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# taz.de -- Landesminister Bayaz über Hass auf Grüne: „Einstehen für Demok…
> Danyal Bayaz ist grüner Finanzminister in Baden-Württemberg. Wie nimmt er
> die aggressive Stimmung gegenüber den Grünen wahr und was sagt er zur
> Ampel?
Bild: Bayaz
wochentaz: Herr Bayaz, wir wollen mit Ihnen reden über die politische
Handlungsfähigkeit von Regierungen und über die spezielle Situation der
Grünen als Hauptgegner von fast allen. W ie frei sind Sie persönlich im
Moment als baden-württembergischer Finanzminister in Ihrem politischen
Handeln?
Danyal Bayaz: Die Freiheitsgrade in einem politischen Amt und in der
politischen Verantwortung muss man sich angesichts vieler Zwänge schon
selbst nehmen. Und die braucht man auch, wenn man Veränderungswillen und
Veränderungsbereitschaft mitbringt. Insofern bin ich schon frei.
Na, gut, das war die Theorie, nun mal bitte die praktische Erfahrung.
Zwei Dinge engen konkret ein. Die finanzielle Handlungsfähigkeit ist
aktuell enorm limitiert, vor allem auch durch das strenge [1][Urteil zur
Schuldenbremse aus Karlsruhe]. Und das andere ist das gesellschaftliche
Klima. Ich erwische mich durchaus auch bei dem Gedanken, dass ich
Entscheidungen doch noch ein, zwei Mal auf Shitstormpotenzial abklopfe. Das
ist beklemmend. Gar nicht so sehr für mich persönlich, sondern für den
Staat, für die Demokratie, für Fortschritt. Weil das ja nicht
handlungsleitend für politische Entscheidungen sein sollte.
Jetzt haben nicht nur die AfD, sondern auch die Unionschefs Friedrich Merz
und Markus Söder die Grünen strategisch als Hauptgegner ausgewählt. Wie
wirkt sich das auf Ihre Landeskoalition aus, in der ja die CDU seit vielen
Jahren Junior ist?
Die CDU ist in der Regierung eindeutig besser als in der Opposition. Das
hat auch etwas mit ihrer staatstragenden Geschichte zu tun. Sie hat die
Mitte in der Bundesrepublik stabilisiert und trotzdem auch immer wieder
Veränderungen möglich gemacht. Getreu dem Motto „only Nixon could go to
China“ ist es gerade bei einigen für Grüne schwierige Themen womöglich
besser, die CDU mit in der Regierung zu haben. Vielleicht kriegt man gerade
mit der Union mehr beim Klimaschutz hin, als wenn Grüne reine Lehre machen,
die ja sozusagen verdächtig sind, und die Union aus der Opposition
übertrieben aus allen Rohren feuert. Deswegen arbeiten wir hier in
Baden-Württemberg sehr gut zusammen. Gibt es mal Konflikte? Na klar, aber
die lösen wir sachlich und vor allem ohne zu viel öffentlichen Streit.
Womit wir bei der Ampel wären.
Ja, da werden in Berlin leider Maßstäbe gesetzt, das beobachte ich mit
Sorge. Der Auftritt ist an vielen Stellen schwierig, manchmal gar fatal.
Aber ich mache mir auch Sorgen um die CDU.
Ach was?
Die Union steht aktuell in Umfragen gut da, bei der Ampel-Performance darf
das nicht wundern. Aber es ist eine offene Frage, ob die CDU steht oder
irgendwann den Weg der US-Republikaner geht. In der Opposition ist die
Gefahr immer größer, wegzukippen. Da kommt es auf Führung durch Leute mit
Kompass an, John McCain oder Wolfgang Schäuble waren so welche. Zuletzt ist
mir aufgefallen, dass zwar Armin Laschet [2][die Ereignisse in Biberach]
klar und eindeutig beim Namen genannt hat, damit aber ziemlich allein war
in der CDU.
Sie meinen den verhinderten Grünen Aschermittwoch durch protestierende
Bauern. Manche Konservative sagen: Die sollen mal nicht so heulsusig sein.
Was sagen Sie?
Es geht gar nicht um Solidarität für Grüne, sondern es geht um das
Einstehen für Demokratie. Das müssen einige noch verstehen, dass sich hier
mancher Frust nicht gegen eine Partei oder ein politisches Programm
richtet, sondern gegen den Staat als solchen.
