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# taz.de -- Wahlkampf in Leverkusen: Kleine graue Maus
> Leverkusen steckt in Schwierigkeiten. Die Energiepreise sind hoch, die
> Firmen kriseln, der Chemiestandort leidet. Eine Hochburg der Rechten wird
> die Bayer-Stadt dennoch nicht.
Bild: Das Bayer-Kreuz in Leverkusen
Hellgrüne Wände, beiger Linoleumboden und ein flacher Neubau, der noch
steril wirkt. Hier soll im April eine Kinderpalliativstation des Klinikums
Leverkusen eröffnet werden, die dritte in Deutschland. Im Flur warten Mitte
Januar Klinikleitung und -personal, Personenschutz, ein Oberbürgermeister,
zwei Lokaljournalistinnen und die taz auf den Gesundheitsminister. Es ist
kein klassischer PR-Termin, dennoch ist der Klinikbesuch auch dem Wahlkampf
geschuldet.
Noch ist Karl Lauterbach amtierender Gesundheitsminister, der im Wahlkreis
100 (Leverkusen – Köln IV) das Bundestagsmandat für die SPD anstrebt. Fünf
Mal ist er seit 2005 angetreten, fünf Mal hat er das Direktmandat gewonnen.
Beim letzten Mal erhielt er 45,6 Prozent der Erststimmen.
Sechs Einzelzimmer wird es auf der Station geben, jedes mit Zugang zum
Garten. Die Palliativmedizin funktioniert mit Kindern anders als bei
Erwachsenen. Die Kinder kommen hierhin, weil sie an lebensverkürzenden, oft
neuromuskulären Erkrankungen leiden, die große Schmerzen oder Atemnot
verursachen können. Es geht um hochspezialisierte medizinische Therapien,
um Schmerzlinderung. Ein kostspieliges Projekt, das durch Spendengelder von
Firmen, Vereinen, Privatleuten gestemmt wird. „Ich war von Anfang an
begeistert“, sagt der Gesundheitsminister beim Rundgang durch die Räume.
„Es zeigt, dass die Zivilgesellschaft in Leverkusen funktioniert.“
Anschließend besucht er die Pflegeschule des Klinikums, überrascht eine
Klasse mit der Frage, welche Form des Lungenkarzinoms am gefährlichsten sei
(„das kleinzellige“), und greift beim vorbereiteten Buffet zum Nachtisch–
„ich esse doch kein Salz, aber Heidelbeeren gehen“. Im Besprechungsraum
kommen Fachfragen an den Fachmann: Welche Ideen haben Sie, um solch
hochspezialisierte Bereiche zu finanzieren? – „Es braucht eine eigene
Leistungsgruppe zur Abrechnung.“ – Wie stehen Sie zur Pflegekammer?
„Begrüßenswert.“ Lauterbach redet leise, weiß Antworten. „Wir hatten so
viele gute Gesetze schon fertig“, sagt er. „Sie konnten nicht mehr
verabschiedet werden, weil die FDP diesen Neuwahlzirkus veranstaltet hat.“
Beim Klassenfoto setzt er sich locker auf den Tisch. „Schön, dass Sie hier
sind“, sagt er zu den jungen Menschen. „Wir brauchen jede Pflegekraft.“
## Leverkusen ist eine der kleineren Großstädte Deutschlands
Die taz fragt: Herr Lauterbach, Sie treten ohne sicheren Listenplatz an.
Wie erklären Sie sich Ihren bisherigen Erfolg? – „Ich mache eine intensive
Wahlkreisarbeit. Die Leute wissen, dass ich mich wirklich kümmere. Ich
werde gewählt, weil ich fleißig bin.“ – Hat die AfD hier Chancen? – „…
ist ein demokratisches Pflaster. Klar gibt es auch AfD-Wähler. Aber die
Menschen wissen, wer für sie einsteht. Wir sind Kümmerer“, antwortet er.
