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# taz.de -- OB-Kandidatin in der Türkei: Aufklärung als Antriebsfeder
> Ihre Eltern haben den Kampf gegen Umweltzerstörung mit dem Leben bezahlt.
> Auch deshalb stellt sich Emine Büyüknohutçu nun in der Türkei zur Wahl.
Antalya/Istanbul taz | Emine Büyüknohutçu steigt im Stadtzentrum von
Antalya die Treppen eines Mehrfamilienhauses hoch. Oben bereitet sie sich
einen Kaffee zu. Danach geht sie raus auf den Balkon, zündet sich eine
Zigarette an, die sie zwischen den dünnen, langen Fingern mit rot
lackierten Nägeln hält. Sie hat eine samtweiche Sprechstimme und wirkt
zurückhaltend, aber wenn sie lacht, fühlt man die Schallwellen warm gegen
die Brust prallen.
Es ist Mitte Februar, heute wird Emine Büyüknohutçu im kleinen Kreis ihre
Kandidatur als Oberbürgermeisterin ankündigen. Sie will die Ermordung ihrer
Eltern, bekannte Umweltaktivist*innen, aufklären und gegen Korruption
kämpfen. Die Eingeladenen wird sie um Unterstützung bitten. Denn erst vor
wenigen Tagen trat sie aus ihrer Partei TİP, der türkischen Arbeiterpartei,
aus, kandidiert nun parteilos. Bis zu den türkischen Kommunalwahlen am 31.
März, bei denen landesweit Bürgermeister, Stadt- und Provinzräte gewählt
werden, sind es noch rund sechs Wochen.
Mit 39 Jahren ist Emine Büyüknohutçu eine junge Politikerin. Die in Antalya
geborene und studierte Grafikerin leitet ihre eigene Werbeagentur. Seit
sieben Jahren engagiert sie sich politisch, ziemlich genau seit der
Ermordung ihrer Eltern. Mit ihrem Bob, den Tattoos und schwarzen
Plateaustiefeln entspricht sie so gar nicht dem türkischen
08/15-Poltikertypus von männlich und über 50. Sie wirkt so, als sei sie die
einzige Kandidatin in Antalya, die der alten, etablierten Parteipolitik und
all den hiermit verbundenen Problemen frischen Wind einhauchen könnte. Zwar
sind Frauen in der türkischen Politik keine Seltenheit, aber sie sind
selten in wichtigen Positionen.
Büyüknohutçus OB-Kandidatur ist ein mutiger Schritt – laut Umfragen wird es
auf ein knappes Rennen zwischen AKP und CHP hinauslaufen. Die Kandidatin
hat allenfalls Außenseiterchancen. Zudem verfügt sie über keinerlei Mittel,
die sie für einen Wahlkampf braucht – kein Geld, kein großes Netzwerk,
keine Parteistrukturen. Getrieben ist sie vor allem von ihrem Glauben an
Aufklärung und Gerechtigkeit: „Ich bin die einzige der Kandidat*innen, die
einen hohen Preis für diese Stadt bezahlen musste.“
Emine Büyüknohutçu ist die älteste Tochter von Aysin und Ali Ulvi
Büyüknohutçu, die 2017 im Alter von 61 Jahren erschossen wurden. Das Paar
setzte sich gegen die Umweltzerstörung durch Steinbruchanlagen in Finike
ein. Die Vorstadt mit knapp 50.000 Einwohner*innen liegt südwestlich
von Antalya. Das Alacadağ-Gebirge, wo das Haus der Familie steht, ist ein
grünes Dorf nördlich vom Finike-Zentrum. Das Haus nutzten sie seit 2011 als
Ferienhaus. Nach und nach zogen sie ganz dorthin, „um ihre Rente zu
genießen“, erzählt die Tochter.
Ihr Vater Ali Ulvi fällt dabei früh auf, dass die Steinbruchanlage unweit
ihres Hauses Wälder und Orangengärten lokaler Bauern zerstören. Er schickt
Zeitungen Fotos glattrasierter Berge, tritt in Polit-Talkshows auf. 2015
bewirkt er den Betriebsstopp einer der 14 Steinbruchanlagen. Es stellt sich
heraus, dass die Genehmigung für die besagte Anlage ohne
Umweltverträglichkeitsprüfung erstellt wurde – ein Hinweis auf Korruption.
