# taz.de -- Hibbard über Radsport und Philosophie: „Das Leiden ist interessa… | |
> Nietzsche, Sartre und zwei Räder. James Hibbard war Radprofi, nun ist er | |
> Philosophie-Dozent. Radfahren hat ihm die Grenzen des westlichen Denkens | |
> aufgezeigt. | |
Bild: „Ich liebe den romantischen Zugang zum Radsport, Fahrer wie Thibault Pi… | |
taz: Herr Hibbard, Sie waren Radprofi und sind heute [1][Philosoph]. Fahren | |
Sie noch regelmäßig? | |
James Hibbard: Ich glaube, ich habe als junger Athlet nicht so recht die | |
Opportunitätskosten des Sports wertgeschätzt. Ich habe immer gedacht, ich | |
fahre so lange, wie mein Talent mich trägt, und dann höre ich eben auf. | |
Aber das stellte sich als weit schwieriger heraus, als ich gedacht hatte. | |
Das hat mir die Augen geöffnet. Als ich dann gesehen habe, dass einige | |
meiner ehemaligen Mitstreiter mit den gleichen Problemen gerungen haben, | |
hat das meine Erfahrung natürlich validiert. Seine Identität ein Leben lang | |
mit etwas zu verknüpfen, das man in seinen 20er Jahren gemacht hat, ist in | |
gewissem Sinne tragisch. Und das ist etwas, womit ich schwer gekämpft habe. | |
Man merkt als Radfahrer nicht, wie klein die Welt des Radsports ist. Man | |
versteht erst später, wie unbedeutend diese Welt ist. Es ist gut, dass es | |
jetzt eine wachsende Anzahl von Athleten gibt, die darüber reden, wie | |
schwierig der Übergang in ein Leben danach ist – auch Athleten, die weit | |
besser waren als ich selbst. | |
Welche Rolle hat für Sie die [2][Philosophie] beim Übergang vom Profisport | |
zum Leben danach gespielt? | |
Eine enorme Rolle. Mein Vater hat in Kalifornien Philosophie studiert und | |
später an der FU in Berlin. Er hat mir von einem jungen Alter an | |
vermittelt, dass es zwei Welten gibt: Die oberflächliche Welt des Kommerzes | |
und eine andere, wahrere Welt, die hinter diese eher dummen Realitäten | |
dringt. Ich habe immer gedacht, dass das etwas unverblümt Gutes ist. Aber | |
ich zweifele das immer mehr an. | |
Warum? | |
Ach, es hat etwas Prätentiöses an sich, ständig die Welt der Dinge | |
anzuzweifeln. Das hilft einem nicht immer weiter. Es gibt ein Genre von | |
Philosophiebüchern, das sagt, wenn du wirklich die Stoiker verstehst oder | |
wirklich Nietzsche verstehst, dann bist du dazu in der Lage, ein besseres | |
Leben zu führen, dann wirst du glücklich. Das deckt sich aber nicht im | |
Geringsten mit meiner Erfahrung. Ich glaube sogar, dass ein gewisses Maß | |
der Überintellektualisierung zu einem eher unglücklichen Leben führt. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ich könnte damit zufrieden sein, ein schönes Essen mit Freunden zu | |
genießen, mit meinem Kind zu spielen oder einfach nur Rad zu fahren. Aber | |
die philosophische Stimme sagt einem dann, dass das alles nur | |
oberflächlicher Bullshit ist und dass es dahinter etwas Profunderes gibt, | |
wie Heideggers Sein oder Kantische Kategorien. Ich halte es für eher | |
toxisch, ständig den Alltag und das Leben zu negieren. | |
Sie sagen, dass die Überintellektualisierung unglücklich macht, aber | |
zugleich intellektualisieren Sie den Radsport. | |
Das stimmt zum Teil. Aber ich zeige doch auch an meinem eigenen Beispiel | |
den Punkt auf, an dem die Intellektualisierung auf der persönlichen und | |
intellektuellen Ebene scheitert. Deshalb ist für mich auch die | |
Schlüsselfigur Nietzsche. Er zeigt am besten und schönsten das Scheitern | |
des Intellekts auf. Er zeigt der gesamten platonischen Tradition, dass sie | |