Leverkusen ist eine der kleineren Großstädte Deutschlands, mit 170.000
Einwohner*innen und bekannt durch seinen Fußballverein, den Chempark
und das in 120 Meter Höhe aufragende Bayer-Lichtkreuz, das bei Nacht von
den zwei durch die Stadt führenden Autobahnen sichtbar ist. Die
Konzernzentrale befindet sich auch heute noch in Leverkusen, auf halber
Höhe zwischen Köln und Düsseldorf gelegen, auch wenn Bayer seine
Produktionsstandorte längst ins In- und Ausland verlagert hat. Die
chemische Industrie steckt in der Krise und die Stadt Leverkusen auch.
Die heikle wirtschaftliche Situation trifft die energieintensive
Chemiebranche besonders. Bislang ist Leverkusen gewerkschaftlich und
sozialdemokratisch geprägt. Bei den Bundestagswahlen 2021 lag die SPD mit
29,1 Prozent der Zweitstimmen deutlich vor der CDU (21,7), die FDP erzielte
mit 10,4 Prozent weit mehr Stimmen als die AfD (7,2), die Grünen rangierten
bei 19,2 Prozent. Wird die demokratische Mitte stabil bleiben oder rückt
auch hier alles nach rechts?
Im August 2024 verfügte der Rat der Stadt Leverkusen eine Haushaltssperre.
285 Millionen Euro fehlten der Stadtkasse, weil durch die gesunkenen
Gewinne der Chemiefirmen und den Einbruch der Aktienkurse von Bayer nach
der Übernahme des US-Agrarkonzerns Monsanto die Gewerbesteuereinnahmen
ausblieben. Zudem hatte man mit der Verlegung der Zentrale des Axa-Konzern
nach Leverkusen gerechnet, die dann nicht stattfand. Man hat sich
verrechnet, verkalkuliert, man hat es schwer. Steuervorauszahlungen müssen
zurückerstattet und Kredite weiter bedient werden, Zinsen fallen an. Die
Stadt fordert von Bund und Land, ihr die Altschulden zu erlassen.
## Dann rutschte Bayer immer tiefer in die roten Zahlen
[1][2021 hatte Leverkusen die Gewerbesteuer], ähnlich wie die
Nachbargemeinde Monheim, deutlich gesenkt. Wäre nicht jetzt eine Erhöhung
angebracht? „Das bringt überhaupt nichts“, sagt Leverkusens
Oberbürgermeister Uwe Richrath. „Ist eine Zitrone ausgepresst, kann ich
noch so viel pressen, da kommt nichts raus.“ Nach Einführung des neuen
Steuersatzes hätten sich „die Einnahmen trotz Reduzierung des Steuersatzes
verdoppelt“, weil Firmen vermehrt nach Leverkusen zogen. Doch dann rutschte
Bayer immer tiefer in die roten Zahlen, es folgten der russische Überfall
auf die Ukraine und die Energiekrise.
„Leverkusen hat einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, in Deutschland
industrielle Wertschöpfung stattfinden zu lassen“, sagt Richrath, der die
taz im fünften Stock des Rathauses empfängt, einer gläsernen Rotunde, die
eine Mall krönt. „Das hat die Stadt nie wertgeschätzt bekommen.“ Er setzt
den Satz hinzu: „Wir waren immer die graue Maus.“ Richrath, 64 Jahre alt,
gebürtiger Leverkusener, ist ein SPD-Mann. Am Vortag war er noch in Dublin.
