# taz.de -- Die Kunst der Woche: Im Kräftefeld entfacht | |
> Ingar Krauss' Porträtfotos erkunden, wie wir in Erscheinung treten. | |
> Kerstin Drechsels meisterliches Kartenhaus steckt voller heikler | |
> Botschaften. | |
Bild: Blick in Kerstin Drechsels Ausstellung „Penatenhimmel“ bei Zwinger | |
„This Is Not a Fashion Photograph“ hat Candice Hamelin die von ihr bei | |
[1][Jaeger Art] kuratierte Ausstellung mit den absolut großartigen – teils | |
schon lange berühmten, teils noch nie gezeigten – Porträtfotografien von | |
Ingar Krauss genannt. Ein kluger, ironischer Titel. Denn die Geschichte des | |
Porträts beginnt in seiner Frühform als mittelalterliches Stifterporträt | |
eindeutig als Modebild, identifizierte man damals eine Person doch über die | |
Kleidung, die ihren Status anzeigte, und nicht über ihre Physiognomie. | |
Und selbst wenn sich das Porträt im Lauf der Kunstgeschichte zum | |
realistischen Abbild und schließlich zur Charakterstudie entwickelte: Die | |
Kleiderfrage bleibt. „Das fotografische Portrait ist ein geschlossenes | |
Kräftefeld“, sagt Roland Barthes. „Vier imaginäre Größen überschneiden… | |
hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich | |
der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, | |
für den der Fotograf mich hält und der, dessen er sich bedient, um sein | |
Können vorzuzeigen.“ | |
Und es ist eben die Kleidung, in der sich die Porträtierten als die zeigen, | |
für die sie sich halten oder für die sie gerne gehalten werden möchten. | |
Oder für die sie gehalten werden sollen. | |
Womit man direkt bei den s/w-Porträts ist, die Ingar Krauss 2003 von | |
einigen halbwüchsigen Jungen und Mädchen in den russischen Strafkolonien | |
Alexin und Rjazan gemacht hat. Alle tragen die ähnlich dunkle | |
Anstaltskleidung, die sie als Gefangene ausweist. Aber sie alle tragen sie | |
in unterschiedlicher Haltung, mit trotzigem Stolz, beiläufig und | |
selbstvergessen, andere lassen selbst darin ihren Charme spielen oder | |
zeigen einen gewissen Chic. | |
Und so macht sie Ingar Krauss in seinen Porträts als eigensinnige | |
Individuen sichtbar, ob sie es wollen oder nicht. Darin liegt denn auch das | |
Bezwingende von Ingar Krauss' Porträtkunst, des Könnens, das vorzuzeigen, | |
wofür der Fotograf nach Roland Barthes seine Modelle braucht: Ob | |
straffälliger Jugendlicher, ob freundlicher Bürger der italienischen | |
Provinzstadt Reggio Emilia, ob machohafter Wanderarbeiter in Brandenburg | |
oder melancholischer Herrenschneider in Kienitz im Oderbruch – der Fotograf | |
macht jeden seiner Protagonisten als schönen Menschen kenntlich, als den | |
seelenvollen Menschen, den er in ihm sieht. | |
Gerade der elegante Herrenschneider, der sich mit größter Sorgfalt | |
gekleidet hat – nein, sein Porträt ist keine Modefotografie, es ist ein | |
Andachtsbild. | |
## Kreuzstich in jede Richtung | |
Die berühmte Kreuzstichstickerei, rot auf weißem Leinen, beherrscht den | |
Raum bei [2][Zwinger]. Überall scheinen die Tücher zu hängen. Doch statt | |
stilisierter Herzen und Tauben mit dem Friedenszweig im Schnabel sind | |
verstörende Sätze wie „Flennen war an der Tagesordnung“ rot auf weiß | |
gestickt. Wobei nichts gestickt ist, schon gar nicht auf Stoff; alles wurde | |
gedruckt, auf weiß grundiertes Holz. So aufwändig war der Siebdruck, mit | |
den Rottönen, die wie bei echter Stickerei mal eher blass, mal kräftig, in | |
bläulich schattiertem Tiefrot erscheinen, dass in der Galerieinfo dem | |
Drucker besonders gedankt wird. | |
[3][Kerstin Drechsels] raumgreifende Installation ist meisterlich. Komplex | |
in der Anlage, perfekt im Detail und verstörend in der Aussage. Die Galerie | |
scheint in ein überdimensioniertes Kartenhaus verwandelt, durch die | |
riesigen, schräg an die Wände gestellten und schräg von der Decke hängenden | |
Texttafeln. Dazwischen schieben sich, in Vierer- oder Fünferblocks gehängt, | |
kleine Leinwände mit rätselhaften Szenen in grandioser Farbigkeit in Öl und | |
Acryl. | |
Und schließlich liegen am Boden verstreut kleine Betonbrocken, die an | |
Stahlhaken befestigte sind. Die Installation habe Beton gebraucht, sagt | |
[4][Kerstin Drechsel]. Und so stecken nun im Beton die Penaten. Römische | |
Hausgötter, die – in Geschlecht und Wesen offen – immer zu zweit oder zu | |
dritt auftreten und hier nun der Ausstellung ihren Titel „Penatenhimmel“ | |
geben. | |
Dieser „Penatenhimmel“ ist nun so gelungen, dass man den Blick zunächst | |
davon gar nicht abwenden und sich den vermeintlich gestickten Texten | |
zuwenden will. Aber vielleicht spürte man es schon beim ersten, flüchtigen | |
Lesen, dass es heikel werden wird, ambivalent. | |
Dass es ums Heranwachsen geht, um das Zurechtfinden in die Welt, das | |
Zusammenfinden im Jugendclub, der hier christlich organisiert ist, mit den | |
bekannten übergriffigen Missverständnissen und Manipulationsmöglichkeiten, | |
aber auch dem rebellischen Aufbegehren in Sachen Sexualität. Und deshalb | |
ist „Friedensgruß wird Zungenkuss“ mindestens doppelt zu lesen. Einmal als | |
übergriffig, wenn die Zunge dem Pfarrer gehört, und einmal als | |
emanzipatorisch, wenn sie die der heißgeliebten Freundin ist. | |
27 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.jaeger.art/ | |
[2] https://www.zwinger-galerie.de/ | |
[3] https://kerstindrechsel.com/ | |
[4] /Einblick-420/!613406/ | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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