intellektuell und emotional unhaltbar ist. | |
Hat Radfahren Ihnen die Grenzen westlichen Denkens aufgezeigt? | |
Ja, absolut. Es gibt einfach Dinge, die nicht von abstraktem | |
philosophischem Denken erfasst werden können. Ich glaube, dass es für mich | |
enorm wichtig war, das zu lernen und zur Welt zurück zu finden, ohne diese | |
abstrakten intellektuellen Ansprüche an sie zu stellen. | |
Also ist das Radfahren für Sie numinos. | |
Ganz genau. Es ist so, wie man auf die Sterne zeigt und sagt, es gibt da | |
etwas Unerklärliches, das rationales Denken zu unterdrücken neigt. Dieses | |
Unerklärliche ist für mich für das individuelle Überleben unerlässlich und | |
wahrscheinlich auch für das Überleben der Menschheit. | |
Jetzt ist dieses Unerklärliche auch innerhalb des Radsports bedroht. Sie | |
schreiben, wie im Leistungssport immer mehr versucht wird, die Leistung zu | |
technisieren und auf ein Rechenbeispiel zu reduzieren. | |
Es gibt für mich einen massiven Unterschied zwischen professionellem | |
Radsport und der Aktivität des Fahrradfahrens. Ich versuche ja in meinem | |
Buch, das eine vor dem anderen zu retten. Der Bruch kam für mich mit dem | |
Stundenweltrekord von Francesco Moser im Jahr 1984. Er war bestimmt nicht | |
der erste, der Drogen genommen hat oder der erste, der Blutdoping betrieben | |
hat. Aber es war der erste extrem analytische Zugang zum Leistungssport. | |
Lag das an seiner Person? | |
Nein, dieser Paradigmenwechsel im Sport lag in der Luft. Die technischen | |
und medizinischen Möglichkeiten waren da, sie warteten nur darauf, | |
angewandt zu werden. | |
Was ging damit verloren? | |
Ich liebe den französischen, romantischen Zugang zum Radsport, Fahrer wie | |
Thibault Pinot, die instinktiv, impulsiv fahren. Aber ich bin natürlich ein | |
Realist. Ich kenne die Grenzen des Profisports mit seinen wirtschaftlichen | |
Parametern. Trotzdem glaube ich, dass es noch Raum für romantische Figuren | |
wie Pinot in dem Sport gibt. | |
Sie sprechen von Nietzsches Aufklärungskritik, gleichzeitig schreiben Sie | |
in Ihrem Buch von seiner Idee der Selbsterschaffung, des Übermenschen, und | |
wie der Radsport auch diesen Aspekt hat: den der Technisierung des Körpers. | |
Wie passt das zusammen? | |
Ich glaube, der Übermensch ist für Nietzsche weitaus komplizierter als | |
lediglich externe Validierung und Erfolg. Die Selbsterschaffung ist für | |
Nietzsche doch eher ästhetisch als technisch oder militärisch. Also die | |
Selbstdisziplin, die erforderlich ist, um sportlichen Erfolg zu haben, ist | |
durchaus in Nietzsches Sinn. Aber das alleinige Ziel, zu gewinnen und die | |
Gegner zu vernichten, geht vollkommen gegen Nietzsches Ansinnen. Nietzsche | |
als Rechtfertigung für einen Lance-Armstrong-ähnlichen Ansatz zu nehmen ist | |
eine Trivialisierung Nietzsches. | |
Lässt sich Nietzsches Idee der Selbsterschaffung als ästhetisches Projekt | |
auf Ihren Zugang zum Radsport übertragen? | |
Ich glaube, in dieser Frage steckt die Frage nach den künstlerischen | |
Grenzen des Sports. Für mich war der Radsport immer ein Wettbewerb des | |
Leidens. Es ging für mich im Grunde darum, wer sich selbst am meisten weh | |
tun kann. Für mein 16 Jahre altes Gehirn bedeutete dies immer, dass | |
derjenige, der am meisten leiden kann, am meisten empfindet. Ich dachte | |
immer, dass ich ein guter Radsportler bin, weil ich beim Lesen von | |
Dostojewski oder beim Hören von Beethoven sehr viel empfunden habe. Das war | |
für mich die Verbindung von Kunst und Sport. | |
