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# taz.de -- Wissenschaftler über Islamisten-Demo: „Das Vertrauen erodiert“
> Patrick Möller ist Experte für die „Hizb ut-Tahrir“-Bewegung, zu der
> „Muslim Interaktiv“ gehört. Deren Demos hält er nicht für die größte
> Gefahr.
Bild: Der Aufmarsch von Kalifatsanhängern in Hamburg hat viele aufgeschreckt
taz: Patrick Möller, am Wochenende marschierten 1.100 Menschen – nach
Geschlechtern getrennt – [1][durch Hamburg-St. Georg und riefen nach dem
Kalifat.] Jetzt sind alle überrascht und entsetzt. Sie auch?
Patrick Möller: Mich nervt und entsetzt eher die Überraschung. Die
Veranstalter von „Muslim Interaktiv“ aus dem Umfeld der Hizb ut-Tahrir
treten seit 2020 mit solchen Demonstrationen in Erscheinung. Das Phänomen
ist also nicht neu und es ist kein halbes Jahr her, dass die Hizb ut-Tahrir
in Essen 3.000 Demonstranten mobilisieren konnte. Wer jetzt überrascht ist,
hat das offensichtlich schon wieder vergessen.
Warum ist es so schwer, das zu verhindern?
Es gilt das deutsche Versammlungsrecht und die Polizei Hamburg hat ja
betont, dass sie juristisch keine Handhabe für ein Verbot der Kundgebung
gesehen hat, da – auch gestützt durch die Erfahrung der Vergangenheit –
weder Straftaten zu befürchten waren noch, nach jetzigem Stand, [2][es zu
Straftaten auf der Demo gekommen ist.] Die Veranstalter bewegen sich im
Rahmen der Rechtsordnung und damit darf der Staat nicht einschreiten – so
unerträglich die Bilder und Reden von der Demo auch sind. Die Führungsleute
in der Hizb ut-Tahrir wissen genau, wie weit sie gehen können.
Was ist das für eine Bewegung?
Die Hizb ut-Tahrir ist eine Splittergruppe des Islamismus, gegründet 1953
in Ostjerusalem. Sie strebt ein globales Kalifat an und lehnt jede andere
Staatsform als „Unglaube“ ab. Sie ist derart dogmatisch, dass sie – anders
als etwa die Muslimbrüder – sich auch nie in politische Systeme in der
muslimischen Welt einbinden ließ und dort fast überall verboten ist. In
Deutschland gilt seit 2003 ein Betätigungsverbot, doch ist es der Hizb
ut-Tahrir in den 2010ern gelungen, durch Tarnorganisationen neu zu
erstarken. In der Gesamtbetrachtung sind sie eine kleine, aber lautstarke
Gruppe von Sektierern, die auch in der islamistischen Szene kaum ernst
genommen werden.
Das sind also keine Salafisten?
Nein, ihre Ideologie ist aber extremistisch und auch gewaltlegitimierend.
Allerdings ist die Gewalt auf unbestimmte Zeit – bis das Kalifat in
Reichweite ist – vertagt. Bis dahin bereiten sie die Gesellschaft auf ihr
Kalifat vor und agitieren gegen den Staat und gegen Integration. Seit 2013
agieren mehrere Organisationen, die wir ideologisch klar der Hizb ut-Tahrir
zuordnen können, vor allem im Bereich der sozialen Netzwerke. Man
verschleiert die ideologische Haltung und versucht die muslimischen
Communitys zu unterwandern und für ihre Botschaften empfänglich zu machen.
Mit welchem Erfolg?
Ihr größter politischer Erfolg war die Petition „Nicht ohne mein Kopftuch“
2018. Damals hatte die damalige nordrhein-westfälische Staatssekretärin für
Integration, Serap Güler (CDU), ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 14
Jahren in Kitas und Schulen gefordert, worüber monatelang debattiert wurde.
Das Gesetz kam aber nie und wäre wohl auch verfassungswidrig gewesen. Für
viele Muslime war die Debatte aber ausgrenzend und verletzend. Mehr als
170.000 Menschen unterschrieben die Petition – die meisten wahrscheinlich
ohne zu wissen, von wem sie kommt. Die Hizb ut-Tahrir musste relativ wenig
tun, die Politik hat ihr die Menschen in die Arme getrieben.
