# taz.de -- Einheitsbrei und Kultur-Sparmaßnahmen: Klick Kultur Kapitalismus | |
> Kultur wird immer austauschbarer, gleichzeitig knausern Regierungen bei | |
> der Kulturförderung. Das spielt autoritären Kräften in die Hände. | |
Bild: Regierungen ist die Kultur nicht mehr so wichtig, wie das Beispiel Ludwig… | |
Ich kenne Adam Faze nicht. Er scheint in einem Fitnessstudio in New York | |
City zu arbeiten. Und Musik auf Spotify zu hören. Vor einigen Wochen konnte | |
er seinen eigenen Ohren nicht trauen (wie er auf X berichtet). Ein | |
bestimmter Song wiederholte sich auf seiner Playlist, nicht einmal oder | |
zweimal, sondern sage und schreibe 49-mal, jedes Mal unter einem neuen | |
Titel, vermeintlich gespielt von einer jeweils anderen Musikerin. | |
Grenzenlose Vielfalt in der Eintönigkeit – willkommen in der Kunst im | |
Zeitalter ihrer gestreamten Reproduzierbarkeit. | |
Auf Spotify findet man fast alles. Aber während die wunderbar lebendige | |
Aufnahme von „Okonchen put“ mit Aljosha Dimitrievich sowie dem Schauspieler | |
und Gelegenheitssänger Yul Brynner gerade einmal 1.545-mal gehört wurde, | |
kommt der schwedische Komponist Johan Röhr auf 15 Milliarden Streams. Bevor | |
Sie erstaunt meine Behauptung überprüfen, eine Warnung: Dieser fleißige | |
Tonschmied versteckt sich und sein Werk hinter 656 Pseudonymen: Ralph Kaler | |
oder Sherry Novak oder Jospeh Turley oder Miu Hayashi oder … denken Sie | |
sich einen Namen aus, er wird bestimmt auch einmal Verwendung finden. | |
Diese Musik hat kein Gesicht und kein Profil, sie banal zu schimpfen, wäre | |
ein Kompliment, sie Musik zu nennen ein Euphemismus. Weswegen schon vor | |
Zeiten das Wort „Musak“ erfunden wurde, laut Lexikon „anspruchslose, | |
gefällige Hintergrundmusik“, auch „Fahrstuhlmusik“ genannt. Früher wurde | |
uns die lange Fahrt in den neunten Stock versüßt, heute das ganze Leben, | |
denn Musak durchdringt als billigster Klangteppich, meist maschinell | |
geknüpft, alle Sphären unseres Daseins. Nur so [1][kommt man auf 15 | |
Milliarden Streams]. | |
Früher wurde über anspruchsvolle und Unterhaltungskultur gestritten, über | |
die Grenze zwischen den beiden Pfeilern unserer gesellschaftlichen | |
Kreativität: E und U. Heute scheint diese Unterscheidung überholt, ein | |
Großteil der Produktion dient allein der Ablenkung, frisst unsere Zeit, | |
[2][macht uns zu Junkies]. Impulse werden immer enger getaktet, die | |
Fähigkeit, Komplexität zu verarbeiten, nimmt ab, wie [3][das | |
Ljubljana-Manifest] in Zusammenhang mit Lesekompetenz auf erschreckende | |
Weise aufzeigt. | |
## Wir fasten uns in die Dummheit | |
Wie reagiert die Politik, wie reagieren die Verantwortlichen in den | |
wichtigen Institutionen auf diese Entwicklung? Mit Initiativen zur | |
kulturellen und intellektuellen Stärkung der Gesellschaft? Mitnichten. | |
Während die Renaissance als nostalgische Duftnote des Jahres dient, fasten | |
wir uns in die Dummheit, indem wir [4][kürzen und entfernen]. | |
Die Kürzungen erfolgen allerorten. In Ludwigshafen etwa ist das Team des | |
Ernst-Bloch-Zentrums auf einige wenige Mitarbeiter geschrumpft, seriöse | |
Programmarbeit ist laut der Direktorin Immacolata Amodeo kaum mehr möglich. | |
Bezeichnend, dass der bedeutendste deutsche Utopist in seiner eigenen | |
Heimatstadt ausgehungert wird. | |
Die Stadt Hall in Tirol, eine kulturelle Hochburg, zahlt den Haller | |
Kulturvereinen in diesem Jahr nur mehr die Hälfte der bisherigen Förderung | |
aus. Für die meisten Initiativen, die bereits jetzt unter prekären | |
Bedingungen arbeiten, bedeute dies das Aus, heißt es vonseiten des dortigen | |
Kulturforums. | |
In Birmingham, mit 1,1 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt | |
Großbritanniens, werden sämtliche Mittel für die dortigen | |
Kulturorganisationen, darunter das Repertory Theatre, die Ikon Gallery oder | |
das City of Birmingham Symphony Orchestra, bis 2025 gestrichen. | |
Und in Argentinien wurde sofort nach der Amtsübernahme von Javier Milei, | |
den manche als einen Vorgeschmack auf die Zukunft des Kapitalismus | |
erachten, das Kulturministerium aufgelöst und stattdessen ein | |
Humankapitalministerium (klingt nach Organhandel) geschaffen. Die meisten | |
staatlichen Kulturorganisationen wurden dichtgemacht, auch viele der | |
öffentlichen Bibliotheken. Wozu kostspielige Kultur, wenn man sich auf | |
Spotify für einen bescheidenen Betrag nonstop berieseln lassen kann. | |
Beim Verklappen sind unsere Öffentlich-Rechtlichen Spitze. Anstatt die | |
pluralistische Gesellschaft mit einer großen Bandbreite an Sendeformaten | |
und Inhalten zu stützen, anstatt [5][verschiedene Stimmen, Perspektiven und | |
Visionen zu Gehör zu bringen], wird eine Programmpolitik der | |
Zentralisierung und Reduzierung betrieben. Anspruchsvolle Formate werden | |
gestrichen, nur einige entscheiden über das Wenige, das noch behandelt und | |
besprochen wird. | |
In der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ heißt es in Artikel 27: | |
„Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei | |
teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen | |
Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“ | |
Wer zum Zynismus neigt, könnte meinen, dieser [6][Kahlschlag bei all dem, | |
was zum Nachdenken anregt] (anstatt abzulenken), erfolge nicht zufällig zu | |
einem Zeitpunkt, da wir als aufgeklärte Gesellschaft in der Krise sind, die | |
Verengung und Verrohung des öffentlichen Diskurses beklagen. Vielstimmige | |
und vielförmige Auseinandersetzungen mit den Realitäten bringen bekanntlich | |
kritische, schwer manipulierbare Menschen hervor, mit unabhängigem Geist, | |
gefährlich für jede Autorität, auch für jene im demokratischen System. | |
Nicht nur Gängelung, auch kulturelle Rationierung ist einer offenen | |
Gesellschaft unwürdig. | |
Kämpfe um die Kultur werden sich weiterhin zuspitzen. Nichts deutet darauf | |
hin, dass Tiktok und Konsorten an Einfluss verlieren könnten. Das Phänomen | |
Temu beweist, dass die Zahl austauschbarer und überflüssiger Produkte | |
weiter gesteigert werden kann, bis wir uns im Dauerklickmodus von jeglicher | |
Kultur verabschieden, um einem moribunden Kapitalismus noch ein wenig | |
Aufschub zu verschaffen. Wir waren als Gesamtgesellschaft noch nie so | |
wohlhabend wie heute und können oder wollen uns menschliche Kreativität und | |
Fantasie nicht mehr leisten. Klick Kultur kaputt. | |
24 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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