# taz.de -- Zum Tod von Hartmut Sander: Lieber Beatband als Politgrüppchen | |
> Hartmut Sander war als Drucker und Verleger einer der wichtigsten | |
> Protagonisten der frühen Popliteratur. Dann stürzte er ab. Ein Nachruf. | |
Bild: Umschlag des Buchs „Subkultur Berlin“, 1969 im März-Verlag erschienen | |
„Ich erinnere mich an nichts – ist vielleicht auch besser, wenn man sich | |
nicht erinnert.“ Das ist die einzige – programmatische – Aussage, die ich | |
von Hartmut Sander festgehalten habe, nach einem Telefonat. Persönlich | |
getroffen habe ich ihn nie, ein Brief blieb 2004, als ich für ein | |
Buchprojekt erstmals zu ihm Kontakt aufnahm, unbeantwortet. | |
Als ich knapp 20 Jahre später noch mal nach seinem Schicksal forschte, | |
schrieb mir seine Schwester, die [1][Filmemacherin Helke Sander], im | |
Dezember 2023: „Auch wenn mein Bruder nicht mehr große Gefühlsregungen | |
zeigt, so hat er sich doch über Ihren Brief gefreut. Auf meine Frage, ob er | |
Sie sehen will, hat er nicht eindeutig geantwortet. Allerdings ist eine | |
Unterhaltung kaum möglich, weil er auf dem einen Ohr nichts hört und dem | |
anderen kaum etwas. Es reicht nicht, laut zu sprechen, man muss brüllen.“ | |
Und: „Er hat sich gewissermaßen ausgeklinkt.“ | |
Brüllen, vergessen, sich ausklinken: Das sind vielleicht Motive, die zu | |
einer notwendigerweise unvollständigen Würdigung von Hartmut Sander passen, | |
der 1942 geboren wurde, a[2][m 30. März 2024 in einem Berliner Pflegeheim | |
gestorben ist] und dessen Asche nun auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in | |
Berlin-Schöneberg ruht. | |
## Bartleby der deutschen Literatur | |
Hartmut Sander ist ein Art [3][Bartleby] der deutschen Literatur: einer, | |
der im Aufbruchsjahrzehnt der 1960er mit den absoluten Größen – Peter | |
Handke, Rolf Dieter Brinkmann – erscheint, der das, was irgendwann | |
Popliteratur heißt, als Verleger [4][US-amerikanischer Undergound-Gedichte] | |
miterfunden hat – und der dann im nicht nur übertragenen Sinn eingestampft | |
wird, der noch einmal unüberhörbar brüllt und sich schließlich für immer | |
aus der Öffentlichkeit verabschiedet. | |
Nach der Flucht vor einem autoritären Vater („Hartmut sollte ein guter, | |
männlicher, deutscher Junge werden und kein verträumter, Gedichte | |
schreibender Herumtreiber“, Helke Sander) macht Sander eine | |
Buchhändlerlehre, geht nach Köln und arbeitet in der Buchhandlung von | |
Johann Caspar Witsch, dem Mitbegründer des Verlags Kiepenheuer & Witsch. | |
Kollegen dort sind Rolf Dieter Brinkmann und [5][Klaus Willbrand]. Zusammen | |
gründen sie einen nach Willbrand benannten Verlag, Sander war noch nicht | |
volljährig. Hier erscheint Brinkmanns erstes Buch überhaupt, die | |
Gedichtbroschüre „Ihr nennt es Sprache“. Im „Brinkmann-Handbuch“ heiß… | |
dazu: „Sie sollte die einzige Publikation des Verlags, aber nicht | |
Brinkmanns einziger Versuch einer Verlagsgründung mit Sander bleiben.“ | |
Und das, obwohl schon diese erste Publikation unter keinem guten Stern | |
stand: Im „Handbuch“ ist nachzulesen, wie Brinkmann beim Durchblättern der | |
als Honorar vereinbarten Freiexemplare auf vier Druckfehler stieß und | |
