# taz.de -- Forscherinnen über Juden in Deutschland: „Ihnen begegnet emotion… | |
> Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky erforschen die Folgen des | |
> 7. Oktober auf die jüdische Community. Viele berichten von Relativierung | |
> der Taten und Mobbing. | |
Bild: Israels Flagge bei einem Protest für die Sicherheit jüdischer Studieren… | |
wochentaz: Frau Chernivsky, Frau Lorenz-Sinai, [1][Sie untersuchen die | |
Erfahrungen von Jüdinnen und Juden in Deutschland] seit dem Überfall der | |
Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Wie geht es den Menschen, mit denen | |
Sie gesprochen haben? | |
Marina Chernivsky: Derzeit sind wir noch mitten in der Erhebungsphase und | |
können nur erste Eindrücke schildern. Menschen, die dem Studienaufruf | |
gefolgt sind, teilen die Erfahrung einer tiefen Zäsur durch den schwersten | |
Terroranschlag in der jüdischen Geschichte nach der Schoah und der Gründung | |
von Israel. Die Verarbeitung wird erschwert durch die paradoxe Situation, | |
in der die Interviewpartner*innen sich befinden: Sie versuchen, die | |
Wirkung des Massakers zu verarbeiten, während in den Reaktionen in | |
Deutschland oftmals Angreifer und Angegriffene vertauscht werden. Die von | |
den Tätern per Bodycam aufgezeichneten und online verbreiteten Gewaltakte | |
adressieren Juden weltweit. Zugleich erleben die Interviewten, wie die | |
Taten relativiert, verleugnet oder gerechtfertigt werden. | |
Friederike Lorenz-Sinai: Studienteilnehmende berichten von | |
Beziehungsabbrüchen, Mobbing am Arbeitsplatz, verengten Räumen und | |
Zukunftsaussichten. Viele berichten, dass sie verstärkt oder erstmalig | |
einschränkende Angst im Alltag haben, als jüdisch oder israelisch erkannt | |
zu werden. Ein Großteil der Interviewpartner*innen hat Übergriffe | |
erlebt – vorwiegend im Nahbereich, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum. | |
Einige Interviewpartner*innen resümieren, sie fühlen sich so, als | |
dürften sie als Juden nicht mehr existieren. | |
Wer sind die Personen, die solche persönlichen Details mit Ihnen teilen? | |
Chernivsky: Wir haben unseren Forschungsaufruf in vier Sprachen im Februar | |
veröffentlicht und waren überwältigt von der hohen Resonanz. Unter den | |
Interviewpartner*innen sind Juden aus Deutschland, der Ukraine, | |
Israel und anderen Ländern. | |
Wie haben ihre Interviewpartner die Reaktion ihres nichtjüdischen Umfelds | |
erlebt? | |
Lorenz-Sinai: Unsere Interviewpartner*innen fühlen sich nicht | |
gesehen. Sie müssen sich rechtfertigen; ihre Sicherheitsbedürfnisse und | |
reale Bedrohungssituationen werden übergangen. Was viele als einschneidend | |
empfinden ist, wenn sie in privaten Chats, in banalen und intimen | |
Alltagssituationen direkt nach dem 7. Oktober mit rigorosen Statements, | |
Monologen, Anschuldigen zu Israel bedrängt werden, oder wenn ihr Schmerz | |
von Personen im nahen Umfeld einfach ignoriert wird. | |
Chernivsky: Ihnen begegnet emotionale Kälte, wenn es darum geht, die | |
Wirkung des Terrors und die eindringliche Präsenz der Bedrohung | |
anzuerkennen. Interviewpartner*innen nehmen auch den scharfen | |
Kontrast zur erlebten Solidarität mit der Ukraine wahr. Einige haben | |
Familien, die gleichzeitig von zwei Kriegen in der Ukraine und in Israel | |
betroffenen sind. Manche beschäftigt die [2][Verleugnung sexualisierter | |
Gewalt im Zuge des Angriffs und der Geiselnahmen]. Die Indifferenz bis hin | |
zur Billigung der Gewalt gegen Juden rütteln am Grundvertrauen in die | |
sozialen Netze und reaktivieren die historische, auch existenzielle | |
Erfahrung des Solidaritätsentzugs. | |
Wie meinen Sie das? | |
Chernivsky: Antisemitische Positionen und Übergriffe verstärken die | |
Bedeutung des Massakers. Andere tun aber so, als sei nichts geschehen. Kaum | |
jemand schreitet ein. Interviewpartner*innen erkennen darin | |
Parallelen zur Geschichte: Die Verfolgung wurde möglich, weil die Kritik | |
daran so oft ausgeblieben war. Dieser Blick in die Vergangenheit hat für | |
sie viel mit der Zukunft zu tun. Ein Interviewpartner zog etwa Linien | |
zurück zu seinen Großeltern: Sie mussten als Juden fliehen, später dann | |
seine Eltern. Und jetzt fürchtet er, sich selbst auf die Flucht begeben zu | |
