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# taz.de -- Der Hausbesuch: Von null auf hundert
> Das Leben von Axel Kaiser ist reich an Wendemanövern: Früher war er
> Autonarr, heute liebt er sein Rad und ist nachhaltiger Unternehmer.
Bild: Axel Kaiser versucht seit zwanzig Jahren, der Zahnputztablette zum Durchb…
Halbe Sachen zu machen, ist nicht Axel Kaisers Ding. Auch dann nicht, wenn
er scheitert.
Draußen: Der Hohenzollernplatz in Berlin ist nicht schön – zumal nicht im
Winter. Er ist klein, und der Verkehr auf dem vorbeiführenden
Hohenzollerndamm legt über alles ein verstohlenes Rauschen. Jetzt wurden
ein paar Bäume auf dem Platz gepflanzt – es wirkt wie ein Aufbäumen gegen
[1][die Allmacht des Autos]. An der hinteren Seite des Platzes stehen
klassizistische Berliner Wohnhäuser. In einem lebt Axel Kaiser – bis
kürzlich mit seiner erwachsenen Tochter. Sie ist nach Lübeck gezogen, der
Stadt, wo er aufwuchs. Gerade allerdings ist sie zu Besuch. Ihre Mutter
auch. Kaiser und sie haben eine wechselvolle Beziehung. „Wir haben es in
drei Jahrzehnten nicht geschafft, uns zu trennen“, sagt er.
Drinnen: Dreißig Jahre wohnt Kaiser in der großzügigen Altbauwohnung. Vier
Meter hoch sind die Räume, und die Böden nicht immer ganz plan. Ein
Sammelsurium an Dingen ist überall: Altes, Neues, Nutzloses und sehr
Brauchbares, wie etwa seine Nähmaschine. „Ich liebe es, Dinge zu flicken,
es beruhigt mich.“ Die Inneneinrichtung ist ein Wimmelbild; besser man
konzentriert sich auf Details. Etwa auf das Klappfahrrad neben dem alten
Gründerzeitschrank und dem Kleiderständer, auf dem Kabel hängen.
Das Fahrrad: „Carlotta“ nennt er das edle Gefährt, „ein Brompton“, also
Kult, sagt Axel Kaiser. Es gehöre seiner Großnichte. Wie alt ist die? „Ein
Jahr.“ Er hat es gekauft, als sie auf die Welt kam. „Wenn sie groß ist,
bekommt sie es.“ Er geht davon aus, dass es bis dahin nichts von seiner
Schönheit eingebüßt haben wird. Er fahre überall hin damit. In der U-Bahn
gilt das Fahrrad – zusammengeklappt – als Gepäck. „Carlotta“ ist ein
Hinweis darauf, dass er heute andere Prioritäten setzt als früher: Früher
war er ein Autonarr.
Die Autos: Mindestens 50 Autos habe er in seinem Leben besessen. „Heute
haben die jungen Leute keinen Führerschein mehr, für mich damals undenkbar.
Ich hatte den an meinem 18. Geburtstag, keinen Tag später.“ 43 Jahre ist
das her. Er hat alte Autos gekauft, sie aufgemotzt, wiederverkauft. „Alles
so halblegal.“ Als er das Abitur endlich hatte, war er 21 und fing eine
Kfz-Mechaniker-Lehre an. „Mir ist nichts anderes eingefallen, da habe ich
gemacht, was ich schon konnte.“
Lernen: Er sei mäßig in der Schule gewesen – trotz blitzschneller
Auffassungsgabe. „Ich bin ein klassischer Fall von krasser Unterforderung“,
sagt er. „Ich liebe Komplexität.“ Wenn er spricht, ist es, als beschleunige
ein Auto in zwei Sekunden von null auf hundert. Und ständig wird die Spur
gewechselt – weil es so viel zu sagen gibt. Kaisers Dilemma – vermutlich,
denn mit Diagnosen hatte man es in seiner Schulzeit noch nicht so:
hochbegabt [2][mit ADHS]. Er habe sich die Sendung von [3][Eckart von
Hirschhausen] angeguckt, als der sich als ADHS-Betroffener outete. Die
Symptome seien ihm bekannt vorgekommen. „Hab ich das auch?“, fragte er
sich. Bei der Frage blieb es.
Familie: Aufgewachsen ist Kaiser in Lübeck mit einer Schwester und zwei
Brüdern. Einer ist in Bombay geboren, lebte später in Singapur. Der Bruder
ist wichtig. Ohne ihn hätte Kaiser sich nicht der Zahnputztablette
verschrieben. Die Familie von Kaiser war umtriebig. Seinen Vater, der nach
dem Krieg das Notabitur machte und Kellner lernte, hatte es nach Indien
verschlagen. „Ich bin der Einzige in der Familie, der nie im Ausland
lebte.“ Und der ältere Bruder sei der Einzige gewesen, der in seinem
gelernten Beruf arbeitete: Zahntechniker. Ganz nebenbei erzählt er auch mit
Respekt von einer Großmutter, die nach Afrika auf eine Plantage ging. „Das
muss man sich mal vorstellen, was das damals hieß.“
Nach der Lehre: Noch bevor die Lehre zu Ende war, begann er den
Zivildienst. „Damals reichte ein simpler Brief, dass man nicht zum Bund
wolle. Wäre es mit Gewissensprüfung gewesen, bin ich sicher, ich hätte die
nicht bestanden.“ Die Gesellenprüfung bestand er aber, obwohl er danach nie
als Mechaniker arbeitete, sondern in allen möglichen Berufen. Als Fotograf
zog er zeitweise durch [4][die Clubs in Berlin]. Bei der anrollenden
Digitalisierung dann wird er für viele „Buden“ unverzichtbar, weil er sich
das Programmieren schon früh selbst beigebracht hatte, auf Atari, auf
Commodore, „und sowieso, ich konnte gut Englisch und die Handbücher
verstehen“. Nach der Wende hat er für Mitropa die Vernetzung gemacht. „Geld
hat damals keine Rolle gespielt.“
Die Preisbrecher: Sein Bruder, der Zahntechniker, der als
Entwicklungshelfer in Singapur war – „das muss man sich heute mal
vorstellen, Entwicklungshilfe in Singapur“ –, zog dort 1992 ein Zahnlabor
auf. Der Plan: Zahnersatz für den deutschen Markt zu produzieren, die
Herstellungskosten waren dort niedriger. Er brauchte jemanden für den
Vertrieb in Deutschland. Axel Kaiser wird der Vertreter. „Ich bin im Osten
von Zahnarzt zu Zahnarzt gefahren, um unsere Produkte an den Mann zu
bringen.“ Der dritte Bruder, eigentlich Lehrer, wird der Geschäftsführer.