Ist der Radsport dann für Sie eine Art Oper des Leidens? | |
Man kann das übertreiben, aber im Grunde ist das so. Es gibt natürlich auch | |
noch Dinge wie Talent und Training, die Fahrer voneinander unterscheiden. | |
Aber ich denke, das Leiden macht den Radsport zu einer der interessanteren | |
Zuschauersportarten. | |
Sie schreiben, dass Radsport für Sie eine existentialistische Beschäftigung | |
ist. | |
Meine erste Begegnung mit der Philosophie war der Existenzialismus. Die | |
Existenzialisten waren in Kalifornien in den 60er und 70er Jahren sehr | |
angesagt. Die Idee der Selbsterschaffung und der Gedanke, dass hinter der | |
Oberfläche des Alltags überall Bedeutung lauert, die Einstellung, dass man | |
seinen eigenen Sinn erzeugt anstatt einen institutionell vorgegebenen Sinn | |
zu adaptieren – das war für die Gegenkultur sehr attraktiv. Zur selben Zeit | |
haben in Kalifornien sehr viele Leute angefangen Rennrad zu fahren. Camus | |
und Sartre zu lesen, Fellini-Filme zu sehen und Rennrad zu fahren, gehörten | |
irgendwie zusammen. | |
Es fällt schwer, sich Sartre auf einem Rennrad vorzustellen. | |
Das stimmt. Camus oder Heidegger schon eher. | |
Aber ist denn tatsächlich irgendetwas Existentialistisches am Radsport? | |
Ich denke, zumindest Sartre hat die Hierarchie zwischen der Welt der | |
Gedanken und der materiellen Welt auf den Kopf gestellt. Wenn man das | |
akzeptiert, dann wertet das auch den Sport auf. Plötzlich werden dieses | |
Fahrrad und dieses Rennen wichtig und bedeutsam. Das Leben wird wieder | |
sinnlich aufgeladen. Die Heideggersche Rückkehr zu den Phänomenen führt zum | |
Radsport. | |
Ist also der Radfahrer der wahre existenzialistische Philosoph? | |
Ja. Die existenzialistische Botschaft ist bis zu einem gewissen Grad: „Hört | |
auf zu grübeln und setzt euch aufs Rad! Oder gärtnert! Oder kümmert euch um | |
Eure Großmutter!“ Ich denke in diesem Zusammenhang viel an das Silicon | |
Valley. Die digitale Wirtschaft belohnt alles, was abstrakt und neu ist. | |
Neuigkeit ist aber dubios. Wir entwickeln eine App, die Taxiunternehmen | |
bankrott macht, und irgendjemand verdient damit Milliarden. Jemand, der | |
eine 102 Jahre alte Frau am Leben hält, verdient hingegen 25.000 Dollar im | |
Jahr. | |
Im Silicon Valley ist das Rennradfahren aber ungeheuer populär. Liegt das | |
daran, dass all diese Leute ein materielles Gegengewicht zu ihrem | |
abstrakten Leben suchen? | |
Als ich in der Ära vor Lance Armstrong angefangen habe, Rad zu fahren, war | |
das noch nicht so. Den Typus des hyper-kompetitiven, 50 Jahre alten | |
Technologie-Managers, der am Wochenende Radrennen fährt, gab es damals noch | |
nicht. Die Art und Weise, wie Rad gefahren wird, die Art von Leuten, die | |
der Sport anzieht, die Kosten – all das hat sich verändert. Heute bezahlen | |
die Leute ja für ein schönes Rennrad 15.000 Dollar, ohne mit der Wimper zu | |
zucken. | |
Hat die wachsende Popularität des Radsports auch damit zu tun, dass wir | |
alle irrsinnig viel Zeit im digitalen Raum verbringen? Ist es auch eine | |
Sehnsucht nach Wirklichkeit? | |
Auf jeden Fall. Es ist ja so ähnlich wie die „Maker“-Kultur, die Rückkehr | |
des Handwerks, so etwas Banales wie der Trend zum Craft-Beer. Das hat alles | |
mit einer Sehnsucht nach Wirklichkeit zu tun. | |
Sie reden in Ihrem Buch sehr offen über Ihren Kampf gegen die Depression. | |
Was hat Ihnen dabei mehr geholfen, die Philosophie oder der Radsport? | |
Wahrscheinlich der Radsport. Er hat mir etwas in der Welt gegeben, an dem | |