Sehen wir eine neue Radikalisierungswelle, die damit zu tun hat, wie die
Debatte über den Gaza-Krieg geführt wird?
Das befürchten viele, die in der Islamismus-Prävention arbeiten und jetzt
wachsende Anfragen von Angehörigen und Lehrern zu verzeichnen haben. Wobei
die Hizb ut-Tahrir noch immer ein Randphänomen des Islamismus in
Deutschland ausmacht. Zudem ist sie ideologisch derart erstarrt, dass sie
ihre Anhängerschaft oft nicht dauerhaft binden kann.
Wozu dienen dann diese öffentlichen Auftritte?
Man kann über die Motive nur spekulieren. Diese öffentlichen Auftritte sind
etwas, das wir vor 2020 von der deutschen Hizb ut-Tahrir nicht kannten. Es
zeugt von beachtlichem Selbstbewusstsein. Und natürlich kann man durch die
Aufmerksamkeit neue, potenzielle Anhänger gewinnen. Andererseits ist diese
Öffentlichkeit hoch riskant, weil die Politik damit unter Druck gesetzt
wird, gegen sie vorzugehen. Nie waren die Rufe nach neuen Verboten lauter.
Ich glaube aber [3][nicht, dass wir einen Zuwachs bei der Hizb ut-Tahrir zu
einer großen Bewegung sehen werden] wie vor 10 bis 15 Jahren bei den
Salafisten. Sorgen macht mir an dieser Stelle etwas anderes.
Was?
Ich sehe infolge des Gaza-Krieges gerade unter gebildeten und gut
integrierten Muslimen einen massiven Vertrauensverlust: Keiner bezweifelt
mehr, dass seitens Israels im Kampf gegen die Terrororganisation Hamas
Kriegsverbrechen begangen werden, aber viele haben den Eindruck, dass
darüber in deutschen Medien kaum oder nicht angemessen berichtet wird. Am
9. Oktober verkündete Israel eine totale Blockade des Gaza-Streifens – kein
Strom, kein Wasser, keine Nahrung – und heute sehen wir die Auswirkungen,
auch wenn die Blockade später gelockert wurde: neben mehr als 30.000 Toten
auch eine humanitäre Katastrophe. Noch immer kommen von Deutschland
lediglich mahnende Worte und die mutmaßlichen Kriegsverbrechen werden in
den deutschen Medien kaum thematisiert, über die sozialen Netzwerke kann
sie aber jeder sehen.
Diese Diskrepanz ist für viele kaum auszuhalten?
Genau. Es dauerte in den deutschen Medien lange, bis über mutmaßliche
Kriegsverbrechen berichtet wurde, etwa über Videos, die zeigen, wie
israelische Soldaten Wohnungen plündern und feixend mit Damenunterwäsche
posieren und Palästinenser verhöhnen. Wer den Gaza-Krieg in den sozialen
Medien verfolgt, kennt diese Berichte und die Videos aber seit Monaten. In
meinem – akademisch geprägten – Umfeld informiert man sich längst nicht
mehr über deutsche, sondern vor allem über britische und amerikanische
Medien oder die israelische Zeitung Haaretz. Aus meiner Sicht erodiert seit
Oktober 2023 das Vertrauen in die deutsche Politik in erschreckendem Ausmaß
– und viele wenden sich ab. Das ist der wahre gesellschaftliche
Sprengstoff. Und dann wird es manche Muslime geben, [4][die auf die
einfachen Botschaften der Hizb ut-Tahrir und anderer Extremisten hören
werden.]
2 May 2024
## LINKS
[1] /Islamisten-Demo-in-Hamburg/!6004969
[2] /Konsequenzen-nach-Islamisten-Demo/!6007289
[3] https://www.bpb.de/themen/infodienst/329054/die-hizb-ut-tahrir-in-deutschla…
[4] /Nahostdebatte-in-Deutschland/!5969353
## AUTOREN
Nadine Conti
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