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# taz.de -- Evangelikale in Polen: Gott liebt dich, außer …
> … du bist homosexuell oder nimmst einen Schwangerschaftsabbruch vor.
> Meint zumindest ein Star-Prediger auf Tour in Polen.
Bild: Tausende Evangelikale jubeln in der Tauron Arena in Krakau
„Es kommt Großes auf Polen zu“, sagt ein polnischer Student und strahlt
dabei. „Das Land hat Hunger, wieder Gott zu spüren.“ Es ist ein Abend am
13. April in Krakau, der zeigen wird, wie beliebt die evangelikale Strömung
in Polen vor allem bei jungen Menschen gerade ist. „Bóg Cię Kocha“, Gott
liebt dich, steht in großen Buchstaben rund um die Tauron-Arena, der
größten Veranstaltungshalle der Stadt. Franklin Graham, Sohn des
[1][weltberühmten evangelikalen Predigers Billy Graham], setzt hier seine
internationale „God loves you“-Tour fort und lädt zu einem kostenlosen
Abend voller Erlösungsversprechen ein. Über 13.000 Besucher reisen an.
Woher nur dieser Ansturm im Land von Johannes Paul II., dem immer noch
sicheren Hafen des Katholizismus?
Es sind nicht alle Besucher in Freikirchen aktiv, manche sind Katholiken,
die von „diesem amerikanischen Pastor“ gehört haben. Viele aber
[2][sympathisieren mit dem Evangelikalismus] oder sind bereits
freikirchlich getauft. ‚Evangelikal‘ ist dabei kein konfessionsspezifischer
Begriff, betont Thorsten Dietz, Theologieprofessor in Marburg mit
Forschungsschwerpunkt Evangelikalismus. „Klassisch gehören zum
Evangelikalismus [3][vier Merkmale von protestantischen Gemeinden]: die
Bekehrung, die starke Stellung der Bibel als unfehlbarer Grundlage, der
Glaube an Christus als Erlöser und der aktivistische, missionarische
Aspekt, der Andersdenkende bekehren und die Gesellschaft verändern möchte.“
Im Gespräch mit jungen Polen, die zur Halle pilgern, fällt immer wieder die
Aussage, sie seien katholisch erzogen worden und hätten in dieser Kirche ab
einem bestimmten Zeitpunkt weder tiefe Glaubenserfahrungen noch ein
Zugehörigkeitsgefühl empfinden können. Sie seien konvertiert, hätten sich
sogar freikirchlich taufen lassen. Die Eltern seien erfreut, dass ihre
Kinder wieder so intensiv zum Glauben gefunden hätten, man glaube
schließlich an denselben Gott.
## Schulterschluss mit Katholiken
In Polen herrsche, ähnlich wie in Amerika, ein Kulturkampf zwischen links
und rechts, der das Land zum attraktiven Wachstumsmarkt für die
evangelikale Bewegung mache, sagt Dietz. Die Entscheidung für Polen als
Veranstaltungsort hält er daher für „sehr strategisch“. Ein Schulterschlu…
zwischen Evangelikalen und Katholiken gegen den gemeinsamen Feind, die
progressive liberale Gesellschaft inklusive Frauenrechte und Ehe für alle,
sei hierfür ein extrem begünstigender Faktor. Der Evangelikalismus könne
durch sein beweglicheres und offeneres Format viel schneller als die
Volkskirchen diese Polarisierungsbewegungen für sich nutzen.
Für strategisch geschickte Evangelikale sei Polen laut Dietz ein großer
Zukunftsmarkt. Und genau diesen Kulturkampf spielt Graham an diesem Abend
aus, kaum dass er auf der Bühne steht. Vorher allerdings wird die Halle
fast zwei Stunden mit christlicher Musik angeheizt, vorgetragen unter
anderem von Taya Gaukrodger, ehemals eine sehr erfolgreiche Sängerin in der
umstrittenen Hillsong-Church, und Michael W. Smith, einer der bekanntesten
christlichen Sänger Amerikas (und 1992 von People unter die 50 schönsten
Menschen weltweit gewählt). Ohrenbetäubend laut und mit Texten über Schuld
und Erlösung ist schnell eine für den Evangelikalismus typische
musikalische Ekstase hergestellt.
Zwischen den Acts laufen Werbevideos für die Hilfsorganisation Samaritan’s
Purse, dessen Präsident und CEO Franklin Graham seit 1979 ist und die auch
in Deutschland etwa die bekannte Spendenaktion „Weihnachten im Schuhkarton“
organisiert. Schwerpunkt der Videos ist das Porträtieren von Helfern der
Samaritan’s Purse im Einsatz für die Ukraine, im tiefsten Winter an der
Front Essen verteilend und kriegstraumatisierte Kinder tröstend. Nicht
wenige Ukrainer befinden sich im Publikum. „Die Abwendung der
ukrainisch-orthodoxen Kirche von der russisch-orthodoxen Kirche und die
damit verbundene Verunsicherung vieler orthodoxer Gläubiger macht die
Ukraine momentan für manche Evangelikale zu einem erstrangigen
Missionsziel“, erklärt Dietz.
