller.
Die Leverkusener feiern ihr Team, doch dem Betrachter scheint es, als
würden sie ein wenig auch sich selbst feiern, sich präsentieren. Schaut, es
gibt uns! Es gibt eine lebendige Stadt zu diesem Verein! Denn es ist ja so:
Bayer 04 Leverkusen war unter Bundesliga-Fans als seelenloser Plastikclub
verschrien, da spielte die TSG Hoffenheim noch in der Kreisliga, die Marke
Red Bull existierte nicht einmal und Leipzig lag noch in einem anderen
Land. „Pillenkicker“, „Werkself“ – der Geldfluss von Bayer sicherte d…
Geschäftsbetrieb, aber auch den Spott der Konkurrenz.
Denn was war noch gleich der Unterschied zwischen Bayer Leverkusen und
einer Straßenbahn? Richtig: Die Straßenbahn hat mehr Anhänger. Es stimmt,
29.000 Zuschauer im Schnitt sind in der Bundesliga nicht sehr viel. Aber
was soll man auch machen, wenn man als Stadt nur 165.000 Einwohner hat? Von
den mehr als dreißig west-, ost- und gesamtdeutschen Fußballmeisterstädten
sind überhaupt nur fünf kleiner als Leverkusen: Wolfsburg, Kaiserslautern,
Fürth, Jena und Zwickau. Nicht einmal für einen eigenen Bundestagswahlkreis
hat es hier gereicht, man ist Teil des WK Leverkusen – Köln IV, den
übrigens seit vielen Jahren Karl Lauterbach vertritt
## Biertechnisch Kölsch-Land
Was ist das also für eine Stadt, die sich nun Meister nennen darf? Zwischen
Köln und Düsseldorf liegt sie rechtsrheinisch an der Wuppermündung, gilt
als Tor zum Bergischen Land. Von hier, aus [3][dem heutigen Wuppertal], kam
auch der zweite prägende Name in die Stadt. 1895 wurde das Werksgelände von
Carl Leverkus übernommen vom Chemiekonzern Bayer, der ebenfalls als
Farbenhersteller begonnen hatte. Wieder waren Standortfaktoren
ausschlaggebend: Im engen Tal der Wupper konnte Bayer nicht weiter wachsen.
Am Rhein war Platz für Chemieanlagen und Mitarbeiter. Begeistert waren die
nicht unbedingt. „Kann er einen nicht verknusen,/ schickt er ihn nach
Leverkusen./ Dort an diesem End der Welt/ ist man ewig kaltgestellt“, so
reimte man damals.
Leverkusens Ruf war also schon mäßig, da gab es die Stadt offiziell noch
gar nicht. Denn gegründet wurde sie erst 1930, als sich die Gemeinden
Wiesdorf, Schlebusch, Steinbüchel und Rheindorf zusammentaten und als
gemeinsamen Namen den einer alten Werkssiedlung von Carl Leverkus wählten.
Im früheren Wiesdorf liegt heute der Bahnhof Leverkusen-Mitte – einen
Hauptbahnhof gibt es so wenig wie einen ICE-Halt –, und wer dort aussteigt,
kann in zwei Richtungen gehen. Der eine Weg führt zunächst über eine
Schnellstraße und durch den Rialto Boulevard, eine Brücke in
Shopping-Center-Form, in der einiger Leerstand herrscht; auch die
„Brückenschänke“ hat dicht, verrät aber, dass Leverkusen biertechnisch
gesehen Kölsch-Land ist.
Direkt dahinter geht es so weiter; wie ein Ausstellungsgelände für
überdachte Einkaufszonen im Wandel der Jahrzehnte wirkt der Einstieg in
Leverkusens Innenstadt. Auf dem neuesten und frequentiertesten dieser
Center, 2009 eröffnet, thront ein donutförmiger Bau. Es ist das
Leverkusener Rathaus und es hat, was in zuletzt für einige Diskussionen
sorgte, keinen Balkon. Somit fehlt der kommunale Ort, an dem eine
erfolgreiche Fußballmannschaft üblicherweise seine Trophäen den Fans
präsentiert. Gefeiert wird stattdessen am 26. Mai mit Schale – und
möglicherweise noch zwei weiteren gewonnenen Pokalen – im Stadion.
