# taz.de -- Radsport für Nichtprivilegierte: Rohdiamant auf Pedalen | |
> Kolumbien ist Radsportland, Guillermo Juan Martinez, 19, ein | |
> Riesentalent. In Italien fördert ihn ein Schweizer Profiteam. Über einen, | |
> der nirgends aufgibt. | |
Bild: „Ein besonderes Talent, das man mit dem richtigen Training nur noch ‚… | |
BOYACÁ/LUCCA taz | Nebel liegt über dem Hochland von Boyacá mitten in | |
Kolumbien. Guillermo Juan Martinez jagt auf einer Motocross-Maschine den | |
Berg hinauf, immer wieder verschwinden die Reifen in Schlaglöchern. Er mag | |
Motorradfahren nicht besonders, zu gefährlich, aber es ist ein schnelles | |
Mittel, zum Haus seiner Eltern zu fahren. Martinez knattert an blühenden | |
Kartoffeläckern und leeren Milchkannen vorbei. Farne fischen Wassertropfen | |
aus dem Nebel. Das ewige Grün der kolumbianischen Anden. Der 17-Jährige | |
beachtet es nicht. Er hat einen Traum: Er will Radprofi werden. | |
Die Chancen stehen nicht schlecht, denn der Kolumbianer gehört zu den | |
größten Talenten seines Jahrgangs. Im November 2022 beendete er die Vuelta | |
del Porvenir, die wichtigste Nachwuchsrundfahrt des Landes, auf dem zweiten | |
Platz. Doch um wirklich Profistatus zu erreichen, muss er es nach Europa | |
schaffen, wo die großen Teams ansässig sind und die wichtigen Rennen | |
stattfinden. | |
Martinez bremst das Motorrad ab und biegt auf einen holprigen Pfad ein. Am | |
Ende steht ein einstöckiges Haus mit gelben Wänden und einem roten Dach. | |
Eine Betonplatte vor der Haustür dient als Parkplatz. Martinez ist schon | |
länger nicht mehr hier gewesen. | |
Eine kleine, stämmige Frau tritt aus dem Haus. Nelci Martinez hat den | |
ganzen Morgen auf ihren Sohn gewartet. Sie umarmt den schlaksigen Mann, der | |
jünger aussieht als 17 Jahre. Seine Freunde haben ihm den Spitzname El | |
Grillo verpasst, die Grille. Der Vater, Manuel Martinez, steht neben seinem | |
Sohn und lächelt. Die Eltern haben Bier kaltgestellt, als wir sie im | |
November 2022 besuchen. | |
Die Eltern bitten ins Haus. Vor fünf Jahren zogen sie hierher, weil die | |
Erde etwas wärmer ist als auf der Nordseite der Berge. Die Kartoffeln | |
wachsen hier besser, die beiden sind Landwirte. Im Wohnzimmer stehen vier | |
Plastikstühle und ein blauer Gartentisch. Es ist früher Nachmittag und der | |
Vater bietet seinem Sohn ein Bier an. Guillermo Juan Martinez schaut ihn | |
kurz ungläubig an. Dann sagte er: „Ich will doch Radprofi werden, Papa.“ | |
Martinez hat das Haus der Eltern vor fünf Monaten verlassen. Er hat sich | |
ein kleines Zimmer in der Nähe der Provinzhauptstadt Tunja gesucht, um | |
schneller zum Training und zu den Rennen zu kommen, die das | |
[1][Radsport]-Nachwuchsprogramm „Boyacá Raza de Campeones“ organisiert. Vom | |
Familienhaus hat er zweieinhalb bis dreieinhalb Stunden nach Tanja | |
gebraucht. | |
Neben dem Haus, in einem Verschlag aus Holz und Planen, brät Nelci Martinez | |
Forellen. Im Haus gibt es auch eine mit Gas betriebene Küche, doch Martinez | |
kocht lieber auf dem alten, gusseisernen Herd, der mit Brennholz betrieben | |
wird. „Hoffentlich schmeckt es Ihnen“, sagt sie. „Ich habe mich die ganze | |
Nacht gefragt, was Ausländer essen wollen.“ | |
Die Familie Martinez lebt auf 3.000 Metern Höhe. Seit Generationen haben | |
sich die Menschen hier an die Kälte, den Nebel und die harte Arbeit auf den | |
Feldern gewöhnt. Ihre Lungen haben gelernt, der dünnen Luft den Sauerstoff | |
abzutrotzen. Gute Voraussetzungen, um Radprofi zu werden. | |
„Je abgelegener die Jungs wohnen, desto besser werden sie einmal“, sagt der | |