In den 80ern wollte Grüne und Linke Veranstaltungen von Kanzler Kohl
verhindern. Ist die politischen Kultur heute wirklich auf einem neuen
Tiefstand?
Ja, das finde ich schon. Man muss aber auch sagen: In Biberach und anderswo
war das eine laute Minderheit. Und Cem Özdemir hat auch recht, wenn er
sagt, das ist nicht die deutsche Bauernschaft. Die Frage ist aber: Bleibt
es so oder wird es schlimmer?
Aus jedem Bauern, der einen Misthaufen auf die Straße ausschüttet, gleich
einen Staatsfeind zu machen, hilft doch auch nicht weiter.
Richtig, anderen ihr demokratisches Verhalten abzusprechen, damit muss man
sehr präzise, sehr verantwortungsvoll umgehen. Die jüngsten Proteste in
Brandenburg haben aber auch gezeigt, wohin das führen kann. Über Proteste
und Demonstrationen darf man sich nicht beschweren, das ist legitim. Und
wenn der Mist jetzt bei uns abgeladen wird, ist das halt so. Aber Gewalt,
Hetze und die Gefährdung von Menschenleben gehen gar nicht, solche Leute
verlassen den demokratischen Konsens. Und da frage ich mich schon, wo
eigentlich die Law-and-Order-Ansagen derjenigen sind, die sonst von der
Klima-RAF sprechen.
Warum stehen die Grünen eigentlich so im Feuer?
Das hat unterschiedliche Gründe. Durchaus auch selbst gemachte, habe ich ja
schon mal gesagt.
Sagen Sie es gern noch mal.
Eine moralisch-politische Sprache, manchmal gepaart mit Besserwisserei.
Auch wenn wir da klüger geworden sind, dieses Image sitzt tief. Aber es
gibt auch andere Gründe. Eine Studie hat gerade gezeigt, dass Männer und
gerade auch junge Männer stärker nach rechts-autoritär driften. Vor allem
Frauen stabilisieren dagegen wissenschaftliche und liberale Positionen.
Eine Partei wie die Grünen hat sehr viele Frauen, auch gerade junge Frauen,
in der Verantwortung: Das triggert offenbar manche, aber dafür müssen wir
uns wirklich nicht entschuldigen. Und es kommt etwas Zentrales hinzu: Die
Grünen stehen wie keine andere Partei für Veränderung. Damit entsprachen
wir im Endstadium der letzten Großen Koalition auch dem Zeitgeist, alle
sehnten sich nach Aufbruch. Aber durch die Pandemie, den russischen Krieg
gegen die Ukraine oder die Inflation gibt es jetzt ein größere Bedürfnis
nach Stabilität. In einer krisengeplagten Gesellschaft ist das Tempo von
Veränderung entscheidend.
Wir sind die einzige Partei, die Veränderung will … das sagen gerade alle
bei den Grünen. Ist das eine Sprechlinie?
Also, mir schickt keiner Wordings zum Ablesen. Schwierige wirtschaftliche
Lage, geopolitische Spannungen, anhaltend hohe Migration – das sind für
Grüne bisher keine Gewinnerthemen. Wir nehmen trotzdem diese Aufgabe an,
keine Frage. Ich sehe auch nicht unbedingt einen Rechtsruck, sondern
vielmehr eine Erweiterung des Spektrums: Alles ist möglich. Obama war
möglich. Trump war aber auch möglich. Ein grüner Ministerpräsident ist
möglich, wie wir in BaWü sehen. Es ist aber auch theoretisch denkbar, dass
ein Björn Höcke auf Platz eins bei einer Wahl liegt.
Sie sagen, wir könnten US-amerikanische Verhältnisse bekommen?
Ja, aber wir haben sie zum Glück hier bislang noch nicht. Das ist ja die
These des Soziologen Steffen Mau, dass 80 oder vielleicht 85 Prozent der
Menschen bei uns rational sind, also offen für Argumente, und dass sie den
Kompromiss wollen. Und jetzt schocke ich Sie mal.
Wir sind gespannt.