Die Schnelligkeit, mit der in Irland auf technologische Entwicklungen
reagiert wird, imponiert ihm. „Wir brauchen in Deutschland ebenfalls einen
Industriesteuersatz, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.“
Der Oberbürgermeister hat Erwartungen an eine neue Bundesregierung. Ein
Industriestrompreis würde die Unternehmen entlasten. „Es geht um
Überbrückung“, sagt Richrath, „nicht um langfristige Subventionierung.“
Die Chemiebranche stellt Verbundstoffe her, ist Teil einer Wertstoffkette,
die sich zuarbeitet und am Laufen gehalten werden muss. Auch die Chemparks
selbst sind ein Verbund – Leverkusen hängt mit denen von Dormagen und
Uerdingen zusammen. „Bricht ein Glied aus der Kette weg“, sagt Richrath,
„bricht die ganze Kette zusammen.“ Man beneidet Richrath nicht um diesen
Job. Doch er will im September bei den Kommunalwahlen zum dritten Mal für
das Amt des Oberbürgermeisters kandidieren.
## Als Chemiestadt ist Leverkusen nicht mehr so dreckig
Als Chemiestadt ist Leverkusen nicht mehr so dreckig wie früher. Gefahren
bleiben: [2][2021 explodierte ein Tank im Entsorgungszentrum des
Chemparks]. Sieben Menschen starben. Statt eines Big Player sind dort heute
„vier große“ Firmen – Bayer, Covestro, Lanxess und Currenta – ansässi…
daneben viele kleinere Betriebe. Rund 30.000 Menschen arbeiten im Chempark,
ein Fünftel davon bei Bayer. Der Konzern hat seine Vormachtstellung in der
Stadt verloren. Außer beim Sport – im vergangenen Jahr holte die einstige
Werkself, längst eine GmbH, den lang ersehnten Meistertitel.
Die Namen Bayer und Leverkusen gingen früh eine Verbindung ein. Friedrich
Bayer war ein Farbenhändler, der seine Firma 1895 von Elberfeld nach
Wiesdorf am Rhein umzog. Dort tat er sich mit dem Alizarinrot-Hersteller
Carl Leverkus zusammen, auf den der Ortsname zurückgeht. Bayer war früh
aktiv in der medizinischen Forschung, 1899 kam Aspirin auf den Markt. Nach
dem Ersten Weltkrieg büßte der Konzern Teile seines Vermögens ein und ging
1925 in der IG Farben auf. Während des Nationalsozialismus beschäftigte das
Unternehmen Zwangsarbeiter – insbesondere in Buna-Monowitz bei Auschwitz.
Die Verantwortlichen wurden bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen
verurteilt. 1952 gründete sich Bayer neu. Heute hat die Firma weltweit
100.000 Beschäftigte, von denen nur 6.400 Menschen in Leverkusen arbeiten.
„Ich weiß noch, wie in meiner Kindheit die roten Fahrräder um 16 Uhr alle
auf einmal aus der Fabrik kamen“, erzählt Norbert Löffler, der 44 Jahre bei
Bayer im Werkschutz und jahrelang als Betriebsrat arbeitete. „Mein Vater
war auch dabei.“ Rot waren die Werksräder von Bayer, mit einer doppelten
Querstange, und wenn die untere gelb war, durfte man das Werksgelände damit
verlassen. Aufgewachsen ist Löffler in den Leverkusener „Kolonien“, den
Anfang des 20. Jahrhundert entstandenen Werkssiedlungen nach Vorbild
englischer Gartenstädte. Drei Kolonien und die Beamtensiedlung gab es, aber
auch Villen für die Doktoren und Direktoren – die Werkshierarchie fand sich
in der Anlage der Siedlungen wieder.
Es war ein paternalistisches, dennoch fortschrittliches Konzept, das für
die Beschäftigten und ihre Familien Sorge trug. Ein Bild der Lebensumstände
in den 1920er und 30er Jahren kann man sich im „Koloniemuseum“ machen,
einem Wohnhaus von 1904, wo Löffler den Besuch durch die Räume führt. „Die
Küche war der größte Raum“, zeigt Löffler, „so kenne ich es noch aus me…
Kindheit.“ Nebenan liegt die kleinere „gute Stube“, die selten beheizt
wurde. Im Keller ein Waschzuber, eine Handschleuder, Werkzeugbank und
Einmachgläser. Die Schlafräume finden sich im ersten Stock, darüber der
Dachboden, wo Tabakblätter, die man im Garten anbaute, getrocknet und
gerollt wurden.
