Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Angesteckt mit Lindy Hop
> Die Begeisterung für den Paartanz ist von der Tochter auf die Eltern
> übergesprungen. Familie Kirchner schöpft Kraft aus den schnellen
> Schritten.
Bild: Marie Jelenka Kirchner und Mascha Kirchner, Tochter und Mutter, am Esstis…
Zu Besuch in Oldenburg bei Marie Jelenka Kirchner und Mascha Kirchner,
Tochter und Mutter. Marie ist gerade da, zurzeit wohnt sie mit ihrem Mann
in Graz. Derzeit nicht zu Hause: Karsten, Maschas Mann, Maries Vater. Er
ist Lehrer und unterrichtet Deutsch und Geschichte an einer der drei
Oldenburger Gesamtschulen, nachmittags soll noch Maries jüngere Schwester
kommen, die in Dortmund Stadt- und Raumplanung studiert.
Draußen: [1][Oldenburg], Stadt im Nordwesten zwischen Bremen und den
Niederlanden. Stadtteil Bloherfelde, nicht weit von der Uni, einer
Neugründung aus den 1970ern. Der Quellenweg ist typisch für die Stadt, wo
sie nicht gründerzeitlich geprägt ist: ein Häuserbrei, nach und nach
gewachsen, als sich Oldenburg in den 1950ern ausbreitete.
Einfamilienhäuser, alle Stile sind vertreten: Kuben aus den 70ern,
neotoskanische Postmoderne, 80er-Jahre-Walmdachhäuser mit gewagten Gauben.
Die Kirchners wohnen in einem der ersten Häuser, die hier standen. So, wie
Kinder ein Haus malen würden, sieht es aus: rote Klinker, weiße
Fensterrahmen, rotes Ziegeldach. Vor dem Gartentor steht ein Minihäuschen
auf einem Pfahl, bunt gestrichen: eine kleine Bibliothek mit Büchern zum
Mitnehmen und zum Dalassen, gegen den Regen geschützt durch zwei
Glastürchen.
Drinnen: Holzdielen, keine weiten Raumfluchten, eher schnuckelig. Wohn- und
Esszimmer gehen ineinander über. Im Wohnzimmer eine runde orangefarbene
Couch, auf der die ganze Familie Platz hat. Im Essbereich ein hölzerner
Tisch vor dem Fenster mit Blick in den Garten und aufs Nachbarhaus, das
einem schlesischen Bauernhaus nachempfunden ist. Daneben ein leerer
Notenständer, „leer ist der, weil die Noten beim Lüften immer wegfliegen“,
auch ein Klavier. Darüber hängen zwei fast identische Kunstwerke, gerahmte
Collagen aus alten Zeitungen, orange-rot-gelbe Papageien, die auf grünen
Halmen sitzen. „Ich habe Kunst an der Grundschule unterrichtet, Marie und
Katinka durften manchmal was ausprobieren“, sagt die Mutter. Auf dem Tisch
steht grüner Tee, der aus blau-weißen Tassen getrunken wird, die Teekanne
warm gehalten auf einem Stövchen aus Glas. Auf einer gläsernen Platte
stehen kleine Töpfe mit Pflanzen, eine Murmel, zwei Schälchen mit
Knabberzeug. Marie und Mascha sitzen auf der Bank, das Fenster im Rücken.
Das Miteinander: Es ist das Haus von Mascha, Karsten, Marie und Katinka;
und auch wenn die Töchter längst erwachsen und ausgezogen sind, ist das
Netz des familiären Miteinanders überall spürbar. Noten liegen im Regal,
weil sie alle Musik machen oder Musik gemacht haben. Marie spielte
Klarinette – „als ich noch hier lebte“, das Instrument ließ sie zurück.
Mascha sagt: „Nimm sie mit!“ In einem Karton verbirgt sich ein
Schifferklavier, alle singen gerne. Marie ist seit 13 Jahren von zu Hause
weg, aber Mutter und Tochter verstehen sich blind. Als Mascha die Teekanne
leert, reicht ein Blick, und Marie pustet die Kerze im Stövchen aus.