Ich glaube, der Kompromiss ist das neue Progressiv. Der Kompromiss ist der
neue Fortschritt, weil der Kompromiss in einer Zeit wie dieser die
Demokratie erhält, handlungsfähig macht und die Grundlage für
Entscheidungen ist, die etwa Klimaschutz voranbringen. Ob das dann in der
richtigen Geschwindigkeit passiert, ist eine ganz andere Frage. Aber der
Kompromiss ermöglicht diese Politik überhaupt erst. Deswegen glaube ich,
dass die Grünen, die wie keine andere Partei für Klimaschutz stehen,
vielleicht aktuell sogar eine wichtigere Aufgabe haben, nämlich
Demokratieverteidiger zu sein. Nicht moralisch, nicht belehrend, nicht im
Duktus: Wir sind die Einzigen, die das können.
Sondern?
Staatstragend im besten Sinne. Die Partei für das große Ganze und das
Morgen. Da sagen einige: Wollt ihr das Erbe von Angela Merkel antreten?
Nein, aber das ist schlicht die Aufgabe, die wir gerade wahrnehmen müssen.
Und damit wird man doch noch zu einer Kanzlerpartei?
Ich weiß nicht, ob wir nächstes Mal eine Kanzlerkandidatur brauchen, bei 14
oder 15 Prozent würde man sich damit lächerlich machen. Andererseits sind
wir jetzt auch nur 10 Prozent von der Marke entfernt, mit der Scholz
Kanzler wurde. Wenn das das absolute Tal der Tränen sein soll, ist es ja
verkraftbar. Und bis zur Bundestagswahl ist es ja auch noch hin. Wir müssen
jetzt auch nicht in Sack und Asche gehen.
Aber die Opferrolle ist doch sehr erfolgreich, wie man an der AfD sieht.
Könnten die Grünen doch auch mal versuchen.
Nein, mit Opfern hat man Mitleid, aber denen vertraut man kein Land an. Die
Leute wollen das Land in guten Händen wissen und wollen, dass wir
verantwortlich mit der Macht umgehen und auch bereit sind, für uns
schwierige Entscheidungen zu fällen.
Nach Biberach gab es für die Grünen viel Solidarität. Haben die Grünen
diese Solidarität auch immer umgekehrt geleistet?
Gute Frage, wahrscheinlich nicht immer. Mir hat mal ein
CDU-Bundestagsabgeordneter aus NRW gesagt: Auf dem Höhepunkt der
Flüchtlingskrise 2015/16, da wart ihr am Münchener Hauptbahnhof und habt
applaudiert, während ich auf meinen Veranstaltungen den vollen Hass
abbekommen habe. Habt ihr das auch gesehen, damals? Ich würde heute sagen:
I don’t know…da hätte man damals den Konservativen auch anders Solidarität
zeigen können. Beim Hass gegen Jens Spahn in der Coronazeit allerdings
standen die Grünen hinter dem damaligen CDU-Minister und der Kanzlerin wie
kein anderer.
Wenn man den Egotrip der Parteien der Ampelkoalition anschaut, stehen Sie
auf relativ einsamem Posten mit Ihrem staatstragenden Gestus.
Für mich gibt es drei große Enttäuschungen der Ampel. Das eine ist die
Kommunikation und Führung des Bundeskanzlers. Das Zweite ist: Wir haben es
nicht geschafft, die Marktwirtschaft, die der FDP so wichtig ist, und den
Klimaschutz, der den Grünen so wichtig ist, in einen gemeinsamen,
kohärenten Politikansatz zu überführen. Spätestens nach dem Urteil des
Verfassungsgerichts ist das in sich zusammengefallen. Das Dritte: Hat man
die wirtschaftliche Lage eigentlich verstanden? Auch wenn der Arbeitsmarkt
zum Glück noch gut läuft, braucht es dringend grundlegende Reformen. Die
Regierung hat jetzt noch eine Chance, einen großen Wurf vorzulegen.
Wie muss der große Wurf inhaltlich aussehen?