kolumbianische Trainer Erney Casallas am Rande eines Rennens in der Provinz | |
Boyacá. Er hat Martinez vor drei Jahren entdeckt. Vom Elternhaus bis zum | |
nächsten Dorf dauert es eine halbe Stunde mit dem Motorrad. Martinez fuhr | |
früher oft mit dem Fahrrad zur Schule. So sammelte er schon als | |
Jugendlicher eine Menge Höhenmeter. | |
Seit einem Jahr gehört Martinez zum Auswahlteam Boyacá Avanza. Dort werden | |
die besten Talente des Nachwuchsprogrammes aufgenommen. Nairo Quintana, | |
der aus einem Dorf ein paar Kilometer entfernt stammt und als erster | |
Kolumbianer den Giro d’Italia gewann, hat es gegründet. Er wollte, dass | |
mehr Jungen und Mädchen aus Boyacá Radprofis werden. Martinez bekam sein | |
erstes Rennrad durch das Programm. Finanziert wird es von der Provinz | |
Boyacá, die Räder kosten um die 200 bis 300 Euro. Für die meisten Kinder | |
von Bäuerinnen und Bauern sind sie deshalb unerschwinglich. | |
Das Programm funktioniert so: An Schulen in der ganzen Provinz suchen | |
Trainerinnen und Trainer nach Talenten. Etwa 1.000 von ihnen werden in das | |
Programm aufgenommen und bekommen, wenn sie ihr Talent unter Beweis | |
gestellt haben, ein Fahrrad. Damit können sie in einem Verein trainieren | |
und an den Rennen teilnehmen, von denen jährlich etwa 20 stattfinden. | |
Boyacá ist so etwas wie die Wiege des kolumbianischen Radsports. Schon im | |
Jahr 1929 führte ein Vorläufer der Kolumbienrundfahrt ein paar Todesmutige | |
von der Hauptstadt Bogotá in die Provinzkapitale Tunja. Die steilen Straßen | |
waren damals Schotterpisten mit riesigen Löchern. Seitdem entwickelte sich | |
das Radfahren zu einer Nationalsportart. | |
Als Egan Bernal 2019 als erster Kolumbianer die Tour de France gewann, | |
konnte er Monate danach nicht mehr einkaufen gehen. Supermärkte hätten aus | |
Sicherheitsgründen gesperrt werden müssen, weil ihn so viele Menschen sehen | |
wollten, um ein Autogramm von ihm zu bekommen. Der Radsport ist in | |
Kolumbien auch so erfolgreich, weil er die Möglichkeit des sozialen | |
Aufstiegs bietet. | |
In einem Land, in dem der Durchschnittslohn bei etwa 500 Euro im Monat | |
liegt, gleicht ein europäisches Radsport-Profigehalt einem Sechser im | |
Lotto. Und so träumt Juan Guillermo Martinez nicht nur von sportlichem | |
Ruhm, sondern auch von finanziellem Wohlstand. „Ich möchte meine Familie | |
voranbringen“, sagt er. | |
Vater Manuel Martinez zieht Gummistiefel an, wirft einen Poncho über und | |
geht aufs Feld. Sein Sohn trottet hinterher. Auf ein paar Quadratmetern | |
baut die Familie Kartoffeln, Bohnen und Baumtomaten an. Ein paar Meter | |
weiter grasen zwei Kühe und ein Kalb. Der Vater tätschelt den Kopf des | |
Kalbes, sein Sohn hat das Smartphone herausgeholt und schaut sich die | |
Zusammenfassung eines Radrennens an. Es wirkt, als hätte er Acker und Vieh | |
längst weit hinter sich gelassen. | |
Ein paar Tage zuvor hat er selbst am Start eines Radrennens gestanden. In | |
Soatá, einer Kleinstadt, die geradewegs in den Berg gebaut wurde, findet | |
das Saisonfinale der Copa de Boyacá statt. Hier, in der gleichnamigen | |
Provinz, ist es nicht mehr weit bis zu den letzten Gletschern Kolumbiens, | |
der Sierra Nevada del Cocuy, und ihren Fünftausender-Gipfeln. | |
Auf die Rennfahrer wartete ein Stadtkurs. Zwölf Runden mussten sie drehen, | |
vorbei an bunt bemalten Häusern und über Betonplatten, zwischen denen | |
daumenbreite Spalten klaffen. Gleich nach dem Start galt es, einen Hang mit | |
einer Steigung von 15 Prozent zu überwinden. 400 Fahrerinnen und Fahrer | |
gingen in verschiedenen Altersgruppen an den Start. Aus Lautsprechern | |
schepperten Cumbia-Lieder. | |
