| # taz.de -- Mietmarkt in Berlin: Wem gehört denn jetzt Neukölln? | |
| > Die Mieter*innen-Gewerkschaft Berlin kämpft gegen steigende Mieten und | |
| > Verdrängung. In Neukölln war sie unterwegs für ein | |
| > „Do-it-yourself-Mietenkataster“. | |
| Bild: Unterwegs für das „Do-It-Yourself-Mietenkataster“ | |
| Berlin taz | Ob explodierende Mieten, Betriebs- und Heizkosten, | |
| intransparente Nebenkostenabrechnungen, mangelnde Renovierungen, | |
| Eigenbedarfskündigungen oder Entmietungen: Die Situation auf dem Berliner | |
| Wohnungsmarkt ist für Mieter*innen beängstigend. Und umso beängstigender | |
| ist es, wenn Mieter*innen gar nicht wissen, wer der Eigentümer ihres | |
| Hauses ist. | |
| „In Deutschland gibt es keine öffentlich einsehbaren Informationen dazu, | |
| welches Haus wem gehört und welches bereits in eine Eigentumswohnung | |
| umgewandelt wurde“, sagt Leo Coustier von der | |
| [1][Mieter*innen-Gewerkschaft Berlin] (MGB). Leo hat die Ortsgruppe | |
| Neukölln im Oktober 2023 mitgegründet. | |
| „Täglich werden Mietwohnungen in Eigentum umgewandelt und Menschen aus | |
| ihrem Zuhause verdrängt“, sagt Leo. In Neukölln habe es gerade vor einer | |
| Dekade viele Verkäufe gegeben. Die 10-jährigen Mieter*innenschutzfristen, | |
| in denen Mieter*innen nach der Umwandlung nicht wegen Eigenbedarfs | |
| gekündigt werden dürfen, liefen bald aus. Daher befürchten sie, dass eine | |
| „Welle an Eigenbedarfskündigungen“ auf sie zurollt. | |
| Die „Housing Action Days“, eine europaweite Aktionswoche für das Recht auf | |
| Wohnen, nimmt die Ortsgruppe Neukölln der MGB sowie die Aktivistengruppe | |
| Kiezversammlung44 deshalb an diesem Samstagmittag zum Anlass, um in | |
| Hausgesprächen zu erfahren, wie die Wohnsituation der Mieter*innen im | |
| Kiez ist. Ziel ist es auch, ein „Do-it-yourself-Mietenkataster“ zu starten, | |
| in dem sichtbar wird, welches Haus wem gehört und wie viele | |
| Eigenbedarfsbedrohungen zu erwarten sind. | |
| In fünf Zweierteams finden sich die Teilnehmer*innen zusammen und | |
| teilen Neukölln auf der Karte unter sich auf. Das Team Geos schnappt sich | |
| Stuttgarter und Böhmische Straße, Team Boddinstraße United nimmt die | |
| Hertzberg- und Schudomastraße. Ausgestattet mit einer Zettelwirtschaft an | |
| Fragebögen, Flyern, Demoaufrufen und Stickern begeben sie sich in das | |
| vorsommerliche Neukölln. | |
| Während draußen in der Stadt der Bär steppt, öffnen in den Wohnhäusern nur | |
| wenige die Türen. Von denjenigen, die das Team Boddinstraße United zu Hause | |
| antrifft, sind viele beschäftigt. Sie gucken Bundesliga, kochen Pasta oder | |
| wechseln Windeln und wollen eher keine Auskunft geben. Andere | |
| Nachbar*innen sind jedoch sehr mitteilungsbedürftig. „Seit einem Jahr | |
| habe ich Mäusebefall“, erzählt ein älterer Herr, der sich auf seiner Krüc… | |
| nur schwer im Türrahmen halten kann. Die Fenster öffneten sich nicht und | |
| der Wasserhahn funktioniere nicht. Er habe wiederholt den Vermieter | |
| kontaktiert. Der schicke immer wieder jemanden vorbei zur Inspektion, aber | |
| anschließend passiere nichts. „Ich will zum Mieterschutzbund, aber weil ich | |
| aktuell nicht laufen kann, muss ich warten, bis ich einen Betreuer | |
| bekomme“, sagt er. | |
| ## Ein zweiter Wohnungsmarkt | |
| Von einem anderen Team war hinterher von einer Eigentumswohnung zu hören | |
| „mit windigen Verträgen, die mit Leuten vollgeknallt wird“. Eine Agentur | |
| habe eine Ladeneinheit in eine Dreizimmer-WG umgewandelt, in der 12 | |
| Student*innen, überwiegend Pakistanis und Inder*innen, lebten. Für die | |
| Zimmer, in denen sie je zu viert lebten, zahlten sie jeweils 300 Euro. Von | |
| der Kaution, so stehe es im Mietvertrag, würden sie nur 30 Prozent | |