Bevor das Urteil zum Betriebsstopp rechtskräftig wird, verklagt der Inhaber
der Anlage Ali Ulvi Büyüknohutçu auf 100.000 Lira Entschädigung (damals
rund 25.000 Euro). Das Gericht gibt Büyüknohutçu recht, er muss nichts
zahlen. Etwa zwei Monate später, am 9. Mai 2017, wird das Paar erschossen
aufgefunden.
„Ich kandidiere nicht, um zu gewinnen. Ich möchte aufzeigen, wozu
politische Korruption führen kann. Es war nämlich Korruption, die meine
Eltern getötet hat“, sagt Büyüknohutçu. Öffentliche Gelder würden etwa …
Luxusdienstwagen für Politiker*innen fließen.
Im Ausgabenbericht der Stadtverwaltung von Antalya ist das zwar nicht
nachlesbar, weil die einzelnen Posten nicht aufgeschlüsselt sind.
Aufgelistet in dem Bericht für 2022 sind aber beispielsweise
„Dienstleistungen für die Öffentlichkeit“ oder „andere allgemeine Diens…
denen gegenüber identische und verdächtig runde Zahlen als Ausgabe
angegeben sind. Das Geld, das in Dienstwagen fließt, könne an anderer
Stelle gebraucht werden: „Wir werden in Studierendenwohnheime, sozialen
Wohnungsbau und Krankenhäuser investieren“, sagt die Kandidatin.
Aber auch erneuerbare Energien sind Büyüknohutçu ein wichtiges Anliegen.
Sie will für die Wasserversorgung Pumpen nutzen, die durch Solarenergie
angetrieben werden. So könne man Wasser- und Strompreise senken. „Auch die
Windkraft müssen wir überhaupt einsetzen. Das ist ein langfristiges
Projekt, aber wann, wenn nicht heute? Wenn wir so weitermachen, kann man in
dieser Stadt in zehn Jahren kaum noch leben.“
Davon, dass der Umweltschutz bei den Kommunalwahlen keine große Rolle
spielt, lässt sich Büyüknohutçu nicht beirren. Sie möchte mit ihrem
Programm vor allem das Erbe ihrer Eltern weitertragen. Wenn Büyüknohutçu
von ihnen erzählt, wird ihre Stimme besonders weich. „Ich konnte nicht
trauern. Keine Tränen, kein Nervenzusammenbruch, bis heute.“ Das würden
nicht alle gut finden, selbst in ihrem sozialen Umfeld: „Ich höre immer
wieder, dass ich den Verstand verloren hätte. Sie erwarten, dass ich
zusammenbreche. Das gab ich ihnen nie, und ich weiß, dass meine Eltern
stolz wären.“
Kurz nach deren Tod wird der Verdächtigte Ali Yamuç gefasst. Bei der ersten
Vernehmung am Tatort erklärt dieser mündlich, dass es sich um
Einbruchdiebstahl handele und er das Paar in Panik erschossen habe. Bei der
ersten schriftlichen Aussage behauptet er allerdings, es sei ein
Auftragsmord gewesen. Ihm habe ein Mann 50.000 Lira geboten, damit er das
Paar „erledige“, weil es den Betrieb zum Stillstand gebracht habe. Erst
3.000, nach der Tat würde er die weiteren 47.000 Lira erhalten.
Kurze Zeit später berichten Medien von einem Brief, den Yamuç seiner Frau
übergeben haben soll und der sich an den Inhaber einer Steinbruchanlage
richtet. Darin soll er damit gedroht haben zu „reden“, wenn er den Rest
seines Gelds nicht bald bekäme. Daraufhin befragt ihn die
Staatsanwaltschaft erneut, beide Protokolle liegen der taz vor. Bei der
zweiten Anhörung macht Yamuç widersprüchliche Aussagen: Im Brief habe er
gelogen, aber sich tatsächlich mit dem Inhaber einer Steinbruchanlage
unterhalten.
Etwa vier Monate nach seiner Verhaftung wird Ali Yamuç tot auf der
Gefängnistoilette aufgefunden. Er habe sich erhängt. Die Ermittlungen
wurden eingestellt, weil „der Täter tot“ sei. Dabei war er zum Zeitpunkt
seines Todes noch nicht vor Gericht erschienen, geschweige denn verurteilt.
Weder seine Behauptung über einen Auftragsmord noch sein Tod waren bisher
Gegenstand von Ermittlungen – für Büyüknohutçu ein Zeichen von Korruption.