Noch einige Minuten, bis das Rennen begann. Zeit für ein Interview. | |
Martinez schaute seinem Gesprächspartner nicht in die Augen. Er sagte: „Die | |
Saison ist fast vorbei. Heute ist es wichtig, dass ich nicht stürze, denn | |
ein Team aus Europa hat Interesse gezeigt.“ Die Siege in dieser Saison | |
haben ihm Selbstvertrauen gegeben. Auf Nairo Quintana angesprochen, den | |
Radsport-Star in Boyacá, sagt Martinez: „Er ist ein exzellenter Rennfahrer | |
und hat große Dinge erreicht. Aber ich möchte noch mehr erreichen.“ Er | |
verschluckte sich fast an seinen Worten. | |
Guillermo Juan Martinez wird an diesem Tag von Stürzen verschont bleiben | |
und den vierten Platz erreichen. Die Verhandlungen mit dem europäischen | |
Team werden sich in die Länge ziehen. Nicht weil das Team kein Interesse | |
hat, sondern weil es gerade neu entsteht. Es ist Q36.5, ein in der Schweiz | |
lizenziertes Pro-Team. Als die Verträge mit den Sponsoren stehen, | |
unterschreibt auch Guillermo Juan Martinez einen Vertrag im dortigen | |
Nachwuchsteam. | |
Im Februar 2023 soll Martinez, der kein Wort Italienisch und kaum Englisch | |
spricht, nach Italien fliegen. Er hat eine Menge Fragen: Wie sind die | |
Menschen in Europa? Gibt es dort Schnee? Wie fühlt sich der Herbst an? Und | |
warum haben die Geschäfte am Sonntag geschlossen? | |
Martinez’ Mutter sagt: „Ich habe Angst um ihn.“ Sie fragt die Reporter, ob | |
sie ihrem Sohn helfen könnten, wenn ihm etwas zustößt. Martinez’ Vater | |
lässt sich seine Sorgen nicht ansehen. Er sagt: „Wenn er Radprofi werden | |
will, muss er da durch.“ | |
## Engagierte Teamwurzeln | |
Dass Q36.5 überhaupt auf Martinez aufmerksam wurde, hat mit den Wurzeln des | |
Teams zu tun. Es wird von Douglas Ryder geführt, einem ehemaligen Radprofi | |
aus Südafrika, der 2008 das Qhubeka-Team gründete. Sein Ziel: afrikanischen | |
Talenten einen Weg in den Profisport ermöglichen. 2015 nahm Qhubeka als | |
erstes afrikanisches Team an der Tour de France teil. 2021 wurde es aus | |
finanziellen Gründen aufgelöst. | |
Doch Kontakte und Ausrichtung blieben bestehen. So arbeitet auch Q36.5 mit | |
einer niederländischen Agentur zusammen, die vor allem äthiopische und | |
kenianische Athleten vertritt. „Und diese Agentur betreut auch einige | |
kolumbianische Fahrer“, sagt Kevin Campbell, Head of Performance bei Q36.5, | |
in einem Videocall im Januar 2024. | |
Abgesehen von seinem zweiten Platz bei der Vuelta del Porvenir und ein paar | |
Trainingsfahrten konnte Juan Guillermo Martinez dem Team keine Daten | |
zeigen. Doch Q36.5 gab ihm trotzdem einen Ein-Jahres-Vertrag. „Wir dachten, | |
dass Guillermo ein Rohdiamant sein könnte“, sagt Campbell. Er sieht den | |
17-Jährigen als besonderes Talent, das man mit dem richtigen Training nur | |
noch „schleifen“ muss. Der 51-Jährige ist Anfang 2024 mit dem Profiteam im | |
Trainingslager im spanischen Calpe. Campbell trägt einen schwarzen Pullover | |
mit der Aufschrift „No shortcuts“, keine Abkürzungen. | |
Der gebürtige Südafrikaner möchte Menschen aus Entwicklungs- und | |
Schwellenländern eine Chance geben. Er zieht daraus keinen finanziellen | |
Vorteil, denn wie auch für junge europäische oder US-amerikanische | |
Nachwuchsfahrer müssen keine Ablösesummen und keine hohen Gehälter bezahlt | |
werden. Es ist eher ein Risiko. Seinen Scouting-Ansatz beschreibt er so: | |
„Neben unserem Fokus auf afrikanischen Fahrern suchen wir nach Talenten, | |
die von anderen Teams übersehen werden. Oder die sich noch entwickeln.“ | |
Beides trifft auf Guillermo Juan Martinez zu. So groß der Radsport in | |