ich mich festhalten konnte. Er hat mir Beziehungen und Freundschaften | |
gegeben, die mir wichtig sind. Die Philosophie hatte all das nicht zu | |
bieten. Wenn die großen Gedankengebäude kollabieren, sind es die kleinen, | |
konkreten Dinge, die uns am Leben halten. Auch für Heidegger oder Nietzsche | |
ging es um das Konkrete und nicht das Systemische. | |
Am Ende der Philosophie kommt man also beim Radsport heraus? | |
Man kommt dabei heraus, dass man die Welt rehabilitieren muss. Man muss sie | |
in all ihrer Zwiespältigkeit für sich lebbar machen. Das ist eine | |
gigantische Aufgabe. Aber es ist eine individuelle Aufgabe, es gibt dafür | |
kein Rezept. | |
Radfahren ist also kein universeller Weg zum Lebenssinn. | |
Nein, jeder muss seinen eigenen Weg finden. Der Weg muss zwischenmenschlich | |
und sinnlich sein, aber was es genau ist, ist letztlich gleich. Jeder | |
einzelne Weg für sich ist überflüssig und bedeutungslos. Er muss nur für | |
mich Bedeutung haben. Das kann für mich Radfahren sein, aber es kann | |
genauso gut das Spielen mit meinem Sohn sein. | |
Sie haben schon während Ihrer Radsportkarriere Philosophie studiert. Hat | |
Sie das zum Außenseiter gemacht? | |
Ich erinnere mich, dass ich am Vorabend vor einem großen internationalen | |
Rennen im Hotel gesessen habe und die Geschichte „Wind, Sand und Sterne“ | |
von Antoine de Saint-Exupéry gelesen habe. Die Geschichte hat mich zu | |
Tränen gerührt, und ich dachte nur, ich bin wohl kein abgebrühter, kalter | |
Champion. Also habe ich mich schon ein wenig wie ein Außenseiter gefühlt. | |
Ich hatte immer zwei Identitäten, die miteinander im Wettstreit waren. Das | |
hat mich bis zu einem gewissen Grad isoliert. | |
Es scheint aber immer öfter vorzukommen, dass Profisportler auch | |
künstlerische oder intellektuelle Interessen entwickeln. Der französische | |
Radfahrer [3][Guillaume Martin] hat auch Philosophie studiert und schreibt | |
Theaterstücke. | |
Ja, zum Glück. Es ist sehr ungesund, wenn Leistungssportler kein Leben und | |
keine Interessen neben dem Sport haben. Das macht sie sehr sehr anfällig, | |
wenn sie einmal aufhören. | |
3 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Denker-am-Lenker-Philosophen-auf-der-Tour-de-France/!5845764/ | |
[2] /Erfolglose-Franzosen-der-Tour-de-France/!5425567 | |
[3] /Buch-von-Radprofi-Guillaume-Martin/!5750888 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
## TAGS | |
Radsport | |
Philosophie | |
Tour de France | |
Leistungssport | |
Silicon Valley | |
Jean-Paul Sartre | |
Nietzsche | |
Zukunft | |
Kolumne Kulturbeutel | |
Schwerpunkt Sport trotz Corona | |
IOC | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Verständnisfrage: Nicht mehr mein Problem | |
Warum lasst ihr eure Fahrräder angeschlossen verrotten, fragt ein Leser. | |
Weil das Herz manchmal nicht dran hängt, antwortet ein Student. | |
Buch von Radprofi Guillaume Martin: Wenn Nietzsche aus dem Sattel geht | |
Der Radprofi und Philosoph Guillaume Martin hat ein Buch geschrieben. Darin | |
beschäftigt sich der Franzose recht genau mit seiner Konkurrenz. | |
Sport, überall nur noch Sport: Die geistige Macht unserer Epoche | |
Wie der Sport als totalitäres System unser Leben steuert und uns einen | |
Starkult des Geldes betreiben lässt. Eine Streitschrift. | |
Philosoph Gebauer über Sport-Spektakel: „Weit weg von der Erde“ | |
Der Sport ist käuflich und die Handball-WM in Katar ist absurd, sagt | |
Philosoph Gunter Gebauer. Aber er schätzt den kommunikativen Wert des | |
Sports. |