Emine Büyüknohutçu findet sich plötzlich in einem Kampf gegen das Vergessen
wieder. Via Social Media und Medienauftritte fordert sie eine lückenlose
Aufklärung. Sie verlangt, dass der Rolle von Yamuçs Ehefrau und seiner
Behauptung des Auftragsmordes gründlich nachgegangen werde. Dabei erhält
sie auch Drohungen, die sie anfangs nicht ernst genommen habe. Knapp zwei
Monate nach dem Mord an Ali Ulvi und Aysin Büyüknohutçu veranstaltet die
Stadt Finike ein Orangenfestival, das unter anderem von den zwei
Steinbruchfirmen, die Ali Yamuç als Auftraggeber beschuldigte, gesponsert
wird.
Auch Sedat Peker ist eingeladen – ein Mafiaboss, der, ehe er 2021 zum
Staatsfeind Nummer eins erklärt wurde, sehr enge Beziehungen zur Politik
pflegte. So machte er 2016 Wahlkampf für die AKP, indem er Wähler*innen
der Oppositionsparteien mit Mord drohte. „Als ich Fotos von Sedat Peker auf
diesem Festival sah, merkte ich, dass sie es ernst meinten. Da musste ich
aufhören“, erzählt Büyüknohutçu heute.
Nun, sieben Jahre später, möchte sie in Antalya Oberbürgermeisterin werden.
Unterstützt wird sie von einem kleinen Team aus freiwillig engagierten
Menschen, deren Zahl sie auf 25 schätzt. Der Wahlkampf ist mühsam, oft hakt
es an der praktischen Durchführung, alles dauert zu lange, nur die
wenigsten scheinen klare Aufgabenbereiche zu haben. Die Menschen aus ihrem
Team kennt sie entweder aus ihrer Jugend oder von ihrer alten Partei TİP.
Der Mord an ihren Eltern erschütterte sehr viele Menschen, sie wollen
Büyüknohutçu deshalb in ihrem Vorhaben unterstützen. Warum sie aus der TİP
ausgetreten ist, möchte sie nicht detailliert begründen. Nur so viel: Es
ging ihr darum, „dem sozialistischen Kampf nicht zu schaden“. Sie habe in
der Partei nicht das gefunden, was sie gesucht habe.
Die politische Landschaft in der Türkei ist in zwei Lager gespalten,
inzwischen zählen nur noch die CHP und AKP. In ihrem Selbstverständnis geht
es dabei um die Richtung der Zukunft: Traditionen gegen Modernität,
Fundamentalismus gegen Säkularität. In Antalya lösen sich CHP und AKP seit
1999 alle fünf Jahre gegenseitig ab. Der heutige CHP-Oberbürgermeister
Muhittin Böcek regiert seit 2019, laut Umfragen könnte er diesmal
verlieren. Viele CHP-Wähler*innen sind mit Böcek unzufrieden. Es gibt
permanentes Verkehrschaos, die Busse fahren willkürlich. Das Leitungswasser
ist nicht trinkbar, es gibt keine Kitaplätze, die Mieten erreichen
astronomische Höhen. Die meisten Strände sind privatisiert, oft kosten sie
Eintritt. Naturschutzgebiete werden bebaut, Wälder gegen Golfplätze und
Steinbruchbetriebe getauscht. Viele sind bereit, trotzdem die CHP zu wählen
– wegen der Sorge, dass sonst die AKP von [1][Präsident Recep Tayyip
Erdoğan] an die Macht käme.
„Mich können Sie nicht konvertieren. Vielleicht reden Sie lieber mit den
anderen“, sagt ein etwa 30-jähriger Mann am Duden-Park in Antalya, als er
Büyüknohutçus Hand schüttelt. Es ist Ende Februar, die junge Politikerin
läuft durch den vollen Park und stellt sich Menschen vor. „Ich möchte aber
gerade mit Ihnen sprechen,“ entgegnet sie. Sein Kumpel sagt „Valla, ich
wähle Böcek, weil ich muss. Ich habe keine andere Wahl.“ Der
Nichtkonvertierbare wirkt leicht beleidigt: „Das höre ich aber zum ersten
Mal …“ „Also du erzählst mir, dass es dir um die Partei geht?“, fragt
Büyüknohutçu provokant. Er entgegnet: „Nein, ich bin kein Partei-Hooligan,
sondern gegen die AKP. Der stärkste Kandidat gegen die AKP bekommt meine
Stimme.“ Sein Freund sagt: „Ich kann mir vorstellen, für Sie zu stimmen.“
Sein Kumpel wiederholt: „Wichtig ist, dass die AKP nicht gewinnt.“
Ungefähr eine Stunde lang spaziert Emine Büyüknohutçu durch den Park und
spricht Menschen an. Vor allem bei Frauen scheint sie anzukommen: „Wir
machen Kitas kostenlos und bieten Berufsausbildungen für die Mütter. So
erlernen Frauen einen Beruf und werden unabhängig, ohne sich Sorgen über
die Kinderbetreuung zu machen“, sagt die 39-Jährige. „Wir brauchen etwas
Neues“, entgegnet eine Frau. Auch andere gratulieren ihr „zu ihrem Mut“,
wünschen ihr Glück und Erfolg.
