# taz.de -- Buch von Radprofi Guillaume Martin: Wenn Nietzsche aus dem Sattel g… | |
> Der Radprofi und Philosoph Guillaume Martin hat ein Buch geschrieben. | |
> Darin beschäftigt sich der Franzose recht genau mit seiner Konkurrenz. | |
Bild: Tritt ordentlich in die Pedalen: Radsportler und Philosoph Guillaume Mart… | |
Der eine attackiert, andere sind eher Hinterradlutscher. Es gibt | |
Wasserträger und Anführer. Wer das Jahr mit den besten Radprofis der Welt | |
auf Eurosport verbringt, weiß schnell, wer welche Rennphilosophie vertritt. | |
Und so mancher Satz, den ein Profi im Ziel äußert, findet Eingang in den | |
Kanon der großen Sätze der Radsportphilosophie. | |
Der kleine Franzose Jacky Durant hat bis zu seinem Karriereende 2005 das | |
Peloton immer wieder mit seinen Alleingängen genervt. Er war ein | |
überzeugter Ausreißer. Sein Lehrsatz lautete: „Ich habe kein Problem damit | |
zu verlieren, aber ich hasse es zu verlieren, ohne es versucht zu haben.“ | |
Auf diese Weise hat er Tour-de-France-Etappen gewonnen und nach einer | |
Solofahrt über 217 Kilometer im Jahr 1992 die Flandernrundfahrt, einen der | |
großen belgischen Frühjahrsklassiker. | |
Als großer Rennphilosoph wurde im Jahr 2006 [1][auch ein gewisser Floyd | |
Landis] gefeiert. Der US-Amerikaner stand am 20. Juli jenen Jahres nach der | |
letzten Bergetappe der Tour de France im Ziel und sagte: „Es fühlt sich | |
vielleicht so an, als ob du stirbst, aber du stirbst nicht tatsächlich. Und | |
weil du nicht wirklich stirbst, kannst du immer noch einen draufsetzen. | |
Immer.“ Tags zuvor war Landis total eingebrochen, hatte sein Gelbes Trikot | |
verloren und dabei so elend ausgesehen, als müsse man ihn auf der | |
Intensivstation eines Krankenhauses notbeatmen. | |
Nun hatte er die Konkurrenz also in Grund und Boden gefahren, die Reporter | |
staunten nicht schlecht über die unerwartete Leistungsexplosion, notierten | |
Landis Weisheiten und räumten ihm schon einmal ein Plätzchen frei in der | |
Ruhmeshalle des Radsports. Eine Woche später war Landis vom Philosophen zum | |
Paria geworden. Doping. | |
## Wunderbar gelehrter Blödsinn | |
Ob der niederländische Velosoph Spinoza bei seinem Toursieg 2017 verbotene | |
Substanzen zu sich genommen hat, ist nicht überliefert. [2][Der Radprofi | |
Guillaume Martin], dessen Aufzeichnungen über die Frankreichrundfahrt jenes | |
Jahres gerade im Covadonga-Verlag auf Deutsch erschienen sind, gibt | |
jedenfalls darüber keine Auskunft. Er befasst sich eher mit der | |
Rennphilosophie des radelnden Rationalisten. Er gehörte jedenfalls nicht zu | |
den Profis, die sich vor dem Rennen bekreuzigen und ein Stoßgebet zu Gott, | |
jenem „Zufluchtsort der Unwissenheit“, absetzen. | |
Martin weiß die Begebenheiten jener Tour, die auch deshalb in die Annalen | |
eingegangen ist, weil an ihr eine griechisch-lateinische Rennformation | |
angeführt von Sokrates, Platon und Aristoteles teilgenommen hat, so schön | |
in Worte zu fassen. Das liegt nicht nur daran, dass er ein herausragender | |
Radler ist, sondern er kann tatsächlich einen Master in Philosophie | |
vorweisen. 23. der Gesamtwertung war Martin 2017 und man muss bei der | |
Lektüre seines Buchs mit dem Titel „Sokrates auf dem Rennrad“ bisweilen | |
staunen, wie genau der Franzose während des Rennens seine Konkurrenz | |
beobachtet hat. | |
Da ist etwa das deutsche Team um Rudi Altich, Erik Zadel und Jan Ullrig, | |
das sich in der Vorbereitung so schwer getan hat, den Einlassungen den | |
Teamchefs Albert Einstein zu folgen, als der erklärt, man müsse sich Raum | |
und Zeit als ein und dieselbe Sache denken, wie ein großes Netz, das sich | |
über das gesamte Universum spanne. Am Ende müssen sie damit leben, dass | |
sich der große Velosoph Nietzsche nicht ins Team integrieren lässt. Martin | |
fragt sich, ob der Nihilist nicht so etwas sei wie der natürliche Philosoph | |
des Sports. Schließlich heißt es bei ihm: „Euch rate ich nicht zum Frieden, | |
sondern zu Siege.“ | |
Bei all dem wunderbar gelehrten Blödsinn, den Martin, dessen | |
Abschlussarbeit an der Uni den Titel „Der moderne Sport: eine Anwendung der | |
nietzscheanischen Philosophie?“ trägt, ausbreitet, stellt er | |
unmissverständlich fest, wie verlogen in seinen Augen das Selbstbild des | |
modernen Olympismus doch ist. Fairplay, Universalismus, und das Dabeisein | |
als Selbstzweck werden gepredigt, wo es einzig und alleine um den Sportler | |
selbst, seinen Ehrgeiz und letztlich um den Sieg geht. Am Ende leuchtet | |
ein, dass sich mit Nietzsches Individualismus der Sport besser erklären | |
lässt als mit Olympiavater Pierre de Coubertin und seiner Idee vom | |
altruistischen Athleten. | |
4 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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