| # taz.de -- Filmemacher Jia Zhangke: Chronist der Modernisierung Chinas | |
| > Jia Zhangke ist heute der profilierteste unabhängige Filmemacher der | |
| > Volksrepublik China. Bei den Filmfestspielen in Cannes präsentiert er | |
| > sein neues Werk "24 City". | |
| Bild: Jia Zhangke posiert mit seinen Schauspielerinnen Joan Chen (links) and Zh… | |
| Die Stadt Fenyang liegt nordwestlich von Beijing in einer unwirtlichen, vom | |
| Kohlebergbau bestimmten Region von China. Hier wurde 1970 Jia Zhangke | |
| geboren, inzwischen der profilierteste unabhängige Filmemacher der | |
| Volksrepublik. Als Junge saß er meistens am Straßenrand und sah den | |
| Menschen zu. Diesen Gestus der ruhigen Beobachtung hat er auch als | |
| Regisseur bewahrt, nur sein Aktionsradius hat sich inzwischen bedeutend | |
| erweitert. | |
| Bei den Filmfestspielen in Cannes präsentierte er gerade "24 City", der in | |
| Chengdu spielt, der Millionenstadt, die dem Epizentrum des jüngsten | |
| Erdbebens am nächsten lag (siehe cannescannes S. 16). "Still Life", sein | |
| bisher im Westen bekanntester Film, schilderte die Abbrucharbeiten entlang | |
| der Dörfer und Städte am Yangtse, die in dem neuen Stausee verschwinden | |
| werden, der hinter dem Dreischluchtendamm entsteht. Jia Zhangke ist der | |
| Chronist der chinesischen Modernisierung. Er hat sich niemals auf | |
| staatstragende Spektakel und latent ideologische Kostümfilme eingelassen | |
| wie Zhang Yimou oder Chen Kaige. Diese beiden Namen standen lange Zeit für | |
| das chinesische Kunstkino, während Jia Zhangke sich immer noch aus seiner | |
| Begegnung mit dem Neorealismus bestimmt. Auf der Filmhochschule in Beijing | |
| sah er Anfang der Neunzigerjahre zum ersten Mal Vittorio de Sicas | |
| "Fahrraddiebe", das gab ihm das Selbstbewusstsein, sich selbst hinter der | |
| Kamera zu versuchen. Sein Debüt "Xiao Wu" entstand in seiner Heimat, die | |
| Geschichte eines Taschendiebs war unvereinbar mit dem Bild, das die | |
| Kommunistische Partei vom Leben fern der Metropolen hatte. | |
| Jia Zhangke ist ein Grenzgänger, er dreht mit internationalem Geld, aber | |
| nicht immer mit Zustimmung der lokalen Behörden. Er stellt sich manchmal | |
| der Zensur, arbeitet aber auch immer wieder auf eigene Faust. In "Platform" | |
| (2000) lässt sich genau nachvollziehen, welchen revolutionären Umbruch die | |
| neue Wirtschaftspolitik in den Achtzigerjahren bedeutete: eine Revuetruppe, | |
| die ursprünglich zu Propagandazwecken durch die Provinzen tingelte, wird in | |
| die prekäre Freiheit des privaten Unternehmertums entlassen. "Platform" | |
| endete unmittelbar vor den Ereignissen am Tiananmen-Platz 1989. | |
| Inzwischen hat Jia Zhangke eine so große künstlerische Unabhängigkeit | |
| erlangt, dass er alle Konventionen durchkreuzt: "24 City" ist ein | |
| gespielter Dokumentarfilm, nirgendwo sonst im Weltkino werden derzeit die | |
| Übergänge zwischen dem Fiktionalen und den Realitäten so belanglos wie bei | |
| Jia Zhangke, der im Grunde der Geschichtsschreiber der chinesischen | |
| Gegenwart ist. | |
| BERT REBHANDL | |
| 21 May 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Bert Rebhandl | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
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