# taz.de -- Aufarbeitung der Pandemie-Maßnahmen: Keine Schule der Solidarität | |
> Sollen die Coronamaßnahmen „aufgearbeitet“ werden? Die erschreckende | |
> Befürchtung ist, dass vernünftige Diskurse gar nicht mehr möglich sind. | |
Bild: Protest gegen die Einschränkungen während der Pandemie im April 2020 in… | |
Eines der eigenartigsten Phänomene der Geschichte ist, wie wenig die | |
Spanische Grippe (1918 bis 1920) Eingang in Erinnerungsliteratur, | |
Geschichtsschreibung oder Popkultur gefunden hat. Immerhin forderte [1][die | |
Influenzapandemie] mit veranschlagten bis zu 50 Millionen Opfern bis dato | |
mehr Todesopfer als jede andere Krankheit. Aber schon in der | |
zeitgenössischen Publizistik war sie nur eine Randnotiz, kam gar nicht vor | |
zwischen den Leitartikeln zu Revolution, dem Sturz von Kaiserhäusern, | |
Kriegsende, Bolschewismus oder dem Ringen um Demokratie. | |
Hinterher war das Massensterben schnell verdrängt. Dass dieses Desaster so | |
frappierend wenig Eingang in das kollektive Gedächtnis fand, führen kluge | |
Köpfe daher auch auf folgende Tatsache zurück: Es gibt so wenige Episoden, | |
die erlauben, sich darüber Heldengeschichten zu erzählen. Im Gegenteil, die | |
Menschen mochten nicht, was die Epidemie aus ihnen machte: Egoisten | |
nämlich, die nur überleben wollen. Seuchen sind keine Schule der | |
Solidarität. Man kann das heute etwas besser nachvollziehen. | |
[2][Jens Spahn, während der Coronajahre Gesundheitsminister], ist ja nicht | |
für besonders intellektuelle Heldentaten berühmt, aber er hat am Höhepunkt | |
der Pandemie einen tiefsinnigen Satz gesagt: „Wir werden einander viel | |
verzeihen müssen.“ Am liebsten würden wohl sehr viele die Jahre einfach | |
abhaken. Die Coronapandemie hat zu sehr vielen Zerwürfnissen geführt, zu | |
hysterischen Debatten, die bis in die engsten Freundes- und Familienkreise | |
hineinreichte. | |
Maßnahmenbefürworter gegen [3][Maßnahmenskeptikerinnen], die einen | |
verdammten die Impfung, die anderen luden sich „Stay at home“ in ihre | |
Social-Media-Porträts. All das war nicht bloß „kontrovers“, sondern voller | |
Emotionalität und Wut. Ärztinnen wurden gemobbt, [4][im Einzelfall sogar in | |
den Tod getrieben]. Andererseits fühlten sich Leute arg an den Rand | |
gedrängt, nette Hippies, die auf Homöopathie oder Meditation stehen, sahen | |
sich plötzlich als „Schwurbler“ und „Ungeimpfte“ in einer Weise | |
gesellschaftlich geächtet, die sie als gemein und brutal empfanden. | |
## Mal über-, mal unterschätzte Gefahr | |
Und nun gibt es da zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins: einfach vergessen. | |
Möglichkeit zwei: „aufarbeiten“, was immer das sein könnte. „Wir werden | |
darüber reden müssen, sonst fliegt uns das alles noch einmal um die Ohren“, | |
sagte unlängst ein Mediziner und Public-Health-Experte zu mir, der | |
seinerzeit öffentlich eine akzentuierte Stimme war. Grundsätzlich können | |
sich auch im öffentlichen Bereich viele eine „Aufarbeitung“ vorstellen, man | |
hört, die Idee einer Enquetekommission im Bundestag findet wachsende | |
Akzeptanz. | |
In Österreich hat die Bundesregierung sogar die [5][Akademie der | |
Wissenschaften] mit der Erstellung einer Studie beauftragt. Die Studie ist | |
übrigens ziemlich gescheit. Man hat sie in einer Pressekonferenz am 21. | |
Dezember präsentiert. Das war der Donnerstag vor dem Weihnachtswochenende. | |
Man wollte, dass sie untergeht. | |
Ein [6][verschwörungstheorienahes Internetportal] hat die Protokolle des | |
