# taz.de -- Proeuropäische Proteste in Georgien: Ein ukrainisches Szenario? | |
> Zehntausende demonstrieren in Georgien gegen das „russische Gesetz“. Die | |
> Regierung fürchtet einen Maidan-Moment. Ein ukrainischer Blick auf | |
> Tbilissi. | |
Bild: Verbundene Erfahrungen: Dieser Demonstrant schwenkt in Georgiens Hauptsta… | |
LUZK taz | Vergangenen Winter besuchte ich einen alten Bekannten mit einer | |
Flasche georgischen Weins. Doch wir rührten die Flasche nicht an, ja wir | |
öffneten sie nicht einmal. Wir tranken moldauischen Wein. | |
Das überraschte mich. Seit ich Igor kenne, war er schier verrückt nach | |
allem Georgischen. Er kennt alle Täler und Bergpfade im Kaukasus, die Bars | |
in Batumi und jede noch so kleine Straße in Tbilissi. Doch dann diese | |
scharfe Kehrtwende – nichts Georgisches mehr! Nichtsdestotrotz diskutiert | |
Igor gerne mit mir über [1][die Proteste in Georgien] gegen [2][das von | |
Russland abgekupferte „Gesetz über ausländische Agenten“]. Dieses Thema | |
beherrscht derzeit die ukrainischen Medien. | |
Mein Freund ist pessimistisch. Er glaubt, dass „wir die Georgier*innen | |
nicht zurückbekommen“. Man würde denken, dass sich die Ukrainer*innen | |
gerade mehr für [3][die russische Offensive in der Nähe von Charkiw] und | |
die Mobilisierung interessieren. Aber wir verfolgen die Ereignisse in | |
Georgien, das ist schon fast Tradition. Und es schmerzt uns, zu sehen, | |
wohin die Regierung dieses Land führt. | |
Alles begann Anfang der 1990er Jahre, als ukrainische Freiwillige der | |
Rechtsaußen-Partei UNA-UNSO im Krieg um Abchasien an der Seite Georgiens | |
kämpften. Während des russischen Kriegs gegen Georgien im August 2008 flog | |
der Präsident der Ukraine, Viktor Juschtschenko, zusammen mit seinem | |
polnischen und litauischen Amtskollegen zu einem Solidaritätsbesuch nach | |
Tbilissi. Während der Regierungszeit von Wiktor Janukowitsch blickten die | |
Ukrainer*innen voller Neid auf Georgien – wegen der Reformen und der | |
Annäherung des Landes an Europa. | |
Doch nach dem Euromaidan unter [4][Präsident Petro Poroschenko] übernahmen | |
mehr und mehr Georgier politische Ämter in der Ukraine. Der frühere | |
georgische Präsident [5][Michail Saakaschwili] wurde Gouverneur der Region | |
Odessa. Chatia Dekanoidze und Eka Sguladze versuchten sich an einer Reform | |
der Polizei. Der Historiker Alexander Kvitashvili wurde | |
Gesundheitsminister, David Sakvarelidze stellvertretender | |
Generalstaatsanwalt. Ein weiterer ehemaliger georgischer Beamter, Gia | |
Getsadze, avancierte zum Vize-Justizminister der Ukraine. | |
In jenen Jahren waren die Ukrainer*innen stolz auf ihre eigene, aber | |
auch die georgische Freiheit. Sie reisten oft als Touristen nach | |
Sakartvelo. Georgischer Wein und georgisches Mineralwasser flossen in rauen | |
Mengen in die Ukraine. | |
## Die Regierung in Tbilissi knickt vor Russland ein | |
Aber es gab in den 2010er Jahren noch ein weiteres geistiges Band zwischen | |
unseren Völkern, das einem schmerzlichen Dorn glich: Mit Abachsien und | |
Südossetien sowie der Krim und dem Donbass war sowohl ein Teil des | |
georgischen als auch des ukrainischen Territoriums von Russland besetzt. | |
Die inzwischen zwölfjährige Regierungszeit des „Georgischen Traums“ und | |
seine Hinwendung zu Russland haben dazu geführt, dass mein Freund auf Wein | |
aus der Republik Moldau und Transkarpatien umgestiegen ist. Und dazu, dass | |
die Mehrheit der Ukrainer*innen Georgien heute auf eine Stufe mit | |
Belarus, Ungarn oder der Slowakei stellt. Als politischen Satelliten | |
Russlands. | |
Schon lange sehen die Ukrainer*innen mit Entsetzen dabei zu, wie die | |
Regierung in Tbilissi vor Russland einknickt. Der Oligarch Bidsina | |