[3][Das Museum wird ehrenamtlich betrieben; die Stiftung Vivawest] des
heutigen Eigentümers trägt die laufenden Kosten. Warum engagiert sich
Löffler, seit Juni in Rente, im Verein? „Mir ist wichtig, das Soziale an
Bayer zu bewahren“, sagt der 65-Jährige. „Der Konzern hat den Bewohnern
dieser Stadt Geborgenheit gegeben.“ In Leverkusen existierten: ein
Bayerkaufhaus, Bayerschwimmbad, Bayerkindergarten und -lesehalle, das
Erholungshaus mit Park, das gleich gegenüber liegt. Der Konzern prägte
Arbeit, Wohnen und Freizeit: „Mutter Bayer“ sagten die Menschen früher. Es
gab Tariflohn, günstige Kredite, Kultur- und Freizeitangebote, ein
Allroundpaket, das es schon lange nicht mehr gibt.
## Es gibt Nostalgiker im Team
Sind Leute im Verein deswegen unzufrieden mit der Politik? „Die Wahl war
bisher kein Thema“, sagt Löffler. „Wir reden nicht über Politik, nicht ü…
Sport, nicht über Religion.“ Man sammelt Fotos, Erinnerungsstücke, plant
Ausstellungen. Es gibt Nostalgiker im Team, sagt Löffler. Er gehöre nicht
dazu. „Das Museum ist für mich“, sagt Löffler, „ein Ausflug in die
Kindheit. Es war nicht alles schön. Man soll auch sehen, wie
entbehrungsreich die Menschen früher gelebt haben.“
Den Kauf von Monsanto hält Löffler für einen „großen Fehler“. 2018 übe…
der Weltmarktriese den US-Konzern Monsanto, der das glyphosathaltige
Unkrautvernichtungsmittel Roundup im Programm hatte. Bayer erbte damit eine
Flut von Klagen, musste Milliarden Dollar an Prozesskosten und
Entschädigung zahlen. Weitere Verfahren laufen. Die Bayer-Aktie verlor in
den letzten zehn Jahren mehr als 80 Prozent ihres Werts. Die
Unternehmensleitung kündigte einen „erheblichen“ Stellenabbau in der
Verwaltung an: Abfindungen für alle, die freiwillig gehen. Dynamic Shared
Ownership (DSO) nennt sich die Strategie.
Der Bayer-Gesamtbetriebsrat hat der bis Ende 2026 geltenden
Betriebsvereinbarung zugestimmt. Ob es danach betriebsbedingte Kündigungen
geben wird, ist offen. Der Bayer-Gesamtbetriebsrat lehnte zwei Anfragen der
taz für ein Gespräch ab. „Derzeit konzentrieren wir uns bezüglich
Kommunikation auf den internen Austausch“, schreibt Betriebsrat Frank
Rösch.
„Wir merken, dass die Zeiten schwieriger werden“, sagt Nina Melches,
Bezirksleiterin der Chemiegewerkschaft IG BCE, die in roter
Gewerkschaftsjacke in einem Besprechungsraum am Leverkusener Sitz empfängt.
Der schleichende Stellenabbau begleite die Gewerkschaft schon lange. „Für
uns ist aber neu, dass betriebsbedingte Kündigungen nach 2026 nicht mehr
ausgeschlossen sind. Wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, dass
es zu denen nicht kommen wird.“
Nicht nur Bayer, auch andere Firmen des Chemparks stecken in
Schwierigkeiten. Der saudische Ölkonzern Adnoc will den Polymerhersteller
Covestro kaufen. Die Übernahme läuft, es gebe eine Zusage, den Leverkusener
Standort nicht aufzugeben, sagt Melches. Die Gewerkschafterin erinnert sich
an die Zeit kurz vor Corona. „Da galt das Thema Transformation als
Möglichkeit, den Wirtschaftsstandort nach vorne zu bringen. Und dann sind
sämtliche Krisen passiert“, sagt sie bedauernd. Die Euphorie ist verflogen,
wichtige Investitionen sind ausgeblieben, der Aufschwung fand nicht statt.