Jede Partei muss dringend ideologischen Ballast abwerfen. Deutschland ist
Hochsteuerland: Wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig genug. Wir müssen
schauen, wie wir ein investitions- und unternehmensfreundliches Steuerrecht
hinbekommen. Zum Beispiel den Soli auf die Körperschaftssteuer
abzuschaffen. Zweitens: Arbeiten lohnt sich in Deutschland zwar immer im
Vergleich zu Nicht-Arbeiten. Was sich nicht immer lohnt, ist Mehrarbeit,
weil wir ein komplexes System von Bürgergeld, Familienzuschlag, Wohngeld
und anderen Sozialleistungen haben. Und da gibt es kontraproduktive
Anreize, das schreit nach einer Sozialreform. Und drittens: Wenn wir die
Bundeswehr besser ausstatten wollen, wenn wir in die Zukunft der Wirtschaft
investieren wollen, in die digitale Verwaltung, die Infrastruktur und in
Bildung, dann wird es nicht ohne eine Reform der Schuldenbremse gehen. Die
Reform wird kommen, die Frage ist nur wann. Haben die jetzige Regierung und
ihr Finanzminister die Kraft dazu? Oder quält man sich durch den nächsten
Bundeshaushalt, erhält die Quittung dafür und dann übernimmt die Union, die
ohne mit der Wimper zu zucken eine Reform angehen wird?
Ihr Ministerpräsident Kretschmann hat ja die Grünen 13 Jahre lang als
Prototyp einer gemässigt progressiven Regierungspartei vermarktet. Trotzdem
nehmen jetzt die Umfragewerte auch in Baden-Württemberg dramatisch ab. Ist
der Kretschmann-Kompromiss-Kurs für die Grünen am Ende doch kein
Erfolgsmodell?
Wir brauchen auf allen politischen Ebenen mehr Kretschmann und nicht
weniger. Sein Amtsverständnis, sein Politikverständnis, das ist eine
Blaupause für Erfolg. Ich hab von Kretschmann drei Dinge gelernt: In der
Opposition verspricht man keine Dinge, die einem in der Regierung auf die
Füße fallen. Die Kindergrundsicherung lässt grüßen. Das zweite: Land geht
vor Partei, auch bei schwierigen Themen wie Asyl. Und drittens, mit grünen
Ideen schwarze Zahlen schreiben. Wir können Klimaschutz nur erfolgreich
machen und andere Länder zum Mitmachen motivieren, wenn wir ein
wirtschaftlich prosperierendes Land mit Wohlstand und guten Jobs sind. Ich
bin froh, dass wir mit Robert Habeck auf Bundesebene jemanden haben, der
genau diesen Geist atmet. Zurück in die Nische, recht haben, aber nix
verändern, das wäre zurück in die Vergangenheit und die Irrelevanz.
Es nützt Ihnen aber nichts, vernünftig und kompromissfähig zu sein, wie man
in Hessen gesehen hat.
Eine Neu-Auflage von Schwarz-Grün in Hessen ist weder an den Grünen noch an
Tarek Al-Wazir gescheitert. Wir sind pragmatisch, aber eben nicht beliebig.
Das lag einfach daran, dass die SPD für Boris Rhein billiger zu haben war.
Man muss akzeptieren, dass sich Wahlgewinner ihre Partner souverän
aussuchen. Es bleibt uns also nur die Strategie, so stark zu werden, dass
keiner an uns vorbeikommt. Dafür müssen wir möglichst breit anschlussfähig
für die Menschen im Land sein. Das gilt auch mit Blick auf die anderen
demokratischen Parteien.
Sie werden gern als „Superrealo“ gelabelt. Ist diese Etikettierung aus der
guten alten Zeit noch passend?
Ich ärgere mich nicht über den Begriff, auch wenn ich nicht genau weiß, was
das sein soll. Ich sitze auf einem Ministerstuhl, stecke in vielfältigen
Dilemmata, muss ständig Probleme lösen und jeden Tag auch mit mir selbst
Kompromisse machen. Ohne eine realo-pragmatische Einstellung ist da
buchstäblich kein Staat zu machen. Winfried Kretschmann hat das Narrativ
stark gemacht, dass sich Menschen um eine politische Idee versammeln
müssen. Das ist die Schule Hannah Arendt. Es braucht aber auch den
Maschinenraum, die Stückwerktechnologie von Karl Popper: Jeden Tag kleine
Schritte gehen, Pragmatismus und Realpolitik: „It’s the only game in town�…
auch in Zukunft.
24 Mar 2024
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## AUTOREN
Benno Stieber
Peter Unfried
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