| rückerstattet bekommen. | |
| „Das ist quasi ein zweiter Wohnungsmarkt“, sagt ein MGB-Mitglied. Die | |
| Agentur wolle keine Bürgschaften sehen. Solange man zahle, dürfe man | |
| bleiben, erzählt er. „Die suchen absichtlich ausländische Mieter*innen, die | |
| nicht wissen, wie sie sich wehren können.“ Der einzige deutsche Mieter in | |
| der WG habe eine Rechtsschutzversicherung gehabt und sich anwaltlich | |
| gewehrt. Er habe auch probiert, den Eigentümer ausfindig zu machen, aber an | |
| der angegebenen Adresse sei kein Büro gewesen. | |
| Deshalb fordert die MGB mehr Transparenz. Im Grundbuch müssten | |
| Mieter*innen den Hauseigentümer ausfindig machen können. Dies sei jedoch | |
| oft nicht aktuell. Zudem würden Briefe, in denen die Umwandlung angekündigt | |
| wurde, nach häufigen Wechseln oftmals nicht an die aktuellen | |
| Mieter*innen weitergereicht. Schließlich gebe es keine Stelle, an der | |
| man geordnet für den gesamten Kiez einsehen könne, welche Häuser welchem | |
| Eigentümer gehören und welche bereits umgewandelt sind. | |
| Die sei notwendig, damit Nachbar*innen sich zusammenschließen und | |
| Informationen teilen könnten, sagt Coustier. Denn Probleme, die | |
| Mieter*innen haben, seien meist die gleichen, die ihre Nachbar*innen | |
| auch hätten. „Am besten wäre es, Druck auf den Senat auszuüben, dass der | |
| uns die Informationen übermittelt, aber der ist selbst völlig überfordert | |
| seit den Umwandlungen“, sagt Laurenz von der Kiezversammlung44. | |
| ## Im Besitz einer Briefkastenfirma | |
| Auch in den Hausgesprächen wird deutlich, dass viele Mieter*innen nicht | |
| wissen, wer der Eigentümer ihres Hauses ist. Eine Mieterin erzählt, nach | |
| langer Recherche herausgefunden zu haben, dass das Haus einer | |
| luxemburgischen Briefkastenfirma gehöre. Dahinter würden die | |
| Tetrapak-Erb*innen stecken. Der Briefkastenfirma gehören noch andere Häuser | |
| im Kiez, erzählen andere Teams. In einem weiteren Wohnhaus, das drei | |
| Eigentümern gehört, erzählt eine Nachbarin, dass alle ausziehen müssten, | |
| das Haus werde verkauft. Wovon ein anderer Nachbar noch gar nichts | |
| mitbekommen hat. | |
| Es äußern sich jedoch auch viele Mieter*innen positiv über ihre | |
| Wohnsituation. Alles sei saniert, die Mietpreise in Ordnung und die | |
| Eigentümer „äußerst sozial“. Die Zufriedenheit spiegelt aber auch den | |
| horrenden Zustand des Berliner Wohnungsmarktes wider. Ein Mieter erzählt, | |
| er habe „total Glück“. Für seine kleine Einzimmerwohnung zahle er „nur�… | |
| Euro. In den Häusern von Heimstaden und Covivio seien die meisten | |
| Mieter*innen zufrieden gewesen, erzählt ein Team. Das sei aber ihre | |
| Strategie, sagt einer der MGB-Aktiven: „Anfangs besonders kümmernd | |
| aufzutreten und währenddessen strukturell Nebenkosten zu erhöhen und Profit | |
| zu maximieren.“ | |
| Einige Mieter*innen äußern sich auch zunächst zufrieden, erst durch | |
| Nachfragen werden erhebliche Probleme deutlich. | |
| Gegen 18 Uhr trudeln die erschöpften Teams in einer Kneipe ein. Die Rettung | |
| naht: Es gibt Bier und Pommes. Jeweils zwischen 12 und 16 Häusern haben die | |
| Teams abgeklappert. Ein „zäher Kraftakt“, sagt Laurenz. Das Ergebnis: 55 | |
| ausgefüllte Fragebögen. Die Erfahrungen: durchmischt. | |
| Von zufriedenen bis unzufriedenen Mieter*innen, horrenden bis vertretbaren | |
| Mieten, sanierten Bauten bis Leerstand war im Neuköllner Dschungel aus | |
| Genossenschaften, Eigentums- und Mietwohnungen, von Kleinvermietern bis | |
| Immobilienunternehmen, alles dabei. | |
| Doch eines gilt für alle: Wem der Kiez gehört, das weiß keiner so genau. | |
| 7 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lilly Schröder | |
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