müssen. Er und viele andere fragen sich nun verstärkt, wo sie als Juden | |
überhaupt leben können. | |
Welches Verhalten hätten sich ihre Interviewpartner*innen von ihrem | |
nichtjüdischen Umfeld gewünscht? | |
Lorenz-Sinai: Viele äußern ihr Verständnis, dass es schwer sei, nach | |
Geschehnissen wie dem Angriff vom 7. Oktober die richtigen Worte zu finden. | |
Betont wird, wie wichtig die Vergewisserung sei, dass ihre Partner*innen, | |
Freud*innen, Kolleg*innen zu ihnen stehen. Ein Beispiel: Wenn jemand | |
seinen israelischen Vornamen in der beruflichen Mailadresse abkürzen lassen | |
will, weil er oder sie antisemitische Gewalt fürchtet, dann sollte das vom | |
Arbeitgeber ernst genommen werden. | |
Wie trifft die aktuelle Situation jüdische Kinder? | |
Lorenz-Sinai: Bisher haben wir Kinder nicht interviewt, es sind aber | |
Gespräche mit Kindern und Peer-Interviews unter Kindern und Jugendlichen | |
geplant. Alle interviewten Eltern berichten von der Sorge, ihrer Rolle | |
nicht gerecht zu werden, nicht angemessen auf die Bedürfnisse ihrer Kinder | |
einzugehen, sie nicht schützen zu können. Der 7. Oktober beeinflusst ihre | |
Entscheidungen, Sicherheitsabwägungen und Erziehungsstile. | |
Chernivsky: Eine schwangere Interviewpartnerin weinte im Interview und | |
sagte, sie weiß nicht, wie sie ein jüdisches Kind in dieser Gesellschaft | |
großziehen soll. Eine andere Mutter beschreibt, dass ihr Kind panische | |
Angst vor den Anti-Israel-Demos hat. | |
Immer wieder standen [3][Universitäten im Mittelpunkt] der Aufmerksamkeit. | |
Sind Studierende unter ihren Interviewpartner*innen? | |
Lorenz-Sinai: Jüdische Studierende thematisieren die Einschränkung ihrer | |
Teilhabe in Hochschulräumen und berichten von Diskriminierungserfahrungen | |
in Seminaren. Eine Interviewpartnerin stoppt nach dem 7. Oktober ihr | |
Promotionsvorhaben, da sie als israelische Forscherin in den | |
Geisteswissenschaften keine Perspektive sieht. | |
Wie hat sich der Blick der Juden und Jüdinnen in Deutschland auf Israel | |
verändert? | |
Lorenz-Sinai: Fast alle, mit denen wir gesprochen haben, haben Verwandte in | |
Israel, um die sie sich Sorgen machen. Es scheint, dass viele sich neu mit | |
ihrer Beziehung zu Israel auseinandersetzen – das Land rückt näher. | |
Familienbesuche in Israel werden geschildert als starker Kontrast zur | |
Situation in Deutschland – Plakate der Geiseln werden nicht abgerissen, der | |
Schmerz wird geteilt. Zugleich kritisieren Interviewpartner*innen die | |
aktuelle Regierung. Als Reaktion auf die Delegitimation Israels | |
beschäftigen sich einige intensiv mit der Geschichte und versuchen | |
möglichst gut informiert in die Rolle der Vermittler*innen zu gehen; | |
andere ziehen sich von sozialen Kontakten und Social Media zurück. | |
Kann Therapie helfen, die Belastung zu mildern? | |
Chernivsky: Ein Terroranschlag wirkt traumatisierend – es ist eine | |
erwartbare Reaktion auf ein extremes Ereignis. Gleichwohl entwickeln nicht | |
alle Betroffenen eine ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörung. Durch | |
den Anschlag werden Menschen an ihre Verwundbarkeit erinnert und brauchen | |
ein stützendes Umfeld, um solche einschneidenden Erlebnisse aufzuarbeiten. | |
Eine darauf abgestimmte psychologische Unterstützung kann helfen. Einige | |
Interviewpartner*innen thematisieren jedoch negative Erfahrungen mit | |
nichtjüdischen Therapeut*innen. Mehrfach wird die Sorge geschildert, bei | |
der Inanspruchnahme von medizinischer oder pflegerischer Versorgung als | |
Juden oder Israelis erkannt und angegangen zu werden. | |
Worin haben Juden und Jüdinnen Kraft und Unterstützung gefunden seit dem 7. | |
Oktober? | |
Lorenz-Sinai: Viele nennen hier vor allem den Kontakt zu anderen Juden und | |
Jüdinnen und jüdischen Initiativen. Familie und Freunde werden genannt | |
sowie community-orientierte Unterstützungsformate wie Safer Spaces, oder | |
Beratung. Interviewpartner*innen beobachten, dass die Community | |
zusammenrückt. | |
20 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://zwst-kompetenzzentrum.de/auswirkungen-des-terrors-in-israel-seit-de… | |
[2] /Sexualisierte-Gewalt-der-Hamas/!5987483 | |
[3] /Angriff-auf-juedischen-Studenten/!5990092 | |
## AUTOREN | |
Frederik Eikmanns | |
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