Melches ist wichtig: „Der Punkt Transformation wird in Politik und in
Gesellschaft häufig nur an der ökologischen Transformation festgemacht. Die
sozialen und wirtschaftlichen Aspekte werden sträflich vernachlässigt.“
Was melden ihr die Betriebsräte aus den Belegschaften zurück? „Mehr
Unverständnis für die Politik und wachsende Fremdenfeindlichkeit“, sagt
Melches. „Die Gesellschaft ist polarisiert, das spiegelt sich auch in
unserer Mitgliedschaft wider. Ob mir das gefällt? Nein.“ Hinter Melches
hängt ein Plakat, das sagt: „Die AfD ist keine Alternative“.
Ein Donnerstag in Opladen, einem bürgerlichen Viertel Leverkusens. Grüne,
FDP und SPD haben mit kleinen Ständen zwischen Fußgängerzone und
Wochenmarkt Position bezogen. CDU und AfD sind nicht vertreten. Es ist der
23. Januar, und am Vortag hat ein afghanischer Asylbewerber in
Aschaffenburg ein Kind und einen Mann erstochen. Unter den Vorübergehenden
scheint es noch kein Thema zu sein. Nur ein Helfer am SPD-Stand sagt: „Mit
dem Attentat ist das Thema Abschiebung zurück.“ Er wird ja so recht haben.
## Seit 9 Uhr morgens am Stand
Grünen-Kandidatin Nyke Slawik steht bereits seit 9 Uhr morgens am
Wahlstand, einem umfunktionierten Lastenrad. Buntstifte und zwei
verschiedene Flyer liegen aus. Slawik bietet einer Passantin einen mit
Noch-Vizekanzler Robert Habeck zum Mitnehmen an, „da steht auch was
Inhaltliches drin“. Ein Wahlhelfer scherzt: „Du gehst aber besser.“ Slawi…
31, ist Opladenerin und 2021 über einen Listenplatz in den Bundestag
eingezogen. Eben hat sie mit einem Cannabispatienten über seine Befürchtung
gesprochen, die Regelung könne rückgängig gemacht werden. Wohnungsmarkt,
Verkehrsplanung sind die lokalen Themen. Mit Karl Lauterbach hat sie
gemeinsam einen Brief an Noch-Verkehrsminister Volker Wissing geschrieben,
es geht um „Tunnel statt Stelze“. Kein überirdischer Autobahnbau ist ein
Thema, das die Leverkusener Stadtgesellschaft eint.
Wie schätzt die Grüne die wirtschaftliche Situation der Stadt ein? Auch von
ihr hört man, was in Leverkusen alle sagen: „Der Industriestrompreis ist
die zentrale Frage, weil die Chemieindustrie sehr energieintensiv ist. Sie
ist als Grundstoffindustrie der große Zauberkasten. Hier werden
Verbundstoffe produziert, die überall drin sind und vieles zusammenbinden,
auch für Windenergieanlagen.“ Slawik verweist auf die Gesetzesvorhaben, die
man in der Koalition nicht durchgebracht habe. Investitionsfonds,
Reformierung der Schuldenbremse.
Währenddessen sind zwei Polizeilimousinen eingetroffen, sie bilden die
Vorhut zu der schwarzen Limousine, aus der eine halbe Stunde später Karl
Lauterbach steigt. Es bildet sich ein kleiner Schwarm am Stand, eine Frau
in Schwesterntracht will ihm „einfach danken“, ein Mann fragt, wie er beim
AfD-Verbotsantrag abstimmen will, eine Dame schildert das Schicksal ihres
schwerstbehinderten Enkels, für den die höchste Pflegestufe nicht reiche.