Boyacá auch sein mag, in Europa hat kaum jemand auf dem Schirm, wer im | |
kolumbianischen Hochland Rennen gewinnt. Und weil Martinez erst spät zum | |
Radsport kam, war er auch nie Teil einer Nationalmannschaft. | |
Für einen wie Martinez gibt es eigentlich keinen Weg in den Radsport. Er | |
ist ein Außenseiter, auch weil er am Ende des Jahres geboren ist und damit | |
den Konkurrenten aus dem gleichen Jahrgang schon immer unterlegen war. | |
Hinzu kommt: Auch körperlich war Martinez ein Spätentwickler. Dass er trotz | |
seiner Größe von 1,65 Meter und seines Gewichts von 50 Kilogramm gute | |
Resultate in Kolumbien einfuhr, zeige allerdings sein Talent, sagt | |
Campbell. | |
Außerdem gab es noch eine wichtige Fürsprecherin: Annemiek van Vleuten, die | |
wohl erfolgreichste Radfahrerin der Welt. Die Niederländerin, die ihre | |
Karriere vergangenes Jahr beendet hat, war 2022 bei einem Trainingslager in | |
Kolumbien auf Martinez aufmerksam geworden und hatte ihn der | |
niederländischen Agentur empfohlen. | |
Das Entwicklungsteam von Q36.5 hat eine geräumige Villa im italienischen | |
Lucca gemietet, in der die Fahrer wohnen. Im Juni 2023 blühen Rosen im | |
Garten und Guillermo Juan Martinez winkt freudig vom Balkon. Stolz begrüßt | |
der mittlerweile 18-Jährige die Besucher und führt durch das alte Haus. | |
Seine Schultern sind breiter geworden, er hat an Muskelmasse zugenommen. | |
In der Küche sitzen drei eritreische Teamkollegen beim Essen. Martinez | |
grüßt sie, geht durch einen Flur, in dem Rollentrainer stehen, vorbei an | |
einem Zimmer mit Trainingsrädern und einem mit Massageliegen. Im ersten | |
Stock teilt er sich ein Zimmer mit Hector Molina, dem zweiten Kolumbianer | |
im Team. Die beiden kennen sich aus Boyacá. | |
Martinez wirkt gelöst, er macht Witze und schaut seinen Gesprächspartnern | |
mittlerweile direkt in die Augen. Dabei erwartete ihn bei seiner Ankunft in | |
Europa eine Nachricht, die seine Karriere auch hätte beenden können. Bei | |
einer medizinischen Untersuchung stellten die Teamärzte fest, dass Martinez | |
eine Herzrhythmusstörung hat. In Kolumbien war das niemandem aufgefallen. | |
Auf der Sinuskurve entdeckten die Ärzte einen zusätzlichen Ausschlag. Das | |
Herz schlug zu schnell. Sie sagten ihm, dass er sich einer Operation | |
unterziehen müsste, Ablation genannt. Um zu verstehen, was dabei gemacht | |
wird, hilft es, sich das Herz als ein Werk aus elektrischen Schaltkreisen | |
vorzustellen. Der Sinusknoten, im rechten Vorhof des Herzens, gibt den Takt | |
vor. Der Herzmuskel gibt dann das Signal weiter, von Zelle zu Zelle, wie | |
eine Welle, die durch das Herz rauscht. | |
Tritt eine Rhythmusstörung auf, sind die Schaltkreise gestört. Bei einer | |
Ablation werden krankhafte Leitungsbahnen, man könnte sie auch als kaputte | |
Schaltkreise bezeichnen, mithilfe eines Katheters verödet. Danach soll das | |
Herz wieder im richtigen Takt schlagen. Doch nach der ersten Operation war | |
das bei Martinez noch nicht der Fall. Im Frühjahr 2023 musste er sich einer | |
zweiten Operation unterziehen. | |
„Drei Monate lang saß ich hier in Lucca rum, ohne trainieren zu können und | |
ohne Wettkämpfe“, sagt Martinez. Nun war er schon in Europa und wollte sein | |
Talent unbedingt unter Beweis stellen, doch sein Herz machte nicht mit. | |
Martinez bewahrte dennoch Ruhe und Zuversicht. Auch, als seine Mutter in | |
Kolumbien fast verrückt wurde vor Sorge um ihn. Die Reporter fragte er | |
nicht um Hilfe. „Das Wichtigste war für mich, dass ich die Unterstützung | |
meines Teams hatte“, sagt Martinez. Und das meint er nicht nur im | |