sofort die Auslieferung der gesamten Auflage verbot, was Willbrand und | |
Sander 1.200 D-Mark kostete, „viel Geld“. Die knapp 500 Stück von „Ihr | |
nennt es Sprache“ kamen dann erst nach Brinkmanns Tod auf den Markt. | |
Signiert findet sich das 29-seitige Büchlein heute [6][im antiquarischen | |
Buchhandel] für 300 Euro. Diese Entwicklung vom günstigen Büchlein zum | |
Sammlerobjekt ist typisch für Sanders Schaffen als Verleger und Drucker: | |
Für das 16-seitige Pamphlet [7][„Die Literatur ist romantisch“ von Peter | |
Handke] ist man heute als „Sonderangebot“ ab 250 Euro mit dabei, der Preis | |
geht hoch bis 550 Euro. | |
## Streit mit Brinkmann und Handke | |
Radikaler als Brinkmann hatte Handke sein Essay, das 1967 in der von Sander | |
und Martin Dürschlag betriebenen [8][Oberbaumpresse] erschien, einstampfen | |
lassen. Ein paar Restexemplare sind der Vernichtung aber offensichtlich | |
entgangen. In den Handke-Biografien, die ich für diesen Artikel | |
durchgesehen habe, kommt der Name Hartmut Sander nicht vor, obwohl es sehr | |
interessante Briefstellen von Handke an Sander gibt (zum Beispiel: | |
„vielleicht ist die zeit der literatur überhaupt vorbei“, [9][Brief von | |
Handke an Sander vom 8. November 1968]). | |
Nach Westberlin war Sander 1964 gezogen, um der Bundeswehr zu entgehen. | |
Nach Angaben des anarchistischen Verlegers Bernd Kramer, der wie Sander aus | |
Remscheid stammte und es ebenfalls anderen überlassen wollte, „das | |
Vaterland zu verteidigen“, zogen die beiden zusammen mit Barbara Sander und | |
Karin Kramer nach Berlin-Britz, wo sie in einer Wohn- und | |
Arbeitsgemeinschaft eine Offsetdruckerei aufbauten. | |
Kramer: „Hartmut Sanders sehr ausgeprägter individueller Arbeitsstil | |
erschwerte nach und nach die Zusammenarbeit und das Zusammenleben. Während | |
wir in der Druckerei arbeiteten, saß Hartmut auf dem Vordach der Druckerei | |
und las Marx und Heidegger.“ Das führte zum ersten in eine Reihe von | |
„unvermeidlichen“ Krächen zwischen den beiden. Das weitere Zusammenleben in | |
dieser sogenannten [10][Linkeck-Kommune] beendete Sander mit dem nur zu | |
verständlichen Satz: „ich bin nicht euer Drucktrottel“, nahm sein Wissen | |
und das Produktionsmittel Rotaprint-Druckmaschine mit und zog aus. | |
Auch Brinkmann als anfänglicher Teilhaber und Autor der Oberbaumpresse war | |
sauer auf Sander. Ein 1966 in 280 Exemplaren erschienenes Bändchen | |
„&-Gedichte“ ging später [11][bei Auktionen für nicht weniger als 400 Euro | |
an die Kundschaft.] Zurzeit des Erscheinens schimpfte Brinkmann brieflich | |
über „totale Geschmacklosigkeit“ der Gestaltung und nahm sich wie immer | |
auch sonst nicht zurück: „Deine lächerlichen hochfliegenden Absichten, | |
etwas gegen den Strich zu machen, sind die in meinem Band realisiert? Diese | |
Verlogenheit ist enorm!“ Was Brinkmann so in Rage brachte, kann ich leider | |
nicht beurteilen. | |
„Gegen den Strich“ ist aber jedenfalls ein weiteres dieser Attribute, die | |
Sander anhängen. Und doch sollte er sein Glanzstück noch abliefern: die | |
1969 [12][im legendären März-Verlag] von Jörg Schröder erschienene | |
