| # taz.de -- Kommunalwahlen in der Türkei: Erdogans historische Niederlage | |
| > Die oppositionelle CHP gewinnt nicht nur die großen Städte, sondern ist | |
| > auch erstmals landesweit vor Erdogans AKP die stärkste Partei. | |
| Bild: Anhänger von Ekrem Imamoglu, dem CHP-Bürgermeister von Istanbul, feiern… | |
| Istanbul taz | Montagmorgen in einem Cafe im Istanbuler Stadtteil Üsküdar. | |
| Überall sieht man müde, aber strahlende Gesichter. „Heute sollten mal ein | |
| paar Finnen bei uns vorbeikommen“, sagt eine Frau in die Runde, „dann | |
| können sie sehen, was glückliche Leute sind.“ Alle lachen. Erstmals seit | |
| grauer Vorzeit hat am gestrigen Sonntag die oppositionelle | |
| sozialdemokratische CHP im erzkonservativen Üsküdar gewonnen. Und die | |
| Gewinnerin ist auch noch eine Frau. Sinem Dedetaş, von Beruf Ingenieurin | |
| und Verkehrsexpertin, hat den Mullahs von Üsküdar, die zu mindestens im | |
| historischen Kern des Bezirks das Straßenbild dominieren, einen schweren | |
| Schlag versetzt. Und das ist kein Einzelfall. | |
| Bei den landesweiten Kommunalwahlen in der Türkei am Sonntag haben | |
| Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine islamische AKP eine vernichtende | |
| Niederlage erlitten. Die Opposition gewann nicht nur mit deutlichem | |
| Vorsprung die Metropolen Istanbul und Ankara, auch weitere acht | |
| Millionenstädte gingen an die oppositionelle CHP. Erstmals seit mehr als 40 | |
| Jahren wurde die CHP auch landesweit erste Partei. Mit 37,7 Prozent lag sie | |
| mehr als zwei Prozent vor der AKP, die 35,3 Prozent holte. | |
| Sinem Dedetaş ist dabei nicht die einzige weibliche Erfolgsgeschichte. Zum | |
| Beispiel in Diyarbakir, der überwiegend kurdisch bewohnten Millionenstadt | |
| im Südosten, gewann für die kurdische DEM Partei Ayşe Serra Bucak. Und in | |
| Akbelen, dem Ort, [1][wo die Anwohner jahrelang gegen den Braunkohleabbau | |
| gekämpft haben], wurde die Aktivistin Necla Isik zum Muhtar gewählt. Mit | |
| nur 22 Jahren wurde in Kalkim, einem Ort nahe den Dardanellen, Zeynep Celik | |
| zur Bürgermeisterin gewählt. Sie hatte sich gegen den umweltzerstörenden | |
| Goldabbau dort eingesetzt. | |
| ## Erstmals ernsthafte Konkurrenz von rechts | |
| Für den erfolgsverwöhnten Erdoğan wird die Luft nun dünner. Denn die CHP | |
| gewann nicht nur wie bei den Kommunalwahlen vor fünf Jahren die Städte am | |
| Mittelmeer und der Ägäisküste, sondern konnte auch in ehemaligen | |
| AKP-Hochburgen im Landesinneren punkten. | |
| Dazu kommt, dass Erdoğan bei diesen Wahlen erstmals seit er vor 22 Jahren | |
| an die Macht kam, nun wieder eine ernsthafte Konkurrenz im rechten, | |
| religiösen Lager erwachsen ist. Die islamische Yeniden Refah-Partisi, die | |
| vom Sohn des legendären Islamistenführer Necmettin Erbakan gegründet wurde, | |
| konnte in der konservativen-religiösen Hochburg Şanlıurfa unweit der | |
| syrischen Grenze die AKP vom ersten Platz verdrängen und auch in den | |
| anderen konservativen Hochburgen der AKP, Konya und Kayseri, jeweils um die | |
| 20 Prozent holen. | |
| Die kurdische DEM, vormals HDP, konnte vor allem in ihren Hochburgen im | |
| Südosten des Landes punkten, blieb aber ansonsten sehr schwach. In Istanbul | |
| kam sie nur auf knapp 2 Prozent. Den größten Absturz erlebte die | |
| rechtskonservative IYI-Parti, die bei den letzten Kommunalwahlen vor fünf | |
| Jahren noch in Zusammenarbeit mit der CHP erfolgreich war, jetzt aber | |