Marie: 1993 in Konstanz geboren, wo die Eltern studierten, später wollten
sie zurück in den Norden, so kamen sie nach Oldenburg. Marie bestand 2011
das Abitur, seitdem ist sie unterwegs: Europäischer Freiwilligendienst in
Krakau, wo sie auch ihren Master machte, in Osteuropawissenschaften,
dazwischen Stationen in Chemnitz, Taiwan, Bremen, Nordmazedonien und
Warschau, seit 2020 in Graz. Ziel: die Promotion; ihre Themen:
„Genderequality, feministische Außenpolitik, die EU-Erweiterung“.
Verheiratet ist Marie mit Moritz, auch er ein Oldenburger. Er ist
Softwareexperte und kann immer mitkommen, wenn es Marie woanders hinzieht.
Mascha: Sie hat als Grundschullehrerin gearbeitet und sich mit der Zeit ein
kleines Nachhilfeinstitut aufgebaut, „da, im Anbau“. Ihr Schwerpunkt:
Kinder mit besonderem Förderbedarf und Deutsch als Zweitsprache. Das
Institut pausiert aber gerade, weil Mascha für die Gedenkstätte Deutscher
Widerstand an einer Biografie ihrer Großmutter Ille Wendt schreibt. „Ich
bin bei ihr aufgewachsen, und wir waren uns sehr nah.“ Wendt, 1908 in Köln
als Bertha Maria Ruppe geboren, 1993 in Hamburg gestorben, stammte aus
kleinbürgerlichen Verhältnissen und war während der Nazizeit aktiv im
kommunistischen Widerstand. Die Großmutter hat 3.000 Briefe und Dokumente
aus der Zeit hinterlassen. Mascha hat während des Studiums lange Gespräche
mit ihr geführt – jetzt ist sie dabei, alles zusammenzufügen. Die
Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte berührt sie, „diese
Widerstandsgeschichte macht mich oft traurig und wütend, etwa wenn ich
lese, wie meine Großmutter nach einem Gestapoverhör eine Fehlgeburt hatte.
Gleichzeitig bin ich auch stolz auf ihren Mut. Und ihre Kraft.“
Rückkehr nach Hause: Marie wohnt mittlerweile länger nicht mehr in
Oldenburg, als sie dort gelebt hat; gelegentlich kommt sie zurück.
„Inzwischen ist es nicht mehr das Nach-Hause-kommen-Gefühl, ich bin dann
auf Besuch. Aber es ist immer noch schön.“ Sie findet es „toll, zu sehen,
dass sich bei den Eltern viel verändert und weiterentwickelt, auch die
Eltern selbst“, darin müsse man sich aber auch zurechtfinden, sagt sie.
Die Leidenschaft: Alle Kirchners tanzen gerne. Marie und die Eltern
[2][Lindy Hop]. Vor allem aber ist es Maries große Leidenschaft, und wenn
sie davon erzählt, ist es ansteckend (sodass man selbst ein paar Schritte
mit ihr probiert, aber gnadenlos scheitert). Ihre Eltern waren talentierter
und sind heute in der Lindy-Hop-Szene Oldenburgs sehr aktiv. Marie hat den
Tanz schon überall getanzt, „weil man ihn überall tanzen kann“. Ein
ursprünglich afroamerikanischer Tanz aus den USA, entstanden in den 1930er
Jahren wohl als Reaktion auf die Prohibition, der Stil eine Befreiung. Alle
können mit allen tanzen, Lindy Hop hat wechselnde Parts und Rollen, „nicht
so wie bei anderen Tänzen, wo der Mann die Frau führt“. So einen
klassischen Tanzkurs hat Marie nie gemacht, sie fand erst später zum
Tanzen, dann aber direkt zum Lindy Hop. „Während des Studiums in Krakau,
auf einem Jazzfest gab es einen Einsteigerkurs, da haben Moritz und ich
mitgemacht.“ Und später fand sie, wo immer sie war – in Taiwan, Warschau,
jetzt in Graz –, Gleichgesinnte. „Lindy Hop ist weltumspannend, bringt
Menschen zusammen, man teilt Glück“, sagt die Tochter. Die Mutter nickt.