Doch die Wahlkampftour an diesen Nachmittag muss früher als geplant enden:
der fehlenden Broschüren wegen. Ein Problem, denn auch wenn Büyüknohutçu in
umweltaktivistischen Kreisen ein Name ist und vom Mord an ihren Eltern
viele wissen, ist sie beim Rundgang weitgehend unbekannt. „Ich bin
gezwungen, ihnen zu sagen, dass sie mir auf Instagram folgen sollen, das
wirkt so komisch. Wir beenden das jetzt und kommen wieder, wenn die
Broschüren da sind.“ Dafür bräuchte sie 5.000 Tausend Lira, umgerechnet
circa 150 Euro – eine Summe, über die sie derzeit nicht verfügt.
Auf dem Rückweg sprechen sie und Enes Evrensel über die Broschüren. Die
Kandidatin will auch welche auf Russisch, in Antalya gäbe es viele
stimmberechtigte Russ*innen, sagt sie. Wegen Russlands Krieg gegen die
Ukraine sind viele russische und ukrainische Menschen in die Türkei
geflohen. Auch in Antalya wohnen einige, die eingebürgert wurden.
„Vielleicht sollten wir erst mal welche auf Türkisch haben“, entgegnet
Enes. Beide müssen lachen.
Enes Evrensel entkommt man nicht, wenn man Emine Büyüknohutçu trifft. Der
Vater von zwei Kindern arbeitet als Versicherungskaufmann. Auch wenn die
zwei wie alte Freund*innen wirken, lernten sie sich erst vor Kurzem
kennen, auf einer TİP-Veranstaltung. Da habe sich niemand Gedanken um ihre
Sicherheit gemacht. „Sie erhielt häufiger Drohungen und es gibt große
Mächte im Spiel. Ich habe mich bereit erklärt, immer und überall dabei zu
sein und für ihre Sicherheit zu sorgen.“ Erfahrung in der
Sicherheitsbranche habe er keine. Auch eine Waffe würde er „normalerweise“
nicht tragen. Evrensel unterstützt die Kandidatin aber auch inhaltlich und
organisatorisch. Wie er die Aussichten einschätzt? „Wir werden gewinnen.
Ich meine nicht den Sitz des Oberbürgermeisters, den werden wir nicht
gewinnen. Aber wir werden gewinnen, indem wir vorleben, dass ein Wahlkampf
kein Millionenprojekt sein muss.“
Nach dem Duden-Park fahren die beiden in eine Kanzlei von einer
befreundeten Person, etwa 15 Kilometer entfernt. Büyüknohutçu soll für ein
wichtiges Interview [2][in Istanbul] gebrieft werden. „Das kann alles
ändern“, sagt sie. Über sie wurde bisher minimal berichtet. Diesmal wurde
sie aber von dem Youtube-Kanal Babala TV mit fast fünf Millionen
Abonnent*innen eingeladen. Mit etwas Glück wird ihr Video millionenfach
geklickt und der Nachteil, kein Geld zu haben, ein wenig ausgeglichen. Sie
kennt die zwei Brüder, die den Kanal leiten, mit dem älteren habe sie
gemeinsam studiert. Der ehemalige Stadtvorsitzende von TİP, der die Partei
auch verlassen hat, wird sie vorbereiten.
Die Sitzung beginnt mit anderthalb Stunden Verspätung. Das Büro ist grau
und weiß gestrichen, überall stehen Bücher und Vasen. Vor dem großen,
dunkelbraunen Schreibtisch stehen seitlich zwei Sessel, gegenüber eine
große Couch, sie sind heute alle belegt. Büyüknohutçu ist nur von Männern
umgeben. Stundenlang wird viel geraucht und abstrakt über Politik geredet.