Iwanischwili und seine Regierung haben es zugelassen, dass Moskau zunächst | |
seinen wirtschaftlichen und dann seinen politischen Einfluss in Georgien | |
wiederherstellen konnte. Der stärkste Rückschlag für die Gefühle der | |
Ukrainer*innen gegenüber den Georgier*innen war noch nicht die | |
Verhaftung von Michail Saakaschwili im Herbst 2021, als er, ukrainischer | |
Staatsbürger, nach Georgien zurückkehrte, um seine politische Karriere | |
fortzusetzen. | |
Denn die Autorität von „Miho“ unter den Ukrainer*innen hatte nach einer | |
Reihe von Skandalen merklich gelitten. Nein, vor allem hat die Ukraine den | |
georgischen Machthabern ihr Schweigen zur russischen Invasion 2022 und den | |
Mangel an militärischer Hilfe nicht verziehen. Im Anschluss ließ der | |
„Georgische Traum“ die Einreise hunderttausender Russen zu, die vor der | |
Mobilisierung geflohen waren. Der Flugverkehr mit Russland wurde wieder | |
aufgenommen und das Land für russische Tourist*innen erneut geöffnet. | |
In der Ukraine steht Georgien im Verdacht, Russland dabei zu helfen, | |
westliche Sanktionen zu umgehen. Georgiens BIP wuchs im ersten Quartal 2024 | |
um fast 8 Prozent, und die Inflation lag im vergangenen Jahr bei | |
lächerlichen 3 Prozent. Der „Georgische Traum“ wird die wirtschaftlichen | |
Errungenschaften dieser Jahre seinen Wähler*innen in den Präsentkorb | |
legen. „Den Preis zahlt die Ukraine“, heißt es in Kyjiw. | |
## Moskau sei in der Lage, erneut in das Land einzumarschieren | |
Im vergangenen März malte der georgische Ministerpräsident Irakli | |
Kobachidse das Schreckgespenst einer sogenannten Ukrainisierung Georgiens | |
an die Wand. Diese Äußerungen wurden in Kyjiw mit Abscheu aufgenommen und | |
erinnerten alle daran, dass in Georgien die Russifizierung des Landes | |
tatsächlich weitergeht. Das offizielle Tbilissi bringt die Verabschiedung | |
des „Gesetzes über ausländische Agenten“ sogar mit dem Schutz des Landes | |
vor dem Einfluss des ukrainischen Maidan in Verbindung – nach dem Motto: | |
Die ukrainische Revolution 2013/2014 sei künstlich und vom Westen initiiert | |
gewesen. | |
Im Gegensatz zu Georgiens pro-europäischer Präsidentin [6][Salomé | |
Surabischwili], hat es Kobachidse seit dem Beginn von Russlands | |
Angriffskrieg noch nicht geschafft, nach Kyjiw zu kommen. Am Vorabend der | |
Parlamentswahlen im Oktober schüchtert der „Georgische Traum“ seine | |
Wählerschaft oft mit dem „ukrainischen Szenario“ ein: Wenn wir uns Russland | |
massiv entgegen stellen, „wird es bei uns wie in der Ukraine werden“. | |
In georgischen sozialen Netzwerken liest man, Moskau sei in der Lage, | |
erneut in das Land einzumarschieren, wie 2008. Die Logik lautet ungefähr | |
so: Damals wurde Georgien mit den Russen alleingelassen, weil der Westen | |
schwieg – das wird auch beim nächsten Mal der Fall sein. Deshalb sei es | |
besser, es nicht noch einmal auf einen Angriff ankommen zu lassen. Die | |
Zahnlosigkeit der Regierung und ihrer Partei übertragen die | |
Ukrainer*innen auf alle Georgier*innen. Ja, Georgiens offizielle | |
Position zum Krieg ist feige. Gleichzeitig jedoch kämpfen hunderte Georgier | |
in der Ukraine für unsere Unabhängigkeit. | |
Das gilt es nicht zu vergessen, genauso wenig wie die täglichen Proteste in | |
Tbilissi. In diesen Monaten stehen die ukrainische Führung und die | |
Zivilgesellschaft vor einer schwierigen Entscheidung: Wie die Kräfte | |
maximal unterstützen, die dem „Georgischen Traum“ bei den Parlamentswahlen | |
im Herbst Paroli bieten könnten. Erst danach wird klar werden, ob die | |
Ukraine gemeinsam mit Georgien ihren Weg in die Europäische Union | |
fortsetzen wird. | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
18 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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