[13][„glanzfolierte“, querformatige Dokumentation „Subkultur Berlin“] k… | |
200 Seiten in Wort, Bild und Ton (mit Schallplatte!) wildestes | |
Durcheinander, und damit die vielleicht authentischste Darstellung dessen, | |
was „68“ in Westberlin jedenfalls auch war – dadaistischer Radikalspaß am | |
absoluten Chaos bis hin zum Totalabsturz. Schon 1966 hatte Sander | |
formuliert, es sei besser, eine Beatband zu gründen, als ein weiteres | |
linkes Politgrüppchen. Die Bibliothek Ihres Vertrauens führt bestimmt ein | |
Exemplar, sonst sind Sie hier antiquarisch [14][schon ab ca. 20 Euro mit | |
dabei (ohne Schallplatte!)]. | |
Was dann passierte, hat Helke Sander in ihrer „Mein kleiner Bruder“ | |
betitelten Grabrede so geschildert: „Hartmut hatte auf jeden Fall in dieser | |
Zeit viel Witz und Schaffensdrang und Einfälle und war eine Zeitlang auch | |
glücklich mit seiner Frau Barbara, bevor er den Drogen erlag und von einem | |
LSD-Trip nicht mehr runterkam.“ | |
Was das konkret bedeutete, [15][hielt Rolf Dieter Brinkmann fest]: Sander | |
„pennte in Kommunen / verwahrloste / wurde wütend, verlor vor Wut den | |
Verstand und nahm ein Brecheisen / zertrümmerte das Kreuz der | |
Gedächtniskirche in Berlin / wurde in Heilanstalt gebracht / | |
Beruhigungsspritzen / willenlos / bricht aus / geht freiwillig zurück / | |
bricht wieder aus / lebt im Niemandsland / schreit jetzt neu in Heilanst.“ | |
Und dort, im „Niemandsland“, in der „Heilanst.“, in der Pflege, betreut… | |
seiner Schwester Helke, hat Hartmut Sander dann Jahrzehnte verbracht. Die | |
deutsche Literatur und ihr Betrieb machten währenddessen [16][einfach | |
weiter.] Und daran ist nichts Verkehrtes; aber auch einen Menschen, der | |
dieser Literatur wesentliche Impulse gegeben hat, zu würdigen, scheint mir | |
das Richtige zu sein – wenn ich es schon versäumt habe, ihn kennenzulernen. | |
23 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://helkesanderfilm.de/ | |
[2] https://trauer.tagesspiegel.de/traueranzeige/hartmut-sander | |
[3] /Illustrierte-Ausgaben-von-Klassikern/!5974646 | |
[4] https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Angebote/titel=Underground+Poems+Unte… | |
[5] http://www.brinkmann-wildgefleckt.de/klaus-willbrand/ | |
[6] https://www.zvab.com/signierte-erstausgabe/nennt-Sprache-Achtzehn-Gedichte-… | |
[7] https://handkeonline.onb.ac.at/node/1520 | |
[8] https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019670500.pdf | |
[9] https://www.anarchia-versand.net/Antiquariat/Antiquariat-Gefundene-Fragment… | |
[10] https://black-mosquito.org/de/lothar-binger-68-selbstorganisiert-antiautor… | |
[11] https://www.venator-hanstein.de/katalog/detail/142/6576 | |
[12] /Neustart-des-legendaeren-Maerz-Verlags/!5822803 | |
[13] https://blogs.taz.de/schroederkalender/2013/04/28/subkultur-berlin/ | |
[14] https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Hartmut-Mitwirkender-Sander+Subkultu… | |
[15] https://www.rowohlt.de/buch/rolf-dieter-brinkmann-erkundungen-fuer-die-pra… | |
[16] https://boschblog.de/2011/06/22/rolf-dieter-brinkmann-alles-macht-weiter/ | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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