Der ehemalige Stadtvorsitzende sagt: „Wir Linken machen oft den Fehler, zu
sagen, dass man die Probleme nur mit der sozialistischen Revolution lösen
könne, und machen uns keine Gedanken über konkrete Ansätze. Aber viele
Probleme können wir auch in dem hiesigen System lösen.“
Wie soll sie Fragen beantworten, auf die sie keine Antworten hat? „Wenn du
offen zugibst, dass du nicht alles wissen kannst, und unbedingt mit der
Community und Expert*innen gemeinsam arbeiten wirst, dann hebst du dich
schon hervor. Die Leute haben keinen Bock mehr auf diese ganzen
Besserwisser.“ Später geht es um konkrete Themen wie Gesundheit, Mobilität,
Bau- und Landwirtschaft. Einer macht eine Tonaufnahme. Er würde
transkribieren, damit Emine nur zuhören und keine Notizen machen muss.
Einige Tage später, gut vier Wochen vor dem Wahltag, sitzen Emine und Enes
auf einer grauen Eckcouch, beide schauen auf einen Bildschirm. Sie suchen
einen preiswerten Mietwagen. „Ich habe 3.000 Lira auf dem Bankkonto“, sagt
Emine, weniger als 100 Euro. Das könnte gerade reichen. Heute Nacht fahren
sie nach Istanbul, das Interview ist morgen.
Nach längerer Suche finden sie ein Angebot und schlagen zu. Nur: Bei der
Abholung bekommen sie den Wagen nicht. „Meine Kreditwürdigkeit war zu
schlecht,“ sagt Büyüknohutçu, die Wirtschaftskrise würde auch ihre
Werbeagentur schwer belasten. Wie sie damit umgeht? „Ich kenne das nicht
anders. Auch meine Eltern kämpften schon immer ohne Geld gegen
Milliarden-Unternehmen.“ Eine Freundin bietet ihr das eigene Auto an, sie
sitzt am Lenker. Etwa 800 Kilometer, zu dritt. Die Schwiegermutter der
Freundin habe eine Wohnung in Istanbul, in der sie eine kurze Pause machen
und ein paar Stunden schlafen können.
Auf dem Weg arbeitet Büyüknohutçu in dem dunklen Auto mit dem Laptop auf
dem Schoß, korrigiert Texte für ihre Broschüre, schaut sich die Website an,
die vor wenigen Minuten online gegangen ist, telefoniert, schreibt
Nachrichten. Sie nuckelt an ihrer E-Zigarette und liest am Handy einen
Text: Das Transkript von der Vorbereitungssitzung. 12 Seiten lang soll es
sein, und viel zu umständlich formuliert.
## Sie liest ohne Pause
„Nicht einmal ich verstehe, was hier steht.“ Sie liest ohne Pause, als
würde sie versuchen, alles auswendig zu lernen. Angekommen in Istanbul,
arbeitet sie in der Küche weiter, während die anderen schlafen. „Wenn du
etwas angefangen hast, dann musst du es auch zu Ende bringen“, habe ihr ihr
Vater immer gesagt. „Diese Wahlen sind nur der Anfang. Wir testen unser
Volumen aus. Nach den Wahlen werden wir daraufhin arbeiten,
flächendeckende, parteiübergreifende Bündnisse auf die Beine zu stellen.“
Als sie in der Redaktion auf dem Campus der Nişantaşı-Universität ankommt,
liegt eine schlaflose Nacht hinter ihr. Emine Büyüknohutçu sitzt in dem
hinteren Büro auf einer Couch, pudert sich das Gesicht und schaut nervös
hin und her. Gleich vor den Kameras spricht sie anders, als sie es sonst
tut: mechanisch. Ob sie versucht, sich an den Inhalt der 12 Seiten zu
erinnern? Das Gespräch dauert keine ganze Stunde, danach müssen sie zurück
nach Antalya, wieder ohne Schlaf. Im Auto ist sie zuerst verdächtigt still,
wird dann immer lauter. Dass diese 12 Seiten doch unmöglich gewesen seien,
dass sich kaum jemand um die Arbeit kümmern würde, dass sie doch nicht
alles alleine machen könne. Beschissen sei das Interview gelaufen, klagt
sie. Später beruhigt sie sich.
Die Fahrt raus aus Istanbul dauert Stunden. Büyüknohutçu kümmert sich da
schon wieder um Broschüre, Website und Co. Dem Verkehr der Metropole
entkommen, sind die Straßen bis nach Antalya frei. Sie steckt sich Ohrhörer
rein und schaut aus dem Autofenster in die dunkle Nacht. Was sie hört?
„Horoskop. Der Mond wechselt bald in Fische, das ist mein Sternzeichen. Das
kann richtig in die Hose gehen. Oder eben richtig gut werden.“
27 Mar 2024
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## AUTOREN
Sibel Schick
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