moralischen Sinne. Die beiden Ablationen kosteten etwa 12.000 Euro, die | |
Krankenkasse kam dafür nicht auf. Also übernahm Q36.5 die eine Hälfte der | |
Kosten, die niederländische Agentur bezahlte die andere Hälfte. „Dafür bin | |
ich sehr dankbar“, sagt Martinez. | |
In Lucca stehen an diesem Junimorgen Bergintervalle auf dem Plan. Zusammen | |
mit Hector Molina fährt Juan Guillermo Martinez aus der Stadt heraus. Die | |
beiden rollen sich ein, überqueren toskanische Hügel und streifen | |
Pinienwälder. Am Monte Serra, einem 917 Meter hohen Berg zwischen Pisa und | |
Lucca, geht Martinez aus dem Sattel, für fünf Minuten zeigt der Radcomputer | |
400 Watt am Berg an. Dann legt er eine kurze Pause ein, bevor 30-sekündige | |
Intervalle mit 800 Watt folgen. | |
Als Martinez nach dem ersten Trainingsblock oben ankommt, schnappt er nach | |
Luft. Ein Grinsen zieht sich über sein Gesicht. „Ich habe so Lust, endlich | |
wieder Rennen zu fahren“, sagt er. Nach einer Pause fährt er ab, um eine | |
zweite Intervall-Einheit zu absolvieren. Kurz bevor Martinez auf die | |
Bergstraße einbiegt, kommt ein Lieferwagen um die Ecke. | |
Martinez kann nicht bremsen, doch er weicht dem Fahrzeug gerade noch aus. | |
Eine Karriere als Radprofi kann jeden Moment zu Ende gehen. Ein heftiger | |
Sturz, ein paar ausgefallene Rennen und schon machen andere Talente einem | |
Fahrer den Platz im Team streitig. Martinez scheint nicht darüber | |
nachzudenken. | |
## Das erste Rennen fürs neue Team | |
Anfang Juni fährt Martinez das erste Rennen für sein neues Team. Es ist der | |
Giro del Medio Brenta, ein italienisches Eintagesrennen der zweiten | |
Kategorie, und Martinez belegt Platz 27. Zwei Wochen später wird er 68. bei | |
der Aosta-Rundfahrt. Keine besonders guten Ergebnisse. | |
Doch darauf kommt es laut Kevin Campbell gar nicht so an. „Im ersten Jahr | |
ist es wichtig, dass die Fahrer die Rennen beenden und etwas in den Rennen | |
versuchen“, sagt er. Auch wenn Martinez nicht hundertprozentig fit gewesen | |
sei, habe er sich im Rennen wohl gefühlt und versucht, anzugreifen. | |
„Fahrer, die so etwas machen, kommen meist weiter“, sagt Campbell. | |
Martinez müsse noch an seinen technischen Fähigkeiten arbeiten, am | |
Bike-Handling, aber der Renninstinkt sei da, die Leistungsdaten würden | |
stimmen und er habe großes Potenzial. „Uns hat vor allem imponiert, wie er | |
mit den Herzproblemen umgegangen ist“, sagt Campbell. Sein Wille, seine | |
Disziplin und seine Zuversicht zeigten, dass er den Sprung zu den Profis | |
schaffen könnte. | |
Das Team hat Martinez’ Vertrag um ein Jahr verlängert. In der aktuellen | |
Saison, die gerade mit zwei Rennen in Slowenien begonnen hat, muss er nun | |
sein Potenzial unter Beweis stellen. Und wieder gibt es Rückschläge. Beim | |
Grand Prix Slovenian Istria stürzte Martinez Mitte März und verletzte sich | |
am Knie. Er fuhr zurück nach Lucca, um sich zu erholen. Am Telefon ein paar | |
Tage danach wirkt Martinez niedergeschlagen, denn das Knie hat sich | |
entzündet. „Ich muss jetzt Tag für Tag schauen, wie es sich entwickelt“, | |
sagt er. | |
Bis zum Giro Next Gen, dem Giro d’Italia für Nachwuchsfahrer, sind es nur | |
noch eineinhalb Monate, nicht besonders viel Zeit für eine gute | |
Vorbereitung. Und wenn es nichts wird mit der Karriere in Europa? Es dauert | |
etwas, bis Martinez antwortet, doch seine Stimme ist dabei fester als | |
vorher: „Dann fahre ich wieder Rennen in Kolumbien.“ | |
Die Recherche wurde von der Heinz-Kühn-Stiftung mitfinanziert. | |
29 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jannik Jürgens | |
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