| überall allein antrat und fast überall haushoch verlor. Die Wähler, die | |
| Erdoğan abstrafen wollten, versammelten sich dieses Mal alle hinter der CHP | |
| und bescherten dieser ältesten Partei der türkischen Republik eine Art | |
| Wiederauferstehung. | |
| Besonders wichtig: der Wahlsieg in Istanbul und Ankara. Mit 51,1 Prozent | |
| für die CHP gegenüber nur 39,53 Prozent für die AKP konnte | |
| Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu einen überzeugenden Sieg einfahren. Anders | |
| als vor fünf Jahren, als auf Druck von Erdoğan ein erster knapper Sieg | |
| İmamoğlus noch annulliert wurde und Istanbul zweimal wählen musste, war der | |
| Sieg İmamoğlus jetzt zu keinem Zeitpunkt gefährdet. | |
| ## AKP-Hochburgen gefallen | |
| Selbst frühere Hochburgen der AKP, wie der erwähnte konservative Stadtteil | |
| Üsküdar und der zentrale Bezirk Beyoglu, gingen an die CHP. In Üsküdar | |
| liegt die Privatresidenz der Familie Erdoğan, in Beyoglu ist Erdoğan | |
| geboren und aufgewachsen. Noch dramatischer war der Wahlsieg der CHP in der | |
| Hauptstadt Ankara. Mit 60,35 Prozent zu 31,69 Prozent wurde Erdoğans AKP | |
| geradezu deklassiert. | |
| Obwohl Erdoğan formal gar nicht zur Wahl stand, war es am Sonntagabend | |
| dennoch seine Niederlage. In Istanbul hatte er den gesamten Wahlkampf | |
| persönlich dominiert, der eigentliche Herausforderer İmamoğlus, Murat | |
| Kurum, war kaum sichtbar. Aber auch landesweit tourte Erdoğan durch alle | |
| Städte und Gemeinden, um die Macht der AKP zu demonstrieren. Doch wie er | |
| selbst in den frühen Morgenstunden am Montag zugab, hat er erstmals seit | |
| der Machtergreifung vor 22 Jahren seine Ziele nicht erreichen können. | |
| Es ist eine historische Niederlage und, wie er sagte, ein Wendepunkt in | |
| seiner Regierungszeit. „Die Nation hat uns eine Botschaft gesendet.“ Sein | |
| wichtigstes Ziel, dem Land eine neue Verfassung zu geben in der der Islam | |
| wieder zur Staatsreligion erklärt und die säkulare Türkei damit zu Grabe | |
| getragen worden wäre, kann er nun wohl vergessen. Auch sein Megaprojekt, | |
| neben dem Bosporus noch einen Schifffahrtskanal vom Schwarzen Meer ins | |
| Marmarameer graben zu lassen, wird gegen den entschiedenen Widerstand der | |
| Istanbuler Stadtregierung und der Mehrheit der Bevölkerung wohl nicht mehr | |
| zu realisieren sein. | |
| ## Wirtschaftliche Gründe | |
| Erdoğans Niederlage ist sicher eine Folge der miesen Wirtschaftssituation. | |
| Durch die hohe Dauerinflation verarmt die Bevölkerung in einer dramatischen | |
| Weise. Aber das war es nicht nur. Die Mehrheit der türkischen BürgerInnen | |
| ist der Dauerherrschaft Erdoğans und seiner AKP müde. Der Zauber, der von | |
| Erdoğan als dem großen charismatischen Führer ausging, ist vorbei. | |
| In seiner Rede in der Nacht auf Montag hat er gesagt, diese Wahl sei ein | |
| Sieg der Demokratie gewesen. Damit hat er tatsächlich recht. Allen | |
| totalitären Tendenzen zum Trotz, die Erdoğan etabliert hat, konnte sich die | |
| Opposition bei demokratischen Wahlen dennoch durchsetzen. Der Opposition | |
| gibt das Hoffnung für die Präsidentschaftswahlen in vier Jahren. Nach | |
| seinem Sieg in Istanbul ist Ekrem İmamoğlu nun endgültig der starke Mann | |
| der Opposition. Mit seinen erst 53 Jahren, gegenüber dem 70-jährigen | |
| Erdoğan, gehört ihm die Zukunft. | |
| 1 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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