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# taz.de -- Filmfestspiele in Cannes: Bereit, das eigene Kind zu opfern
> Gewalt ist ein zentrales Thema bei den Filmfestspielen in Cannes. Es geht
> unter anderem um Homophobie im Donaudelta und Umbrüche in China.
Bild: Zhao Tao in Jia Zhangkes Film „Caught by the Tides“, der ein Viertelj…
Auf den Straßen von Cannes ist es, vom üblichen Festivalgewusel einmal
abgesehen, einigermaßen ruhig. Man kann im Zentrum und der Altstadt rund um
den Festivalpalast aber vereinzelt Plakate finden, die Kritik am Festival
üben oder direkt auf [1][#MeToo-Vorwürfe] eingehen. Auf einem Werbekasten
etwa fordert ein minimalistisch gehaltener weißer Anschlag mit einer
Karikatur des künstlerischen Leiters Thierry Frémaux, dass dieser seinen
Posten nach 23 Jahren räumen möge. Ganz ähnlich gestaltet, verlangt ein
anderer die Entlassung des Produzenten Dominique Boutonnat, Präsident des
Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC). Gegen ihn wird wegen
sexueller Gewalt ermittelt.
Andere Formen von Gewalt beherrschen dafür die Leinwand im Wettbewerb der
Filmfestspiele. Die Regisseurin Coralie Fargeat lässt in „The Substance“
den alternden Fitness-Star Elizabeth Sparkle (Demi Moore) ganz direkt gegen
eine jüngere Version ihrer selbst namens Sue (Margaret Qualley) antreten.
Möglich ist dies durch die titelgebende Substanz, die eine spontane
Genverdopplung bewirkt.
Das Narzissmus-Thema von Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ wird
bei Fargeat in den Zusammenhang der heutigen Selbstoptimierungsideologie
gestellt. Das alles mit sehr drastischen Mitteln des Body Horror und
Splatter. Man sieht unschöne Körpereingriffe und -veränderungen, und bei
der Verwendung von Kunstblut scheint Fargeat einen neuen Rekord aufstellen
zu wollen. Den platt ausgeführten Plot macht ihr cartoonesker Gewaltexzess
allerdings nicht interessanter.
## Ein Junge wird verprügelt
Andere Regisseure nehmen sich gesellschaftlicher Fragen weniger plump an.
Das Drama „Three Kilometres to the End of the World“ von [2][Emanuel Pârvu]
erzählt von Homophobie und Korruption in einem abgeschiedenen Dorf im
Donaudelta. Ein Junge wird verprügelt, und keiner weiß zunächst, warum.
Nach und nach legt der Film die Verstrickungen unter den Bewohnern offen,
in denen auch die Eltern feststecken. Diese scheinen eher bereit, ihr Kind
für das Ansehen der Erwachsenen zu opfern, als sich mit der Aufklärung des
Falls zu beschäftigen. Pârvu erweckt zwischendurch den Eindruck, als suche
er ebenfalls nach Drastik, behält am Ende jedoch seinen trocken
beobachtenden Stil bei, was ihn zu einem der stärkeren Filme im Wettbewerb
macht.
Auch der chinesische Regisseur Jia Zhangke kann mit „Caught by the Tides“
überzeugen, selbst wenn seine 25 Jahre umspannende Geschichte es nicht
darauf anlegt, dass man in jedem Moment den Überblick behält. Wie in seinen
vorangegangenen Filmen begleitet Jia Zhangke die großen jüngeren Umbrüche
in China, vom Baubeginn der gigantischen Drei-Schluchten-Talsperre Mitte
der Neunziger, für die mehrere Städte geflutet wurden, über den
Immobilienboom zu Beginn des Jahrhunderts bis in die maskenbewehrte
Coronapandemie 2022.
Im Zentrum der Handlung steht Qiao Quiao, wie schon in [3][„Asche ist
reines Weiß“ (2018)] gespielt von seiner Frau Zhao Tao. Ihre Hauptfigur
begibt sich auf die Suche nach ihrem früheren Freund Guao Bin, der in eine
andere Provinz gezogen ist. Für den Film hat Jia Zhangke teils Material von
Dreharbeiten für frühere Arbeiten verwendet, mitunter ändert sich von
Jahrzehnt zu Jahrzehnt etwa das Format auf der Leinwand. So fasziniert
„Caught by the Tides“ nicht zuletzt als Dokument der Transformation des
Landes und der Dinge, die darin auf immer verschwanden.
21 May 2024
## LINKS
[1] /MeToo-beim-Festival-de-Cannes-2024/!6007842
[2] /Selbstbestimmung-bei-den-Filmfestspielen/!5799288
[3] /Film-Asche-ist-reines-Weiss/!5572587
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Kino
KP China
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Frauen im Film
Francis Ford Coppola
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