Emotional bereits wundgescheuert und heiser gesungen ersehnt die Menge den
Auftritt des großen Stars, der nach fast zwei Stunden Vorlaufzeit auf die
Bühne kommt. Seine etwa halbstündige Botschaft leitet Graham, Satz für Satz
ins Polnische übersetzt, klug ein: Sein Vater, Billy Graham, den Dietz als
„international so einflussreich wie zwei oder drei Päpste auf einmal“
bezeichnet, sei ein enger Freund von Johannes Paul II. gewesen. Die Menge
jubelt.
## Narrativ des Kulturkampfes
Nach dem Gleichnis Jesu von den zwei Söhnen, die Graham mit den
geistreichen Worten „Die Geschichte findet auf einem ähnlichen Bauernhof
statt, wie es sie auch hier in Polen gibt!“ kommentiert, kommt er zum
klassischen Narrativ des Kulturkampfes: Er dankt Polen dafür, biblische
Werte hochzuhalten in einer EU, die das Land dazu zwingen wolle, von ihnen
abzurücken. Dann geht es sehr schnell um Sex: „Gott will, dass wir Sex
haben“, versichert Graham. Darauf muss ein „aber“ folgen: „Natürlich a…
nur zwischen Mann und Frau in einer Ehe. Zwei Männer oder zwei Frauen, das
ist Sünde.“ Der bislang lauteste Applaus ertönt.
Das zweite große Thema des aktuellen Evangelikalismus folgt sofort:
Schwangerschaftsabbrüche. „Mord“, ruft Graham. „Mit Sicherheit sind heute
Abend Frauen hier, die abgetrieben haben. Ihr seid Mörderinnen!“ Diese
starke politische Positionierung gegen die Anerkennung queerer Menschen und
der antifeministische Kampf gegen die Gleichberechtigung von Frauen sei
eine relativ neue Entwicklung des Evangelikalismus der letzten vierzig
Jahre, ordnet Dietz ein.
In den 1950er bis 1970er Jahren sei der Evangelikalismus „in der Sache zwar
klar, im Ton aber geschmeidiger“ aufgetreten. Die Rückeroberung einer alten
Aggressivität im Tonfall und der offene Schulterschluss mit der
politisch-christlich Rechten (Franklin Graham rief in der Vergangenheit
immer wieder zum Gebet für Donald Trump auf) sei vor allem seit den 1980er
Jahren wieder zu beobachten.
Der Halle wird ihre „sexuelle Schuld“ repetitiv vorgetragen. Böse sei jeder
von ihnen ohnehin durch die Erbsünde. „Ein sehr negatives Menschenbild
spielt im Evangelikalismus im Gegensatz zu den Volkskirchen immer noch eine
zentrale Rolle“, so Dietz. Für die heraufbeschworenen Schuld- und
Schamgefühle bietet Graham eine „once-in-a-lifetime-chance“ an: die
Aufforderung, vor die Bühne zu kommen und mit ihm um Erlösung durch Jesus
Christus zu beten. Danach hat die kollektive Euphorie ihren Höhepunkt
erreicht: Gott habe den „delete-button“ gedrückt, verspricht der Prediger.
Nach diesem Vergebungsritus verlässt Graham die Bühne, niemand allerdings
solle einfach nach Hause gehen. Versiert werden Name, Alter und Adresse
aller Anwesenden notiert, außerdem der Grund fürs Kommen. „Seeking
salvation“ lautet einer, „religious struggles“ ein anderer. Warum die
Datenaufnahme? „Seine Organisation ist auch ein Medienimperium“, erklärt
Dietz. Gezielt würden im Nachgang den Besuchern passgenaue Angebote
gemacht: je nach Bedarf Antworten auf existenzielle Fragen, Hilfsangebote,
Einladungen zu Gemeinschaftstreffen oder auch Empfehlung anderer
evangelikaler Formate wie etwa der Erfolgsserie „The Chosen“.
Die Billy Graham Evangelistic Association sei eine der weltweit größten
missionarischen Werke, die viel professioneller vorgehen als etwa die
Volkskirchen, die, so Dietz, „oft immer noch einfach hoffen, dass Menschen
um 10 Uhr am Sonntag den Gottesdienst besuchen“. Treibend für den
Evangelikalismus sei im Gegensatz dazu die tiefe Überzeugung, dass es für
Gläubige keinen wichtigeren Auftrag im Leben gebe als die Bekehrung
Ungläubiger, die noch in Sünde leben.
Nach der Veranstaltung strahlen die Gesichter. Nur eine Person ist zu
sehen, die während der ganzen Veranstaltung völlig unbeeindruckt geblieben
ist. In der letzten Reihe schnarcht eine alte Frau vor sich hin, die sich
mit Einkaufswägelchen in die Halle verirrt und in der Kühle des Gebäudes
von der Hitze draußen ausgeruht hat. Jeden kann Graham also doch nicht in
seinen Bann ziehen
22 May 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Marie-Sofia Trautmann
## TAGS
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