Die Menschen möchten ihre Anliegen loswerden, überzeugen lassen wollen sie
sich nicht. Drei ältere Männer lehnen eine Einladung zum Gespräch ab. „Der
soll doch auf mich zukommen“, sagt einer von ihnen. „Wir sind froh, dass
diese Regierung endlich weg ist. So ein Chaos! Ich habe immer Scholz
gewählt, aber jetzt nicht mehr.“ Die AfD werde er trotzdem nicht wählen,
setzt er noch dazu.
Oberbürgermeister Uwe Richrath hatte geäußert, er fürchte weniger, dass die
Menschen nach rechts abdriften, als dass sie gar nicht zur Wahl gehen. Die
Wahlprognosen für ganz NRW sehen für die SPD schwarz. Wenn die lang
eingeübte Sozialpartnerschaft zwischen Firmen und Gewerkschaften, Kommune
und ihren Bildungs- und Sozialeinrichtungen nicht hält, dürfte der
politische Unmut auch hier wachsen und Konservativen wie Populisten Stimmen
bescheren.
Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) betreibt in den sozialen Brennpunkten Offene
Ganztagsschulen, trägt Familienzentren, macht Flüchtlingsarbeit. Petra
Jennen vom Kreisvorstand der AWO Leverkusen geht Ende Februar in Rente. Sie
sagt offen am Telefon: „Ich fürchte sehr um den sozialen Frieden in der
Stadt.“ Aufgrund der Haushaltssperre würden im ersten Quartal alle
laufenden Verträge neu geprüft. „Unsere Arbeit ist in den letzten Jahren
immer schwerer geworden.“ Anträge werden wegen fehlenden Personals in der
Stadtverwaltung nicht bearbeitet oder entschieden. Wohin das führt, erklärt
Jennen am Beispiel der Sozialhilfefälle in den Altenheimen der AWO. Solange
die Betroffenen keinen amtlichen Bescheid bekämen, würde weder Sozialhilfe
gezahlt noch leisteten die Bewohner*innen privat ihren Beitrag. „Wir
haben Außenstände von 350.000 Euro. Wir strecken das vor. Als kleiner
Träger wären wir längst platt.“ Dass die Kommune kein Geld hat, will sie so
nicht gelten lassen. „Geld ist da, man muss es nur anderswo reinstecken“,
sagt Jennen.
Die Stadt bestätigt eine „Prüfung und Neuaufstellung des Haushalts“.
Begonnene Baumaßnahmen für Kitas, Schulen und Quartierseinrichtungen würden
fortgeführt. Bei Kultur und Sport sei seit 30 Jahren „ein schleichender
Rückzug“ der Bayer-Förderung zu verzeichnen. Dennoch arbeitet man eng mit
der Kulturabteilung des Konzerns zusammen, die gerade die Leverkusener
Jazztage gerettet hat. Das Wort „Rückzug“ hört deren Leiter Thomas Helfri…
nicht gern. „Wir fördern nur anders als früher, weniger nach dem
Gießkannenprinzip. Aber wir investieren jährlich immer noch eine Summe im
mittleren einstelligen Millionenbereich.“ Der angekündigte Verkauf von
Teilen der Kunstsammlung habe nichts mit der schwierigen finanziellen
Situation des Konzerns zu tun, erklärt Helfrich. „Das Geld fließt zurück in
die Kulturförderung.“ Er verstehe die Problemlage der Stadt, aber warum man
nicht mal bei den anderen großen Firmen nachfrage.
Die Zeiten von „Mutter Bayer“ sind vorbei. Die lassen sich allerdings im
Koloniemuseum besichtigen.
10 Feb 2025
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## AUTOREN
Sabine Seifert
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Er war 30 Jahre lang Verleger, inzwischen ist Edmund Budrich 92 und
arbeitet immer noch. Ein Besuch in Leverkusen.
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herrscht keine Klarheit. Gesucht wird weiter nach vier Vermissten.
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