Robert-Koch-Instituts freigeklagt, und natürlich werden die Tausenden | |
Seiten jetzt als Dokument des „Beweises“ verkauft, wie wir manipuliert, | |
eingesperrt oder was auch immer wurden. Dabei findet man in den | |
Diskussionsmitschriften das genaue Gegenteil: Wissenschaftler und Experten, | |
die auf Basis unsicheren Wissens und angesichts von sich ständig ändernden | |
Fakten und Beweisgrundlagen ihre Empfehlungen ableiten. | |
Man sieht, was man wann wusste oder zu wissen glaubte. Erst unterschätzte | |
man die Gefahr, dann überschätzte man sie vielleicht. Bald ging man von | |
einer Fallsterblichkeit von rund 3 Prozent aus, was in Deutschland viele | |
Hunderttausend Tote bedeutet hätte. Man diskutierte kontrovers über | |
Ausgangsbeschränkungen, [7][Lockdowns], deren Länge, hatte früh Sorge vor | |
den psychosozialen Auswirkungen, man war sich bald bewusst, dass man die | |
kleinen Kinder und jungen Schulkinder eher in Ruhe lassen sollte. | |
## Schwierige Bedingungen für die Politik | |
Politiker und Politikerinnen wiederum mussten auf Basis von Empfehlungen, | |
unter den Bedingungen von Ungewissheit Entscheidungen treffen, die manchmal | |
richtig, manchmal zu lasch, manchmal zu streng ausfielen. Die | |
Normbetroffenen, wie die Bürger im Fachjargon heißen, reagierten gereizt. | |
Die einen fühlten sich einem unnötig hohen Todesrisiko ausgesetzt, die | |
anderen durch autoritäre Maßnahmen gegängelt, und ganz generell war man auf | |
viel existenziellere, eklatantere Weise von Regierungshandeln betroffen, | |
als das sonst der Fall ist. | |
Zur Aufarbeitung würde natürlich auch die Erörterung der Frage gehören, wie | |
klar und eindeutig eine Risikobeurteilung sein muss, um massiv in | |
individuelle Freiheitsrechte einzugreifen, weil generell die ewige Spannung | |
im demokratischen Rechtsstaat die zwischen bindenden Regeln einer sozialen | |
Ordnung und den individuellen Freiheitsrechten des Einzelnen ist. Auch die | |
Frage von ungerechtfertigten Doppelstandards wäre ein Thema, da die | |
Zustimmung zu Maßnahmen zusammenbricht, wenn die Leute das Gefühl haben, | |
dass es nicht gerecht zugeht. | |
In Österreich durfte man etwa in Gondeln zum Skifahren, aber nicht ins | |
Theater. Andererseits: Politiker waren auch gehetzt, hinkten logischerweise | |
oft den Aufgaben hinterher und mussten Hunderte Parameter berücksichtigen, | |
nicht nur gesundheitliche, sondern auch ökonomische. Österreichs | |
Gesundheitsminister hat tagsüber 16 Stunden regiert und nachts die neuesten | |
Studien gegoogelt und durchgeackert, was ganz persönlich schlecht für das | |
Thema ist, was der Amtsträger im Titel trägt, die Gesundheit nämlich. | |
Was, wenn es möglich wäre, die Gereiztheit in ein ruhiges, maßvolles | |
öffentliches Gespräch aufzulösen? Mein Verdacht ist, dass wir das Vertrauen | |
in die Möglichkeit von Diskursen schon verloren haben. Und das ist | |
eigentlich das wirklich Beängstigende. | |
3 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Spanische-Grippe-und-Covid-19/!5680342 | |
[2] /Bundesgesundheitsminister-Jens-Spahn/!5753657 | |
[3] /Impfgegner-und-die-Coronapandemie/!5735702 | |
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/kellermayr-corona-aerztin-tot-103.… | |
[5] https://www.oeaw.ac.at/news/oeaw-coronastudie-zeigt-lehren-fuer-kuenftige-k… | |
[6] /Verschwoerungsmagazin-und-RKI-Files/!6000899 | |
[7] /Rueckblick-auf-den-ersten-Lockdown/!5920130 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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