Die andere Leidenschaft: Mutter und Töchter tauschen Romane hin und her,
ein Lesekreis zwischen Oldenburg, Graz und Dortmund. Marie sagt: „Mama hat
einen ausgewählten Buchgeschmack“. Gerade liest die Tochter „Häuser aus
Sand“ von Hala Alyan, eine Fluchtgeschichte im Nahen Osten, „ein tolles
Buch“, empfohlen von Mascha. Die sagt: „Ich lese nur noch Bücher von
Frauen, ich habe genug Männer gelesen.“ Gerade allerdings liest sie eine
Dissertation über kommunistische Jugendgruppen in den 1920ern, „wegen der
Biografie meiner Großmutter“.
Die Gartenzaunbücherei: Mascha hat sie vor sieben Jahren aufgestellt,
„mittlerweile ist sie auf Google Maps“, Maries Schwester hat sie bunt
gestrichen. Das Ausleihprinzip ist einfach: „Eins rein, eins raus.“
Angefangen hat es mit acht Büchern. „Und heute ist da täglich Betrieb,
jemand kommt und sucht sich ein Buch und bringt später ein anderes mit,
Leute treffen sich und unterhalten sich.“ Am liebsten würde Mascha auch
noch eine Bank und einen Tisch dazustellen. Die Straßenverkehrsordnung
erlaubt das nicht.
Die Weltlage: Mascha sagt: „Ich bin froh, dass ich aus so etwas wie dem
Lindy Hop für mich Kraft schöpfen kann, um all das auszuhalten, was es
gerade an Krisen in der Welt gibt.“ Da findet sie es ermutigend, dass zu
[3][Demos gegen rechts] auch in Oldenburg 17.000 Menschen auf die Straße
gingen. Zehn Prozent der Stadtbevölkerung. „Gegenseitigkeit und Achtsamkeit
sind so wichtig; darum geht es beim Lindy Hop.“ Das könne man dabei lernen,
sagt Marie.
1 Apr 2024
## LINKS
[1] /Nicht-kommerzielles-Kino-in-Oldenburg/!5985755
[2] /Berliner-Szenen/!5377632
[3] /Demos-gegen-rechts/!5994464
## AUTOREN
Felix Zimmermann
## TAGS
Der Hausbesuch
Buch
Oldenburg
Bücher
Tanz
wochentaz
Noten
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Fotografie
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
wochentaz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Hausbesuch: Glücklich gescheitert
Alles ist eine Frage der Balance, sagt Felix Adumatta Donkor aus Berlin. Er
ist Künstler und Galerist – und putzt, um von etwas zu leben.
Der Hausbesuch: Robuste Eleganz
Ronja Mende und Augusto Talpalar stellen Schmuck her, der nicht gefällig
sein soll. Aus dem Handwerk ziehen sie Lehren fürs Leben.
Der Hausbesuch: Sie hat den Sog in sich
In den 70er, 80er Jahren fotografiert Gundula Schulze Eldowy in Ost-Berlin
und wird berühmt. Es ist nur eine Facette der Arbeit dieser Weltreisenden.
Der Hausbesuch: Probleme lösen ist Ehrensache
Hafsa Özkan hat sich Selbstbestimmung schwer erkämpft. Hart ist sie dadurch
nicht geworden. Voller Empathie setzt sie sich für andere Menschen ein.
Der Hausbesuch: Von null auf hundert
Das Leben von Axel Kaiser ist reich an Wendemanövern: Früher war er
Autonarr, heute liebt er sein Rad und ist nachhaltiger Unternehmer.
Der Hausbesuch: Ihre Kunst ist unsere Geschichte
Die Künstlerin Varda Getzow trägt transgenerationale Traumata in sich. Ihre
Werke sind eine stete Auseinandersetzung damit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.