Dass preiswerter produziert werden konnte, davon hätten die
Patient:innen profitiert. Gern gelitten von der Konkurrenz aber seien
sie nicht gewesen. „Wir waren die Preisbrecher.“
Die Pillen: Ein befreundeter [5][Zahnarzt] wollte Anfang des Jahrhunderts
seine Doktorarbeit über ein wasserfreies Zahnputzmittel schreiben. Kaiser
hatte keine Ahnung, stürzte sich aber „mit steiler Lernkurve“ in das
Projekt. Sie entwickelten die Zahnputztablette. „Putzen ist das falsche
Wort, es ist eher ein Polieren.“ 2003 kam die Pille raus. Man zerkaut eine
Tablette, durch den Speichel löst sie sich auf. Damit putzt man die Zähne.
Eine Erfindung sei es nicht, betont Kaiser. Er hat kein Patent angemeldet.
Wenn einer der großen Player im Zahnpastamarkt sie wollte, er würde ihnen
das Know-how zutragen, sagt er.
Das Unternehmen: Die Zahnputztablette war der Einstieg in eine neue
berufliche Richtung. „Eine erfolglose“, wie er sagt. Kaiser arbeitete
weiter im Zahnlabor und versuchte gleichzeitig, die Zahnputztablette
populär zu machen. Vergebens. Und das, obwohl die Argumente auf seiner
Seite sind. Denn Zahnpasta ist nur deshalb eine Paste, weil Wasser
zugesetzt wird. Damit das schön frisch bleibt, müssten auch „Keimhemmer,
Stabilisatoren und allerhand anderes aus dem Chemiekasten“ reingerührt
werden, das man dann über die Schleimhäute in den Körper aufnehme.
„Zahnpasta ist ein Kosmetikprodukt. Wäre es ein Medizinprodukt, es wäre
verboten.“ 40 Millionen Tuben werden im Monat in Deutschland verkauft.
Schon das benötigte Plastik sei doch eine sinnlose Vergeudung und Zumutung.
„Wie ein Doofmann versuche ich diese Botschaft seit zwanzig Jahren in die
Welt zu tragen.“
Nachhaltigkeit: Zahnpasta hat Kaiser zum Kritiker des marktüblichen
Wirtschaftens gemacht, wo es nur um Profit geht, egal, wem man mit dem
Produkt schadet. Er hat sich mit der Zahnputzpille der Nachhaltigkeit
verschrieben. Er hofft, dass es bald kompostierbare Folien aus
Lebensmittelüberschüssen gibt für die Verpackung. Er kennt die
Unternehmerin, die damit experimentiert. Er kennt die meisten, die
Nachhaltigkeit wollen. Denn seit 17 Jahren ist er im Vorstand des
[6][Bundesverbands nachhaltige Wirtschaft]. Seit einem Jahr ist er auch
berufenes Mitglied im DIN-Ausschuss Mund- und Zahnpflege. „Da mische ich
gerne mit. Wenn ich mich durchsetze, wird Zahnpasta verboten.“
Zeitgeist: Dass es ihm nicht gelungen ist, etwas Sinnvolles populär zu
machen, erstaunt ihn. Aber seit ungefähr fünf Jahren passen solche
Entwicklungen wie die Zahnputzpille zum Zeitgeist. Das spüre er. Langsam
steige die Resonanz. Der Drogeriemarkt dm hat sie jetzt im Sortiment. Er
jedoch ist schon einen Schritt weiter. Es gehe ihm nicht mehr darum, die
Leute von Zahnputztabletten zu überzeugen, sondern davon, den Planeten zu
retten. „In unserem Lebensalter entscheidet sich, ob die Menschheit die
Kurve kriegt. Das macht es für mich mit meiner verschrobenen Idee
interessant. Das Wesentliche für die Zahnputztablette ist nicht die
Werbung, sondern die Einsicht.“
16 Mar 2024
## LINKS
[1] /Kolumne-Immer-bereit/!5539562
[2] /Diagnose-ADHS/!5870761
[3] https://www.youtube.com/watch?v=MHjZ-4z8do8
[4] /Partyszene-in-Berlin/!5967535
[5] /Zahnarzt-ueber-die-Tuecken-des-Berufs/!5419735
[6] https://www.bnw-bundesverband.de/
## AUTOREN
Waltraud Schwab
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