## Identitätsstifter Sport
Viel mehr ist über das größtenteils in der Nachkriegszeit gebaute, selbst
für Beton-BRD-Verhältnisse triste Zentrum nicht zu sagen. Wenn man das
historische Leverkusen sehen möchte, dann muss man auf die anderen Seite
des Bahnhofs gehen. Hier beginnt direkt die Arbeitersiedlung Johanna,
erbaut ab 1912, ein komplett erhaltenes Ensemble in Reformarchitektur, mit
Vorgärten und Eckpavillons. Noch prächtiger ist die Kolonie Anna etwas
weiter nördlich, die mit ihren geschwungenen Straßen den Charakter einer
Gartenstadt hat.
In Leverkusen fehlen die großen alten Backsteinfabrikhallen anderer
Industriestädte, und das alles dominierende Chemiewerk liegt in einem
Sperrbezirk in einer Ecke der Stadt. Präsente Industriekultur ist daher vor
allem, was Bayer für seine Mitarbeiter:innen schuf. Das waren nicht
nur Wohnungen, der Konzern errichtete auch Konsumanstalten (das letzte der
insgesamt neun Bayer-Kaufhäuser schloss 2007) und Kultureinrichtungen wie
das bis heute für Konzerte genutzte Bayer-Erholungshaus, und förderte
Sportvereine.
So waren die Handballerinnen und die Basketballer von Bayer 04 lange Zeit
deutsche Spitze, die Leichtathletikabteilung ist es bis heute. In einer
Stadt, zu deren Hauptattraktionen ein Wasserturm mit Aussichtsplattform
(wegen Renovierung geschlossen), die weltgrößte Leuchtreklame (das
Bayer-Kreuz mit 1.700 Glühlampen) und ein paar kleine Schlösser gehören,
ist der Sport schon seit langem identitätsstiftend.
Und so kann man Bayer 04 Leverkusen zwar vorwerfen, dass es in der
Fußball-Bundesliga einen Wettbewerbsvorteil hat – aber Traditionslosigkeit
nun wirklich nicht. Vielmehr bildet die Synthese von Konzern und Verein
einen Teil der Industriegeschichte der vorletzten Jahrhundertwende ab.
Entstanden war der „Turn- und Spielverein der Farbenfabriken vorm.
Friedrich Bayer & Co. in Leverkusen“ auf Initiative von 170
Bayer-Arbeitern. Solche Werkssportgruppen waren keine exklusive
Bayer-Geschichte, unter anderem Arsenal London (gegründet 1886), Carl Zeiss
Jena (1903), der PSV Eindhoven (1913) und Wacker Burghausen (1930) haben
ähnliche Wurzeln.
## Trauma des Vizekusens
Die „Werkself“ haben sie in Leverkusen längst zum Marketingbegriff geadelt.
Und in der neuen Meisterhymne singen sie stolz von der „Farbenstadt“.
Wobei, bittere Leverkusener Ironie: genau jetzt, wo der Verein endlich das
Trauma des ewigen Zweiten, des Vizekusens, brechen konnte, liegt der
Bayer-Konzern am Boden. Die Aktien sind seit 2015 um 75 Prozent gefallen,
die Monsanto-Übernahme ist ein Desaster, es droht ein Stellenabbau, auch im
Management.
Zuletzt noch ein Abstecher zur BayArena, die direkt neben dem Autobahnkreuz
steht. Früher hieß Bayers Heimspielort Ulrich-Haberland-Stadion, benannt
nach, natürlich, einem Chemiker. Haberland war von 1951 bis 1961
Vorstandsvorsitzender der Bayer AG, hatte zuvor Karriere bei der IG Farben
gemacht und es dort auch bis in den Vorstand gebracht. Einer Anklage in den
Nürnberger Prozessen entging er allerdings.
An der BayArena werden gerade Getränke angeliefert. Vor dem Stadion irrt
eine türkische Familie herum: Touristen, sie würden gerne rein und eine
Führung mitmachen, doch es gibt keine. Man begnügt sich mit einem
Erinnerungsfoto. Plötzlich fängt ein vorbeifahrendes Auto an zu hupen,
drinnen hängt ein Fanschal. Ein spontaner Ein-Mann-Korso. Sie haben hier
einiges nachzuholen in Leverkusen.
18 May 2024
## LINKS
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[3] /Bahnhof-in-Wuppertal/!5997428
## AUTOREN
Michael Brake
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